Elf Geschichten aus dem Leben in Namibia

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Elf Geschichten aus dem Leben in Namibia
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Helmut Lauschke

Elf Geschichten aus dem Leben in Namibia

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Elf Geschichten aus dem Leben in Namibia

Elf Geschichten aus dem Leben in Namibia

Auf alten Sandalen in die Zukunft

Von den frühen moralischen Entgleisungen

Vom Drang nach Freiheit; Platos Höhlengleichnis

Probleme in der Notfallchirurgie

Die Morgenbesprechungen und die alten Themen

Eine kleine Nachtmeditation

Zurück in die Wirklichkeit

Besuch der Missionsstation Oshikuku

Ein Montag

Eine Fahrt ins Kaokoland

Medizin und das Relativitätsprinzip

Impressum neobooks

Elf Geschichten aus dem Leben in Namibia

Elf Geschichten aus dem Leben in Namibia

Auf alten Sandalen in die Zukunft

Namibia war seit etwas mehr als fünf Jahren unabhängig. Swapo stellte die Regierungspartei und hatte die Macht sicher in den Händen. Die ersten freien Wahlen (one man - one vote) hatten in Südafrika vor etwas mehr als einem Jahr stattgefunden, wobei der ANC mit Nelson Mandela als deutlicher Sieger hervorgegangen war. Politisch wurde damit die Übergabe der Macht aus den weißen Händen in die schwarzen Hände im südlichen Afrika abgeschlossen. Diese Art der Renaissance hatte nun Gültigkeit für den ganzen afrikanischen Kontinent. Der Wandel war deutlich genug, um die letzten weißen Zweifel auszuräumen und zu erkennen, dass der Händewechsel an den Hebeln der Macht ein endgültiger Prozess war, der eine Umkehr für alle Zeiten ausschloss.

In diese Zeit der afrikanischen Renaissance ging auch Dr. Ferdinand. Er tat es mit seinen Füßen ebenso wie mit seinen Gedanken. Galt die Renaissance auch ihm, der ja nicht in Afrika geboren und aufgewachsen war, der vom Gesicht und der hellen Haut her Europäer war, auch wenn er seit über zehn Jahren für die kranken und verletzten Menschen im Norden des Landes sich einsetzte und an ihnen als Chirurg arbeitete. Er hatte die letzten Jahre der weißen Apartheid und die letzte Entscheidungsschlacht vor der angolanischen Grenze miterlebt, die die Arbeit an den schwarzen Menschen erheblich erschwerten. Er erinnerte sich gut an den Ausspruch des südafrikanischen Brigadiers in einer Morgenbesprechung, dass bei der letzten Entscheidungsschlacht für die Weißen viel auf dem Spiele stehe, und dass er und alle übrigen Weißen auf einem Pulverfass sässen, das jederzeit hochgehen kann. Das weiße Kommandoschiff war gesunken, und das neue Schiff mit den schwarzen Masten und der schwarzen Besatzung hatte angelegt und lag seit einigen Jahren schweigend vor Anker. Ob im Bauch des Schiffes mit den schwarzen Masten alles aufgeräumt war, konnte Dr. Ferdinand nicht sagen. Er hatte seine Vermutung, dass da noch manches nicht aufgeräumt herumlag. Er stützte diese Vermutung auf Aussagen von Menschen, die dort einst an Bord waren und sich nun als Freiheitskämpfer bezeichneten, die im Exil waren und aus dem Exil heraus die Freiheit Stück für Stück, Quadratmeter für Quadratmeter ins Land kämpften. Dr. Ferdinand verfolgte die letzte Phase mit der letzten Entscheidungsschlacht praktisch durch die verschmierten und jene Fensterscheiben des Hospitals, die nach einem Stock- oder Steinschlag gesprungen oder das 'x-te Mal eingeschlagen waren. Er bekam die letzte Schlacht mit allen Vibrationen und größeren Erschütterungen aus nächster Nähe mit, wenn er an den Krankenbetten stand und nach den Patienten sah oder bei Operieren war, wenn ihm ein mächtiger Knall auf die Trommelfelle schlug, dass ihm die Instrumente aus der Hand fielen und der Instrumententisch mit den klappernden Instrumenten vom OP-Tisch wegrollte. Die Nähe zum Geschehen blieb, als die neue Mannschaft an Land ging und in die Zentren der Macht eilte, um die entsprechenden Hebel der Entscheidung schnell in die Hände zu bekommen, die noch warm von den weißen Händen waren, die diese Hebel in irgendwelche Gänge oder Leerläufe geschaltet hatten. Für die neue Mannschaft war es dringend, das Steuerrad so schnell wie möglich in den Griff zu bekommen. Viele, die da kamen und auf dem Wege zur Macht und den hohen Positionen waren, unterbrachen für kurze Zeit ihre Fahrt mit dem Auto und statteten dem Hospital einen Besuch ab, wo sie vom ärztlichen Direktor und dem Superintendent, die beide mit den reichlichen Melanozyten gesegnet waren, brüderlich begrüßt und über den neuesten Stand informiert wurden. Da war so etwas wie der Wunsch nach einer afrikanischen Renaissance im Sinne einer schwarzen Wiedergeburt zu spüren. Dem Beobachter solcher Besuche fiel die Zielstrebigkeit und Zielsicherheit derjenigen Männer und Frauen auf, die auf ihrer Fahrt in die Machtzentrale noch unweit der angolanischen Grenze einen Abstecher zum Hospital machten. Bei der Betrachtung ihrer Gesichter gab es so gut wie keine Zweifel mehr, dass es ihnen um die Macht und ein besseres Leben ging. Ob sie beim Trachten nach dem besseren Leben mit den offensichtlich versprochenen Vergünstigungen auch an die Menschen im Lande dachten, die nicht im Exil waren und dafür die Armut und das Leid menschlich grenzenlos erlitten, dachten und sie in ihr Trachten nach dem besseren Leben einbezogen, das war ihren Gesichtern nicht anzusehen und aus ihren Worten nicht herauszuhören.

Dr. Ferdinand verschloss die Bauchdecke eines Mannes, der so alt nicht war und von einem Tumor verzehrt wurde, der, wie sich bei der Operation herausstellte, vom Magen ausging und den angrenzenden Querdarm bereits befallen hatte. Diesem Patienten hatte das Schicksal einen Schlussstrich unter das Leben in naher Zukunft gezogen, dem chirurgisch nicht mehr anzukommen war. Diese Operation war also nur ein Öffnen und Schließen des Bauches, eine sogenannte Probelaparotomie, wie sie Dr. Ferdinand schon so oft durchgeführt hatte und ihn immer wieder bedrückte, dass er da nicht helfen konnte. Die OP-Schwester erinnerte ihn an den alten Mann mit dem weit fortgeschrittenen Magenkarzinom, bei dem er vor Jahresfrist auch eine Probelaparotomie durchgeführt hatte. "Ja, an diesen Patienten erinnere ich mich gut", sagte er, "weil der, als er aus der Narkose erwachte, mit der Hand über seinen Bauch strich und spürte, dass sich da im Bauch nichts verändert hatte. Von diesem Moment an hatte der alte Mann mit seinem Leben abgeschlossen, schloss seine Augen und hielt sie auch dann geschlossen, wenn ich an seinem Bett stand und zu ihm redete. Er wollte sich am Ende seines Lebens von keinem mehr stören lassen, auch nicht von mir."

Dr. Ferdinand knüpfte den Faden nach Verschluss der Muskelblätter, streckte den verknoteten Faden nach oben, und die Schwester durchschnitt ihn mit der Schere oberhalb des Knotens. "Haben Sie mal was von dem freundlichen Kollegen gehört, der hier in der Uniform eines frisch gebackenen Leutnants der südafrikanischen Armee seinen Dienst getan hatte?", fragte ihn die Schwester, als sie ihm den Nadelhalter mit Faden für die Hautnaht in die rechte Hand drückte. "Meinen Sie Dr. van der Merwe?", fragte er zurück. Es war ein Name, den Dr. Ferdinand in seinem Leben nicht vergessen wollte, weil sich mit diesem Namen ein hervorragender junger Mensch und Arzt verband, der auf seine Uniform keine Rücksicht nahm, wenn er am Patienten arbeitete. Dazu kam, dass Dr. van der Merwe wie ein Freund zu ihm war, als er noch ganz unsicher seine Füße auf den afrikanischen Boden setzte. Oft hatte er seine Hilfe angeboten, damit er als Neuling afrikanischer Verhältnisse beim Aufsetzen der Füße keine weichen Knie bekam. Da gab es den Krieg, der fürchterlich und schonungslos unweit der angolanischen Grenze wütete, der die Sicht des Dr. Ferdinand trübte, an vielen Tagen so stark, dass er depressiv war und nicht recht wusste, wo vorn und hinten war. "Dr. van der Merwe ist kurz vor seinem Abschluss als orthopädischer Chirurg. Er ist glücklich verheiratet mit einer lieben Frau, von der inzwischen zwei Kinder hat. In seinen Briefen erwähnt er jedesmal das Hospital, in dem er soviel gelernt hätte, und richtet Grüsse an die Schwestern aus, mit denen zusammen er gearbeitet hatte." Ein sanftes Lächeln glättete das Gesicht der Schwester, die diesen Arzt in guter Erinnerung behalten hatte, weil er für die Menschen in der schwierigen Zeit des Krieges ein Arzt mit menschlichem Antlitz gewesen war. "Dieser Arzt war ganz anders als die andern uniformierten Ärzte", sagte sie und fuhr fort: "diesen Arzt haben alle geachtet und gemocht, weil er ein gutes Herz hatte und voll in der Arbeit am Menschen aufging. Bei ihm störte das Tragen der Uniform der Besatzer nicht, weil unter ihr der gute Mensch zu spüren war." Dr. Ferdinand stimmte ihr voll zu und erinnerte an seine oft mit Gips bekleckerte Uniform, wenn er abends die OPD (Outpatient department) verließ, weil ihm das Tragen der Uniform weniger bedeutete als die Arbeit am Patienten, bei der er sich ganz forderte. Die OP-Schwester erwähnte, wie viele von den Schwestern Tränen in den Augen hatten, als sich Dr. van der Merwe verabschiedete, um nach Südafrika zurückzukehren. "Solche Menschen sind wie das Licht in der Dunkelheit, dem man freudig folgt, wenn man die Richtung verloren hat", fügte Dr. Ferdinand hinzu, als sie gemeinsam den Patienten vom OP-Tisch auf die Trage rüberhoben.

 

Als er das 'theatre' verließ, war die Mitternacht überschritten. Er zog sich die durchschwitzte OP-Kleidung vom Körper und warf sie in den Wäschesack, zog sich das Zivile an, fuhr mit den Fingern durchs feuchte Haar und machte sich auf den Rückweg zur Wohnstelle in der Hoffnung, für die letzten Stunden noch einen kurzen Schlaf zu finden.

Die Hähne krähten das fünfte Mal. Es war halbsechs, als sich Dr. Ferdinand unter die Brause stellte und sich den Schlaf aus dem Gesicht wusch. An diesem Morgen wollte er früh im Hospital sein, um die Patienten vor der Morgenbesprechung zu sehen. Überhaupt wollte er an seinem Arbeitsstil festhalten, wie er ihn vor der Unabhängigkeit eingehalten hatte, auch wenn er gewisse Schwächezeichen spürte, die sich durch die jahrelange Überforderung eingestellt hatten. So vermisste er seit über einem Jahr das Gefühl des Frischseins beim Aufwachen, das Gefühl, wirklich ausgeschlafen und erholt zu sein. Stets waren da Reste der vorangegangenen Tage im Gesicht und im Denken, die, wenn sich die Ladungen ballten, sich bis zum Kopfschmerz schon am frühen Morgen zusammendrückten. So musste er an manchen Morgen eine Schmerztablette nehmen.

Nach einer Tasse Kaffee machte er sich auf den Weg zum Hospital, wobei er an diesem Mittwochmorgen den kürzeren Weg zwischen zerfleddertem Lattenzaun und ausgerolltem Stacheldraht nahm. Es war ein Weg, den er in beiden Richtungen schon einige tausend Male genommen hatte. Von den fünf aufgestelzten Caravan-Häusern, die er nun links stehen ließ, standen nur noch zwei leer, während die drei, die dem Hospital am nächsten standen, von Schwestern bewohnt wurden. In dem Blockhaus, das dem Hospital am nächsten stand, wohnte Schwester, die bei der Explosion in der Barclay's Bank am Freitag, den 19. Februar 1988, dem schwarzen Freitag, schwere Verbrennungen erlitt und das rechte Bein verlor. Sarah wohnte dort mit ihren zwei kleinen Kindern und musste nur die Straße überqueren, wenn sie zur Arbeit ins Hospital ging. Ihr Arbeitsplatz war in der CSD (Central Sterilisation and Disinfection), die sich am hinteren Ende des Operationshauses befand. Dr. Ferdinand ging durch die Hospitaleinfahrt, deren Tore seit Jahren wieder verbeult waren. Das rechte Tor mit dem weniger verknickten Torrahmen stand offen, hinter dem zurückgesetzt auf einem Stuhl der Pförtner saß und sein Morgenei entpellte, dessen Schalenstücke er mit dem linken Schuh in den Sand einrieb. Er war mit dem Ei voll und ganz beschäftigt, das er sich dann in den Mund schob, als ihn Dr. Ferdinand passierte und ihm einen guten Morgen wünschte. Der Pförtner nickte mit dem Kopf, während er das Ei genüsslich zerkaute. Der Vorplatz roch nach Urin, auch wenn es Dr. Ferdinand als normal empfand, denn in all den Jahren, soweit er sich erinnern konnte, waren es nur der Tag des Besuchs der britischen Königin und einige Tage danach, dass dieser Geruch die Nasenschleimhaut nicht kratzte. Die namibische Flagge vom kleineren Format war noch nicht an der überhohen Fahnenstange auf dem gemauerten Podest des Vorplatzes hochgezogen, als er die 'Intensiv'-Station betrat und die Patienten mit dem erhöhten Risiko besah, untersuchte und die Ergebnisse in den Verlaufsbögen notierte. Die zwei, ihn begleitenden Schwestern waren freundlich. Doch die Seele, die auch in diesem Beruf da sein muss, um für die Patienten eine Schwester mit menschlichem Antlitz zu sein, konnte Dr. Ferdinand bei ihnen, wie bei vielen andern Schwestern, von den Matronen ganz abgesehen, nicht mehr spüren. Die Seele im Beruf der Krankenpflege, oder des Helfenwollens im allgemeinen, war in den wenigen Jahren der Unabhängigkeit weitgehend verkümmert. Da war die Zahl der Schwestern immer kleiner geworden, die ihre Arbeit am Patienten aufmerksam und liebevoll, mit menschlicher Hingabe, verrichteten, ohne dabei auf die Uhr zu sehen und an die Tee-, Kaffee- oder Mittagspause zu denken. Diese Seele konnte sich als wunderbare Blume oder menschliche Krone in diesem herausragenden Beruf, der den ganzen Menschen körperlich und seelisch forderte und während der kriegerischen Erschütterungen jahrelang überforderte, nicht mehr halten. Dr. Ferdinand sah im Verlust der besonderen, menschlichen Zuwendung am kranken Mitmenschen das Syndrom der Erschöpfung mit der inneren Leere und Richtlosigkeit. Die Schwere des Syndroms stand in direktem Bezug zur Bildung und Ausbildung des Menschen, der sich für den pflegerischen Beruf als tauglich betrachtete und sich schließlich dabei überfordert, überhoben und Schiffbruch erlitten hatte. Natürlich gab es Ausnahmen, die immer weniger, aber nicht weniger erfreulich waren. Da dachte Dr. Ferdinand zuerst an den Engel bei den Kinderschwestern, die nach wie vor der Unabhängigkeit mit großer Geduld und Hingabe, mit Herz und Nächstenliebe an den kranken Kindern arbeitete. Das hatte bei ihr die Folge, dass sie im Gegensatz zu den meisten andern Schwestern und fast allen Matronen sich körperlich verzehrte und an Körpergewicht verlor. Dr. Ferdinand stellte diesen Schwesternengel nach der Unabhängigkeit einige Male auf die Waage und musste beim Ablesen der verbliebenen Kilogramme mit ernsten Worten diesem herausragenden Menschen erklären, dass sie sich nicht übernehmen und sich etwas mehr Zeit zum Essen geben müsse. Diese Schwester in ihrer Erwiderung fragte dann mit einem Lächeln auf ihrem Gesicht, ob es das sei, und bat, wobei sich das Lächeln legte, zu ihrer Arbeit zurückkehren zu können. Die kranken und verletzten Kinder, die sie versorgte, liebten diese Schwester heiss und innig.

Es war der Zeitgeist mit dem aufkommenden Selbstwertgefühl nach den langen Jahren der Unterdrückung, dass die vorbildliche Arbeit dieser Schwester von ihren Kollegen und Kolleginnen aus Gründen der Bequemlichkeit nicht zu Herzen genommen wurde. Die mangelnde oder gar fehlende Hingabe an den Kranken, der doch der Allernächste im Hospital und der Grund aller Arbeit und des Geldverdienens am Hospital war, war ein schwerer Mangel innerhalb der Krankenpflege, der erst nach der Unabhängigkeit deutlich ans Tageslicht kam und bereits in den ersten fünf Jahren in erschreckendem Masse zugenommen hatte. Es war sichtbar, da gab es keine Zweifel mehr, dass die Menschen, und wenn es die in den Pflegeberufen waren, zunächst und vorwiegend an sich und mehr oder nur am Rande an den Nächsten dachten. Dr. Ferdinand fasste die fehlende Hingabe der Krankenschwester an den Patienten mit der auffälligen Zunahme des Körpergewichts durch das Mehr-essen und Coca-trinken und das Mehr-sitzen, aus dem Fenster Gucken und Palavern (anstatt mit Hand und Herz zu arbeiten) im Hingabemangelsyndrom zusammen, dem er den Namen "Seelen-Kwashiorkor" in Anlehnung an den Körper-Kwashiorkor beim anhaltenden Eiweißmangel gab. Letztere Form führte bei Kindern zur extremen Abmagerung mit spindeldürren Armen und aufgedunsenen Wasserbäuchen auf stelzigen Beinen. Beim "Seelen-Kwashiorkor" handelt es sich um eine Mangelerscheinung ausschließlich bei Erwachsenen, deren Körper durch zu vieles Essen (bei fehlender Kontrolle (Selbstdisziplin) zum rechtzeitigen Aufhören beim Essen) sowie durch den chronischen Mangel an der nötigen Bewegung bei der richtig durchgeführten Krankenpflege durch zu vieles (Herum-) Sitzen überfettet und fürs Aufstehen vom Stuhl schwerfällig geworden sind. Bei diesen Erwachsenen war es das Fett in und an den Bäuchen, an den Oberarmen, Oberschenkeln und Gesäßen, was bei den Kindern bis auf das Wasser in den ausladenden Bäuchen alles fehlte. Bei den chronisch unterernährten Kindern war die Seele bis zum letzten Atemzug lebendig. Sie hofften auf Hilfe und ein Mehr an Essen. Die meisten hofften vergeblich, weil da nichts kam, was längst hätte kommen müssen. Darum packten die meisten dieser Kinder mit den Wasserbäuchen auf den stelzigen Beinen das Leben nicht mehr. Sie fielen um und schauten mit großen Augen in den Himmel, wenn ihr letzter Atemzug verwehte.

Bei den Erwachsenen war es dagegen die Seele, die sich in erschreckendem Masse nach der Unabhängigkeit verschrumpfte und verschalte, als gäbe es da Steine in den Herzen, während sie gleichzeitig an der körperlichen Überfettung litten, die sie aufgrund des seelischen Mangel- oder Schwachzustandes, wenn sich seelisch überhaupt noch etwas bewegte, nicht unter Kontrolle brachten. So hieß die Kurzformel:

Ist das Wasser in den Kinderbäuchen,

dann schreit die Seele auf vor Schmerz.

Große Augen trüben sich zum Ende,

mit dem Fett bringt Seelentod die Wende.

Da macht das fette Essen Bäuche dick,

hart drückt der Stein aufs schwache Herz.

Dr. Ferdinand sah auch nach den Patienten in den andern Sälen, notierte die Besonderheiten in die Krankenblätter und ging dann noch früh genug zur Morgenbesprechung in das Büro des Superintendenten. Er setzte sich auf einen der Stühle gegenüber den verhängten Fenstern. Die Klimaanlage ratterte bereits und bewegte die verbrauchte Luft vom vergangenen Tag. Der Superintendent, ein Kollege der schwarzen Hautfarbe im fortgeschrittenen Alter um die fünfzig, drückte den Telefonhörer mit der linken Hand ans linke Ohr, sprach englisch mit einigen Bemerkungen in Oshivambo, spannte und entspannte die Gesichtszüge bei dem länger dauernden Telefonat, während er mit der rechten Hand einige Notizen in ein Tagebuch vom DIN-A3-Format schrieb. Dieser Superintendent war der vierte mit einer schwarzen Haut. Er folgte dem schwarzen Kollegen, der als Exilant in Moskau Medizin studierte und nun auf dem Stuhl des ärztlichen Direktors saß, der als vorheriger Superintendent der schwarzen Kollegin auf dem Stuhl folgte, deren Exilsprache ebenfalls russisch war, die sich nach der ersten Exilstation mit Schwangerschaft in Sambia an einem Moskauer Hospital, das der Lumumba-Universität angeschlossen war, in der Gynäkologie ausbilden ließ, diese Ausbildung, wie so viele Exil-Namibier, aufgrund der vorzeitigen Rückkehr abbrechen musste, um an den UN-überwachten Wahlen teilzunehmen und das Stimmkreuzchen ins Swapokästchen zu setzen. Dieser Superintendent war nicht im Exil, sondern machte in Durban seine gynäkologische Ausbildung, die er aus persönlichen Gründen, die auch mit der Politik zu tun hatten, nicht abschloss. Er reservierte sich den Dienstagnachmittag sowie den privaten Untersuchungsraum in der 'Intensiv'-Station für seine Patientinnen, die als Privatpatienten kamen und ihren Obulus anstandslos entrichteten. Von den Nacht- und Wochenenddiensten für die allgemeinen Patienten mit den leeren Händen, die sich das Private nicht leisten konnten, nahm er sich jedoch aus.

Der Superintendent legte den Telefonhörer zurück und machte sich noch einige Notizen. Die Zeit, dass die Morgenbesprechung beginnen sollte, war überschritten, als noch Kollegen nachzogen und ihre Stühle einnahmen. Es waren vor allem die kubanischen Kollegen, die die Pünktlichkeit karibisch sahen und sich fast regelmässig verspäteten. Sie waren die weitaus grösste Gruppe und machten mehr als 50 Prozent der Ärzte aus. Die schwarze Kollegin, die schon vor der Unabhängigkeit nur sporadisch, über lange Zeitstrecken überhaupt nicht zur Morgenbesprechung erschienen war, erschien auch nach der Unabhängigkeit nur gelegentlich zu diesen Besprechungen und kam dann meistens noch zu spät. Sie hatte sich vom normalen Stationsdienst im pädiatrischen Kindersaal abgesetzt und füllte nun den Posten eines Managers zur Bekämpfung der Malaria in der Region aus, den sie von einem Büro aus führte, das gut klimatisiert und mit einem Schreibtisch der normalen Größe und einem bequemen Schreibtischsessel ausgestattet war. Die Gesichter der Anwesenden, die ihre Plätze eingenommen hatten, sahen entweder müde oder gelangweilt aus. Einige gähnten sogar in den Besprechungsraum hinein, wobei es wieder die kubanischen Kollegen waren, die sich beim Gähnen auch nicht die Hand vor den Mund hielten. Der stumpfe bis satte Ausdruck in den meisten Gesichtern stand im krassen Gegensatz zu den gespannten Gesichtern, die im Besprechungsraum saßen, als noch die Granaten krachten und der Brigadegrneral von der letzten Entscheidungsschlacht sprach, wo für alle viel auf dem Spiele stand. Davon und von den nächtlichen Ruhestörungen durch die Koevoet (was soviel wie Brecheisen bedeutet), die das Hospitalgelände nach Swapokämpfern absuchte und dabei durch die Krankensäle von Bett zu Bett ging, war nun nichts mehr zu spüren. Das Feuer der ständigen Aufregung und Angst, von einer Granate erschlagen zu werden, war erloschen. So war auch der besondere Geist des Helfen-müssens erloschen, den es damals gab, als sich unter diesen gefährlichen Umständen wenige Ärzte für die Menschen in größter Not einsetzten und dafür ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten. Die Zeit des Für- und Miteinanders unter Einsatz des persönlichen Lebens endete mit Eintritt der Unabhängigkeit Namibias. Nun gab es kein Lebensrisiko mehr, weder für die Ärzte noch für die Schwestern, wenn sie am Patienten arbeiteten, beziehungsweise zu arbeiten hatten. Das war den teilnehmenden Gesichtern in der Morgenbesprechung auch abzulesen. Nun füllte die Routine des Arbeiten-müssens neben der risikolosen, stumpfen Gleichgültigkeit die ablesbaren Züge auf den glatten, mehr oder weniger ausgeschlafenen Gesichtern. Die tiefen, horizontalen und schrägen Sorgenfalten mit den übermüdeten Augen, die einst die Gesichter so eindrucksvoll und unverwechselbar markierten, waren von der Bildfläche verschwunden. Mit dem Zuschütten der Schieß- und Wehrgräben sowie der Granatenlöcher hatte auch der Gesichtsausdruck die platten Züge des sicheren Sitzens angenommen. Es war geglättet, wo noch vor garnicht langer Zeit Not und Verzweiflung, der nicht endende Schmerz tiefe Gräben und Löcher gerissen hatten.

 

Der Superintendent führte eingangs das, was er zu sagen hatte, in einer fast emotionslosen Sprache aus, als wäre es ein Geschäft, das zu tätigen sei. Die Art und Weise des Sprechens, Zuhörens, Fragens und Diskutierens ließ das Wort 'Job' zur Geltung kommen, das in seiner Flach- oder Plattheit den Zugang zur Tiefgründigkeit des ärztlichen Berufes mit der Vielseitigkeit der An- und Herausforderungen verloren hatte. So ließ sich aus dem Berufsethos kein 'Jobethos' denken oder machen. Der Superintendent sprach, schaute mit seinen Augen in irgendeine Richtung, ohne einen beim Herumfahren des Blickes gezielt positiv oder negativ zu berühren. Er konnte völlig ungestört reden, denn außer dem Telefon unterbrach ihn keiner der teilnehmenden Gesichter mit den überwiegend teilnahmlosen Gesichtszügen. Die Themen, die da aufgerollt und abgespult wurden, waren oft dieselben, wie vor der Unabhängigkeit. Der Unterschied lag in der inneren Teilnahme an der Not der Menschen, in der Bekundung des Willens zum Helfen unter den härtesten Bedingungen, in der Leidenschaftlichkeit, den bedrängten Menschen in ihrer Verzehrung ein guter Arzt zu sein. Hinzu kam besonders bei den kubanischen Kollegen die Schwierigkeit, sich in der englischen Sprache auszudrücken. Doch mit zunehmender Übung waren sie es und nicht die einheimischen, aus dem Exil zurückgekehrten Ärzte und Ärztinnen, die ihrerseits Punkte der Mangelhaftigkeit vorbrachten, diskutierten und nach einer Verbesserung verlangten. Es zeigte sich bald, dass ohne die kubanische Verstärkung das Hospital nicht betrieben werden konnte. Hinzu kamen die Kollegen aus Nigeria, Tansania, Uganda, von Ägypten, Birma, Bulgarien und der Ukraine, die einen wertvollen Dienst am Patienten in den unterschiedlichen Fächern der Medizin leisteten.

Mit zunehmender Gewöhnung an die Unabhängigkeit unter dem ersten Präsidenten mit der schwarzen Hautfarbe und einem aufgeblähten Verwaltungsapparat mit Menschen der zumeist gleichen Hautfarbe brachten es die Minister und ihre Vertreter sowie die Staatssekretäre, ihre Stellvertreter und nachgeordneten Direktoren in kürzester Zeit zu beachtlichem Wohlstand, der im krassen Widerspruch zur allgemeinen Armut stand. Es war kein Zweifel, dass die Armut weiter zunahm. In dieser Neuzeit, genauer, fünf Jahre nach Beginn der Neuzeit wurde über bestimmte Dinge nicht mehr gesprochen. Dazu gehörte der Vorplatz des Hospitals mit seinem ständigen Uringeruch, der miserable Zustand in den Krankensälen mit den tropfenden und klemmenden Wasserhähnen, die mangelnde Sauberkeit in den Waschräumen und Toiletten, die verbrauchten, angerissenen, verschmierten und nach Urin riechenden Schaumgummimatratzen, die alten Betten mit den angebrochenen Gestellen, die angerosteten Nachttische mit den klemmenden oder fehlenden Schubladen, und so vieles mehr. Es wurden also ganz elementare Dinge verschwiegen, die picobello sein sollten, weil an denen der Zustand eines Hospitals direkt abzulesen war. Diese Mängel wurden nach der Unabhängigkeit schweigend hingenommen, die noch wenige Jahre zuvor, also zur Zeit der letzten Entscheidungsschlacht, moniert und durch starke Worte angeprangert wurden. Hier war es insbesondere die hagere, kämpferische Matrone mit dem blassen, weißen Gesicht, die sich für eine bessere Hygiene zum Wohle der Patienten pausenlos einsetzte. Es erstaunte in erschreckendem Masse, wie der Geist des vollen Einsatzes für den kranken Menschen so rasch nach der Unabhängigkeit erlosch, obwohl viele der Missstände unverändert vorhanden waren und einige von ihnen weiterhin zum Himmel stanken.

Zahlreiche orthopädische Operationen standen auf dem Tagesprogramm. Dr. Ferdinand ging nach der Besprechung zum OP-Haus, hängte die Zivilkleidung an den Nagel, zog sich das Grüne über und ging in den Teeraum, um noch eine Tasse Tee zu trinken. Die Morgenbesprechung betrachtete er als ein tägliches Ritual, das so gut wie keine praktischen Auswirkungen hatte. Das Gesprochene, auch wenn es tausendmal wiederholt wurde, erreichte kaum, meist keine praktischen Verbesserungen in den Kranken- und OP-Sälen sowie im 'Outpatient department', die die Arbeit am Patienten erleichtert hätten. Im Teeraum waren die Stühle mit den ausgesessenen und eingerissenen Sitz- und Rückenpolstern international besetzt. Die kubanische Kollegin hatte ihren Tee fertig getrunken und ging zum 'theatre 3', um dort eine Laparotomie durchzuführen. Außer ihr gab es nur Kollegen, die da noch ihren Tee tranken. Keiner von allen vermittelte den Eindruck eines überragenden Arbeitseifers. Keiner stürzte sich da in die Arbeit, oder ließ sich in die Arbeit stürzen, obwohl es mehr als genug zu tun gab. Da machten die namibischen Ärzte keinen Unterschied. Dr. Ferdinand leerte die Tasse, stellte sie auf die kleine Durchreiche und ging zum 'theatre 2', wo der Patient zur Oberschenkelnagelung auf dem OP-Tisch lag. Der burmesische Kollege leitete die Narkose ein und führte den Atemtubus in die Luftröhre, den er über Verlängerungsschläuche an das Narkosegerät anschloss. Dr. Ferdinand und der philippinische Kollege drehten den Patienten auf die linke Seite und zogen lange Pflasterstreifen über seinen Körper, um die Seitenlage für die Operation zu halten. Dann gingen sie in den Waschraum, aus dem sie zehn Minuten später mit übergezogenen sterilen Kitteln und Handschuhen zurückkamen. Die OP-Schwester hatte in der Zwischenzeit das rechte Bein mit der braunen Desinfektionslösung gesäubert und den Patienten mit sterilen grünen Tüchern abgedeckt. Auch bei dieser Operation musste improvisiert werden, da die verfügbaren Marknägel entweder zu kurz oder zu lang waren. Es war eine missliche Situation, wie sie so oft in den Jahren der Apartheid in der Behandlung nichtweißer Patienten störend empfunden wurde. Da hatte sich auch nach der Unabhängigkeit trotz ständiger Reklamation nichts gebessert. Die Erklärung lautete nun, dass die Nägel zwar seit Monaten bestellt seien, aber aufgrund nicht bezahlter Rechnungen für bereits gelieferte Instrumente und anderer Waren nicht geliefert würden. Nun waren es die fehlenden Gelder, was früher die rassenpolitische Ausgrenzung war. Im Bemühen, das Instrumentarium für die Operative Knochenbruchbehandlung zu verbessern und auf den Stand der Zeit zu bringen, hatte sich im Resultat wenig oder nichts geändert. Auch am Schwitzen beim Operieren hatte sich nichts geändert, da es die Klimaanlage im OP weiterhin nicht tat. Es ist viel darüber geredet worden, auch darüber, dass das Operieren in der Bullenhitze nicht nur unmenschlich ist, sondern auch den Kreislauf des Operateurs, des Assistenten und der OP-Schwester ungebührlich strapaziert, die das Risiko der Operation erhöht. Es wurde eingesehen, dass dem Patienten eine unnötige Erhöhung des OP-Risikos nicht zugemutet werden durfte. Da schlugen die Klöppel des ärztlichen Ethos bereits und unüberhörbar aufs Trommelfell. Doch es passierte nichts. Die Taten blieben aus. Auch hatte sich die Atmosphäre während des Operierens verändert. Die hatte sich trotz der Bullenhitze im OP-Saal abgekühlt, auch wenn es da Unterschiede von OP-Saal zu OP-Saal gab, je nachdem wer der Operateur und wer die OP-Schwester war. Die Kommunikation im allgemeinen war zurückgegangen. Man empfand das Miteinander-sprechen nicht mehr so stark wie vor der Unabhängigkeit, als die Granaten noch ringsum einschlugen und die Einschläge immer näher ans Hospital kamen, in einer Zeit, als das eigene Leben tagtäglich bedroht war.