Gesichts-, Charakter- und andere Züge

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Gesichts-, Charakter- und andere Züge
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Helmut Lauschke

Gesichts-, Charakter- und andere Züge

Aus dem Wellengang des Lebens

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Totensonntag

Trauermeldung und das missglückte Gespräch

Der Einberufungsbefehl

Besuch des russischen Stadtkommandanten im Dachgeschoss

Abendstern und Morgenstern

Empfang im ‘Polnischer Hof’ in Warschau zu Ehren von Boris Baródin

Impressum neobooks

Totensonntag

Aus dem Wellengang des Lebens

Draußen herrschte die trübe Stimmung. Drinnen in den Häusern und noch weiter drinnen in den Herzen der Menschen war die Stimmung nicht besser. Das Wetter war regnerisch und kalt. Den Menschen fröstelte es außen in ihrer dürftigen teils zerlumpten Kleidung und innen durch die Ungewissheiten, die der verlorene Krieg mit seinen hereinbrechenden Folgen über sie wie ein großes Unwetter ausschüttete. Die Menschen kamen sich verraten und verloren vor, das sah man den herben Zügen ihrer Gesichter an. Sie kamen sich so sehr verloren vor, dass sie eigentlich gar nicht mehr sprechen wollten, besonders über die Verlorenheit nicht. Selbst beim Grüßen taten sie sich schwer, vom freundlichen Gruß ganz abgesehen, was Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, wenn er durch die Stadt ging oder von der Wagengasse 7 den direkten Weg zur Kirche nahm, oder von der Kirche auf dem Heimweg war, schmerzlich empfand. „Wie wollen die Menschen das Gotteswort aufnehmen, wenn sie die Trauer, die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit plagt, sie so steinhart macht, dass alles an ihnen abprallt, egal, ob es ein freundlicher Gruß, ein Wort des Helfenwollens oder ein Gefühl der Mitmenschlichkeit, der Geste menschlicher Zuneigung war“, dachte er, wenn er grüßte, ohne dass der Gruß erwidert wurde.

Solche Verhärtungen waren schädlich; sie waren die denkbar schlechteste Voraussetzung, den vergrämten und in sich zusammengerollten Menschen, die sich aus dem Verband der kleinen städtischen Gesellschaft absonderten, weil sie sich ausgestoßen fühlten, und sich mit Händen und Füßen „verteidigen“, sich nach Kräften der Eingliederung ins Leben der Gemeinschaft widersetzten, mit einer Predigt zu kommen. Jeder fühlte sich auf seine Weise verraten und verkauft; das in Bezug auf die einstigen Ideale für das Vaterland mit der Opferbereitschaft und auf die gebrachten Opfer an Menschenleben und der Weggabe der Wertsachen, die zum Teil unwiederbringliche Erbstücke waren. Die große Armut trug zur großen Lähmung beträchtlich bei. Den kinderreichen Familien fehlte das Geld für Nahrung und Heizmaterial in dieser kalten Jahreszeit. Die Folgen waren verheerend. Der Anblick der abgemagerten Kinder in ihrer zerlumpten Kleidung mit dem zerrissenen Schuhwerk, wenn sie ein solches Werk überhaupt trugen, war herzzerreißend.

Vor diesem Hintergrund der allgemeinen Verfinsterung war die aufkommende Straßenprostitution, die, es musste zur weiteren Schande beklagt werden, vor den Kindern nicht halt machte, ein Fleck des moralischen Niedergangs. Diese Art der Geldbeschaffung war in der Armutsabwehr oder Armutslinderung nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Sie hatte die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten und Schwangerschaften zur Folge, die sich für die Mädchen besonders nachteilig und schmerzhaft auswirkten, wenn sie zu familiären Zerrüttungen und insgesamt zum Niedergang einer bislang mehr oder weniger geordneten Gesellschaft führten.

Der Regen wurde stärker, das Wetter trüber, als die Glocke der Elisabethkirche läutete. Diese Glocke war die kleinste von drei Glocken; deren größere und tiefer tönenden Schwestern aus dem gemeinsamen Glockenstuhl im zweiten Kriegsjahr ausgehängt, abtransportiert und eingeschmolzen wurden, um als Eisen nicht mehr dem Herrn und seiner Gemeinde, sondern zur Herstellung von Kanonenrohren zu dienen. Dieser Wechsel in der Glockenfunktion kam auf höchste weltliche Anordnung, der sich die Gemeinde und Kirchenoberen, der Konsistorialrat sei da eingeschlossen, durch Bittbriefe und andere friedliche Vorstellungen nicht widersetzen konnten. Die Frage, die sich viele Menschen stellten, ob sich die Kirchenoberen wirklich um den friedlichen Glockenerhalt bemüht hatten, blieb ein versiegeltes Geheimnis.

Eckhard Hieronymus Dorfbrunner und seine junge Frau, Luise Agnes Dorfbrunner, hatten sich bereits vor dem hohen, hohltönenden Bimmelgeläut auf den Weg gemacht und vor diesem Sonntagsgeläut die Kirche betreten. Luise Agnes nahm in der zweiten Bankreihe Platz und führte ein langes Gebet im Stehen, in dem sie den Herrn um Vergebung der Sünden und um seine Erleuchtung und Führung bat, ihrem Mann die Kraft eines Apostels zu geben und ihm bei der Predigt die Zunge zu führen. Eckhard Hieronymus hatte sich in der Sakristei den Mantel aus- und den Talar übergezogen, an dem der Küster, ein hagerer Mann der sechziger Jahre mit grauem Haar und vielen Falten im Gesicht, die Halskrause zurechtrückte. Herr Krause war ein aufmerksamer, freundlicher Herr, der dem jungen Pfarrer als Neuling alles Gute zu seinem Einstand wünschte. Er sagte, dass er eine starke Predigt erwarte, denn die Menschen seien durch den verlorenen Krieg aus dem Gleichgewicht geraten; sie seien sprachlos und überempfindlich, gerieten aus dem Häuschen, wenn man sie um etwas fragte.

„Ich werde mich bemühen“, sagte Eckhard Hieronymus zum Küster, „und hoffe, dass mir der Herr den Rücken stärkt und die Zunge lockert.“ Darauf meinte Herr Krause, dass der Herr das schon tun werde, wenn er darum gebeten wird. Das dünne Einglockengeläut war nach einigen unregelmäßigen Nachschlägen, die sich fehl platzierten und dem vorangegangenen Geläut zu widersprechen schienen, zur Ruhe gekommen, war so verstummt, wie es viele Menschen waren, die die Sprache durch die jüngsten Ereignisse verloren hatten. Herr Krause ging hinter den Altar, um sich einen Überblick im Kirchenschiff zu verschaffen. Er kam zurück und sagte, dass die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt sei. Auch der Herr Konsistorialrat sei mit Frau und Tochter erschienen und sitze in der ersten Reihe neben dem Oberstudiendirektor Dr. Hauff des vom Stein’schen Gymnasiums, dem Gutsherrn von Falkenhausen und einigen Sponsoren aus dem Minenkonsortium.

Die Tür zur Sakristei stand halb geöffnet, so dass die Stimmung aus dem Kirchenraum gut zu verfolgen war. Es trat Ruhe ein, die nur durch Hustenattacken durchbrochen wurde. Eckhard Hieronymus Dorfbrunner fragte Herrn Krause, der an der Tür mit Blick in das Kirchenschiff stand, ob er den Kollegen Altmann, den Inhaber der ersten Pfarrstelle gesehen habe. „Der liegt mit einer fiebrigen Grippe im Bett und lässt sich entschuldigen.“ Nachdem sich die Hustenanfälle beruhigt hatten, schritt der Küster neben den Altar und blickte zur Empore hoch. Nach einer leichten Nickbewegung begann die Orgel zu rauschen. Der Organist drückte energisch in die Tasten und Pedale, gab ein kurzes, kurvenreiches Vorspiel, das zur Intonation des ersten Liedes, einem Reformationslied, führte. Die Gemeinde sang; fünf Strophen waren ihr zum Singen aufgegeben.

Mit Beginn der dritten Strophe öffnete Herr Krause die Tür zur Sakristei bis hintenhin. Das war das Zeichen für den neuen Pfarrer, den Kirchenraum zu betreten. Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, 31 Jahre alt, betrat den großen Raum, nicht ohne Nervosität. Er schritt die beiden Stufen hoch zum Altar, blieb mit dem Rücken zur Gemeinde schlank und gerade vor dem Altar stehen und blickte auf zum Kreuz, dem Zentrum seines Glaubens und Wirkens. Er stand tadellos, fast soldatisch. Nichts bewegte sich an ihm. Die Gemeinde war in der Mitte der fünften Strophe, als er in lutherischer Weise das Kreuzzeichen mit sparsamer Handbewegung auf seine Brust schlug, sich umdrehte und den ersten offiziellen Blick in die Gemeinde tat. Er tat es in sympathisch bescheidener Weise, die der Gemeinde zusagte, ihr jedes Vorurteil einer Überheblichkeit augenblicklich zerfließen ließ.

Nun stand Eckhard Hieronymus Dorfbrunner mit dem Gesicht zu den Menschen. Es lag eine feine, nervöse Spannung auf seinem Gesicht, die gepaart war mit der Blässe der Erregung, wenn etwas Neues ins Leben trat, das Zeit brauchte, um sich daran zu gewöhnen. Er selbst betrachtete die Gemeinde als ein Gesicht, ohne die Einzelgesichter zur Kenntnis nehmen zu können. Das wollte er auch nicht, dafür stand mit dem Wort des Apostels und dem, wie er das Apostelwort auslegen wird, zuviel auf dem Spiel. Eckhard Hieronymus stand, er stand wie eine Eins; da wackelte und zitterte nichts; sein gerader Blick ging in Richtung Hauptportal.

„Großartig!“, dachte Luise Agnes, die in der zweiten Reihe hinter dem Konsistorialrat und seiner Frau und Tochter sowie den anderen Herren der gehobenen Bedeutung mit ihren Frauen und Kindern saß. Sie bemühte sich, so unauffällig wie möglich zu sitzen. „Herr, gib ihm die Kraft, dass er so gerade auf der Kanzel steht, wie er jetzt vor der Gemeinde steht. Lass ihn nicht stürzen, weder mit den Beinen noch mit den Worten“; das betete sie lautlos in ihrem Herzen. Die sonore dorfbrunnersche Stimme füllte die Kirche, schlug gegen Fenster und Wände und hallte zurück; sie drang zur Empore hoch, als Eckhard Hieronymus die Ankündigungen für die Woche, die letzte im alten Kirchenjahr, verlas. Die Stimme allein hatte schon etwas Gewaltiges. Wie wunderbar wäre es, wenn dieser kräftigen Stimme die innere Wortgewalt in der Predigt hinzukäme, sinnierte Luise Agnes mit dem Blick in ihr Gesangbuch. Nach dem nächsten Lied, dessen Text Paul Gerhardt abgefasst hatte, kam es zur Verlesung des 6. Psalms, dem Bußgebet Davids: „Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach; heile mich, Herr, denn meine Gebeine sind erschrocken, und meine Seele ist sehr erschrocken. Ach du, Herr, wie lange! Wende dich, Herr, und errette meine Seele; hilf mir um deiner Güte willen! Denn im Tode gedenkt man dein nicht; wer will dir bei den Toten danken?“ Im anschließenden Gebet, zu dem sich die Gemeinde von den Plätzen erhob, wurde der Toten des Krieges gedacht, die ihr Leben für eine Sache hergaben, von der sie glaubten, dass es eine gute und gerechte Sache war.

 

Den Menschen wurden die größten Opfer abverlangt, und sie haben die Opfer gebracht. Nun stehen sie vor dem Scherbenhaufen, dem niedergekämpften deutschen Vaterland. Die Menschen sind erschöpft, sie sind sprach- und fassungslos; sie fürchten sich vor der Zukunft und sind mehr, als jemals zuvor, auf die Hilfe des Herrn angewiesen. „Herr, sieh die Tränen in unseren Augen und die Trauer in unseren Herzen. Wir haben das höchste Gut, unsere Männer, Väter und Söhne verloren und wissen nicht, wie es weitergehen soll. Mit den Toten in unseren Herzen und den entsetzlich Zugerichteten vor unseren Augen bleibt uns nun das Weinen. Herr, nimm uns die Tränen ab. Sieh das Tränenmeer, das wir geweint haben, in dem wir ertrinken werden, wenn du uns nicht rettest. Wir sind schwach und wissen, dass wir es aus eigener Kraft nicht schaffen, die Bürde des Verlorenen, der Ungewissheit, der Einsamkeit und der Armut zu tragen. So knien wir vor dir in tiefer Demut und Verzweiflung. Schau auf uns herab, gib uns deine Hand und richte uns auf. Tu es um deiner Güte willen. Amen!“

Dann wurde das Glaubensbekenntnis in der lutherschen Fassung gesprochen. Danach setzte sich die Gemeinde auf die Bänke zurück und sang nach einem kurzen Orgelvorspiel das nächste Lied, wobei sich der Organist den Freiheiten tonaler Kurzschnörkel und lang gezogener Höhentriller über der tonabwärtsgehenden Basslinie nicht entzog, die immer brummender wurde, je tiefer es mit den Frequenzen in den Keller ging. Nun stand Eckhard Hieronymus Dorfbrunner auf der Kanzel. Die schmale Wendeltreppe hatte er mit gesenktem Kopf, den Blick zu den Stufen und der kleinen Handbibel in der rechten Hand mit Anstand und Würde genommen, ohne dabei wichtigtuerisch oder anderswie schwer zu wirken. Im Gegenteil, er wirkte körperlich leicht und im Schritt elastisch.

Das dorfbrunnersche Gesicht mit den leicht betonten Wangenknochen, dem Gesichtsmerkmal der Sorben in der Oberlausitz, schaute von dem langen, hageren Körper mit dem schmalen Hals über den leicht abfallenden Schultern, die in ihrer geringen Breite, die noch in der Normbreite lag, einem Intellektuellen und nicht dem Handarbeiter oder Brunnenbauer vom Schlage der alten Dorfbrunners entsprach. Er sah in die Bibel vor sich auf dem kleinen Lesepult, blickte auf, blickte über die Gemeinde und las die 13 Verse aus dem 8. Kapitel des 1. Korintherbriefes. Er las ohne Übertreibung und ohne unnötige Akzente zu setzen, wobei die Stimme kräftig und fest war. Die Aussprache war klar und deutlich. Nach der Lesung und einer weniger als halben Schweigeminute der Besinnung, begann er mit der Auslegung des Textes, den persönlichen Worten, an denen er in den vergangenen Tagen mit gtoßer Hingabe gearbeitet hatte.

Liebe Brüder und Schwestern!

Wer war der Apostel Paulus, der zu den Korinthern in so scharfer Weise sprach? Wer waren die Korinther, die sich so etwas sagen ließen? Lassen sie mich mit der zweiten Frage beginnen. Die Korinther waren Kaufleute, die mit ihren Schiffen Handel trieben, der weit in die Ägäis bis nach Kleinasien und über das Ionische Meer bis nach Süditalien, Sizilien und dem heutigen Tunesien reichte. Sie handelten mit Kaffee, Tee, Gewürzen, Tabak, Quarz- und Edelsteinen, mit Teppichen und Tüchern aus Kleinasien, mit Kupfer, Gold, Elfenbein und Edelhölzern, mit Krokodil- und Leopardenfellen, mit Diamanten und dem Papyrus aus Afrika, mit gewirktem Schmuck und handwerklichen Gegenständen vom Peloponnes, mit schmiedeeisernen Stangen, Kugeln, Rädern, Pflugscharen, Messern und Schwertern von Sizilien, mit der roten Tonerde, dem geschliffenen Marmor und mit Tüchern aus Italien. Sie machten es den Karthagern nach. Was war die Folge? Die Korinther häuften einen bis dahin unvorstellbaren Reichtum. Für die schwere Arbeit hielten sie sich Leibeigene, die sie vom Peloponnes oder Sizilien heranschafften. Zudem beschafften sie sich Sklaven aus Kleinasien und Afrika, die wie eine gewöhnliche Handelsware gegen eine andere bezahlt, beziehungsweise getauscht wurden. So gab es in Korinth neben dem blendenden Reichtum eine bittere Armut der vielen Menschen, die rechtlos waren und nach Strich und Faden ausgebeutet wurden. Die Menschen, weil sie völlig mittellos waren, sie hatten weder Schuhe an den Füßen noch ein Hemd am Körper, wurden genommen, gebraucht, verschlissen und verstoßen, so wie es der Obrigkeit gerade passte. Die Schere zwischen Armut und Reichtum klaffte unsäglich weit. Es war die Armut der Entrechteten, die zum Himmel schrie, während die Wohlhabenden sich im Reichtum und im Luxus wälzten. Das waren die Korinther.

Nun zur ersten Frage: wer war der Apostel Paulus? Er war ein Mann mit offenen Augen, dem der Reichtum der einen und das zum Himmel schreiende Elend der andern nicht entging. Er hatte ein ausgeprägtes Empfinden für die Gerechtigkei, deren Wurzeln ihm schon in die Wiege gelegt worden waren. Nach der Erscheinung des Herrn auf dem Wege nach Damaskus, als ihm der Herr so hell erschien, dass sein Auge für Tage geblendet war, nahm sein turbulentes Leben die Wendung um hundertachtzig Grad. Paulus widmete sein Leben und Wirken ganz dem Herrn. Er predigte sein Wort, wo er auch war, mit einer Macht, die es so zuvor nicht gegeben hat. Er bezeichnete sich als den Knecht des Herrn und war ein unerschrockener, unbeugsamer Kämpfer für die Sache des Glaubens. So trat er den Korinthern gegenüber, denen er wegen ihres sündigen Verhaltens mit der lieblosen Überheblichkeit, der Ichbezogenheit und Raffgier nach Geld und Reichtum erst einmal die Leviten las. Das tat er im Hinblick auf die Botschaft des Herrn, für die er den Boden bereiten, die Köpfe und Herzen der Korinther entschlacken und säubern musste.

Paulus hielt diesen Menschen, die nach Wohlstand und weltlicher Macht in rücksichtloser Gier strebten, den Spiegel vors Gesicht, hielt ihnen die Vernachlässigung in der Fürsorge um die Kinder, Schwachen und Waisen vor, zeigte mit dem Finger auf ihre versteinerten Herzen, rüttelte am Bretterwerk der verkommenen Sitten mit dem Verlust der Tugend und der Ideale, stellte den Fuß bis an den Sumpf ihrer Schlechtigkeiten heran, schlug mit dem Stock der Worte hart darauf, dass der Schmutz in ihre Gesichter und auf die weißen Gewänder spritzte. Nein, Paulus nahm kein Blatt vor den Mund, wenn er die Ausschweifungen und Irrungen brandmarkte, wenn er auf das Lügen und Betrügen, auf das Verdrängen und Vergessenwollen ihrer bösen Taten zu sprechen kam; da ließ er nicht mit sich spaßen, weil ihm die Kinder und Armen am Herzen lagen, denen die Unschuld und das Recht auf ein Leben in Anstand und Würde nicht durch die gewissenlose Ausbeutung und durch andere Schweinereien und Machenschaften genommen werden durfte.

Paulus sah den Menschen in die Gesichter, sah ihnen die Scheinheiligkeit, die vorgetäuschte Leutseligkeit und die verlogene Unbekümmertheit an. Es waren oft die gut gekleideten Herren, die Menschen aus den besseren Kreisen, denen es an Essen und Trinken nicht fehlte; das sah er ihnen an. Ihren Sprüchen trat der Apostel mit erhobener Hand entgegen und ermahnte sie ernsthaft, endlich von den Lügen abzulassen und zur Wahrheit zurückzukehren, auch wenn der Weg zur Wahrheit mit Steinen, Scherben, Stacheldraht und anderen Hindernissen ausgelegt ist. Es war schon damals so, dass es Menschen gab, die sich im vorgehaltenen Spiegel nicht erkennen oder wiedererkennen wollten. Einige der Gespiegelten drückten das eine oder das andere Auge zu, oder stellten sich auf beiden Augen blind. Da platzte dem Apostel Paulus der Kragen und half mit Worten nach, die messerscharf waren und den Heuchlern, den scheinheiligen Täuschern und den anderen unbekümmerten Falschgesichtern ins verdorbene Fleisch schnitten.

In dieser Weise, der die Beispiele der Taten vorangestellt wurden, tat es der Apostel Paulus mit den Menschen in Korinth. Da gab es wohlhabende Menschen, dass es nicht in den Kopf der Güte ging, wenn bei all dem Reichtum, der sich durch den Handel angehäuft hatte, es Menschen und vor allem Kinder gab, die in jämmerlichen Hütten oder hinter Brettern lebten, die sich in ihrem Leben nicht satt essen konnten, sich zu Tode hungerten, denen die Armut das Kleid der menschlichen Würde und Scham zerriss, ja vom Leibe gerissen wurde, die, weil sie bettelarm waren, von denen, die genug zum Leben hatten, verachtet, geschlagen und verstoßen wurden. Was waren das für Menschen in Korinth? Diese Frage lässt sich mit voller Berechtigung auch in unserer Zeit stellen. Denn auch bei uns klafft die Schere zwischen arm und reich auf eine unerträgliche Weise. Die Not der Menschen geht soweit, dass Kinder nicht mehr regelmäßig zu essen bekommen, manchmal den ganzen Tag über hungern, dass Frauen und Mädchen ihren Körper gegen Bezahlung hergeben, um die Familien zu ernähren. Die Gesellschaft ist in Unordnung geraten, wofür der Krieg und sein katastrophales Resultat mitgewirkt haben, aber nicht allein für den moralischen Verfall verantwortlich zu machen sind.

Die Ideale sind verschlissen; ja die Opfer waren groß, unbeschreiblich groß. Nun müssen wir zur Tugend der Rechtschaffenheit zurückkehren, wenn es weitergehen soll, ohne dass zuvor die Gesellschaft völlig auseinanderbricht und die Familien in der Haltlosigkeit ganz zerfallen. Uns fehlt das Wissen der Erkenntnis. Hätten wir das Wissen, dann könnten wir der Zeit vorausblicken, könnten in die Zukunft blicken. Weil wir das nicht können, sind wir unsicher und halten uns an den äußeren Dingen fest. Wir streben nach dem äußeren Reichtum, weil wir den inneren Reichtum mit der Wahrheit und der Nächstenliebe, der viel umfassender als der äußere Reichtum ist, nicht erkennen. Wir wissen im Grunde genommen nichts. Dazu machen wir den Fehler in der Annahme, dass der äußere Reichtum ausreicht, um die Sicherheit zum Leben zu geben. Da stellt sich die Frage, was wir unter Leben verstehen, das in seiner biologischen Form und Ausgestaltung für den Einzelnen vergänglich und damit zeitlich begrenzt ist.

Liebe Brüder und Schwestern! Die Zeit, in der wir stehen, lehrt uns, dass ein Leben in der äußeren Ausgestaltung sehr kurz sein kann. Große Hoffnungen blieben unerfüllt, weil ihre Träger sie nicht weiter trugen, nicht bis zu Ende, bis zur Erfüllung trugen, weil den Trägern durch ein Unglück der Herzschlag davonjagte und schließlich, doch unwiderruflich, zum Stillstand kam. Es ist daher wichtig, die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden und sich für den rechten Weg zu entscheiden, solange noch Zeit zur Entscheidung ist. Der Apostel Paulus spricht von der Liebe, der Nächstenliebe und der Christusliebe, wenn er sagt, dass es die Liebe ist, die aufbaut, während das Wissen aufbläst; eine Blase also, eine Kopf- oder Gelehrtenblase ist, die das Risiko des Platzens in sich hat, je praller die Blase wird, wo, wenn sie platzt, die Luft mit dem Wissen entweicht und nichts Greifbares zurückbleibt. Paulus formuliert es schärfer, wenn er sagt, dass der, der meint etwas zu wissen, nicht weiß, was er erkennen soll. Erst mit der Liebe zum Herrn kommt die Erkenntnis und mit ihr das wahre Wissen, das keine Kopfblase mehr ist, das verlässlich ist, mit dem man bauen und aufbauen kann.

Paulus baut am Bekenntnis wie an einem großen Monument. Er beschwört die Menschen, dass es nur den einen Gott gibt, dem man mit dem Götzenopfer nicht kommen kann. Mögen sich Menschen wie Götter tragen, sich vergöttern lassen; sie bleiben Menschen mit all ihren Fehlern und Schwächen, von denen die größte Schwäche die Selbstüberhebung mit dem Hochmut ist. Der Apostel schreitet um das Monument, geht durch das Universum seines Glaubens, hebt mahnend die Hand und ruft uns zu, dass wir den einen Gott haben, den Vater, von dem alle Dinge sind und kommen, so auch unser Herr Jesus Christus, der den Kreuzestod auf sich nahm, um die Menschheit zu retten. Gibt es einen unter uns, der die Tragweite der Entscheidung, den Kreuzestod für die Menschen auf sich zu nehmen, und die Größe der Tat mit dem Leiden und Sterben ermessen kann? Mit dem Kopf kann ich es nicht und mit dem Herzen nur im Glauben an den einen Gott, der alles erschuf und den Menschen nicht fallen lässt, weil er ihn liebt. Ist das nicht Grund genug, unsere Herzen zu öffnen und ihn, den Vater, in seiner grenzenlosen Güte und Liebe zu empfangen?

 

Die Erkenntnis um die eine große Wahrheit lässt sich mit dem Verstand weder erringen noch leugnen. Das Wissen babbelt, bläht und sprudelt da nur herum. Die Erkenntnis muss dem Menschen geschenkt werden, und sie wird ihm geschenkt, wenn er im Herzen einfach und sauber und im Glauben fest und unbeugsam ist, so wie es der Apostel Paulus uns vorgelebt und vorgelitten hat. Er drückt es so aus, dass wir schwach sind, solange wir am Götzenopfer festhalten, weil solange unsere Seele von der Sünde befleckt ist, was eben vom Dienst am Mammon mit dem falschen Opfer kommt. Wenn wir uns bessern wollen, dann müssen wir uns von den Übeln des Mammons befreien, müssen zur Demut und zum Bekenntnis unseres Glaubens zurückkehren und das in Wort und Tat.

Wir müssen den Geist des einander Helfenwollens in uns spürbar machen und die Gegenseitigkeit der Hilfe zu neuem Leben erwecken. Paulus warnt vor der Überheblichkeit mit dem Wissen, durch das der Schwache ins Verderben kommt, der unser Bruder und unsere Schwester ist, um derentwillen Jesus Christus gestorben ist. Vom hohen Ross der Überheblichkeit sind die meisten heruntergestiegen, dafür haben die Ereignisse des Krieges gesorgt; doch einige sitzen noch da oben, das sind die Unbelehrbaren mit dem Götzenopfer, die auf ihre Weise, die rücksichtslos und anachronistisch ist, meinen, besser durchs Leben zu kommen. Wir müssen unsere Hände zum Helfen freihalten und dem entgegenstrecken, der mit dem Leben ringt. Wir müssen wieder lernen, aufeinander zuzugehen und den andern so zu achten wie sich selbst. Um das zu tun, müssen wir uns aus den Ketten der Ichbezogenheit befreien. Es muss das Du geben, wenn die Dinge in unseren Familien und in der Gesellschaft in Ordnung kommen sollen. Denn nur durch das Du kann sich das Ich aus den Ketten der Ichbezogenheit befreien, sich läutern, bessern und auf einer moralisch-ethisch höheren Ebene zu sich finden. Mit dem Du im Zentrum des Denkens, Fühlens und Handelns wächst aus dem schwachen das starke Ich heraus, das in der Du-Bezogenheit auch das Wissen hat, die Dinge richtig zu erkennen und durch das bessere Tun richtigzustellen.

Liebe Brüder und Schwestern! Im 11. Vers des 8. Kapitels berührt der Korintherbrief ganz unmittelbar unsere Ängste, Befürchtungen und Sorgen, wenn Paulus vom Bruder spricht, der durch falsches Wissen ins Verderben stürzt, um dessen Willen Jesus Christus den Kreuzestod auf sich genommen hat. Unsere Gedanken gehen zu unseren Brüdern, Vätern und Söhnen, die mit großen Idealen für das Vaterland kämpften. Das Wissen der Obrigkeit stimmte mit der Erkenntnis, um die es Paulus im Korintherbrief geht, nicht überein. Nun haben wir die Folgen zu tragen, die schwer sein werden. Nur der Herr in seiner Güte kann uns die Kraft zum Tragen dieser Folgen geben. Wir kehren zur Demut zurück und bitten den Herrn um seine Gnade. Amen!

Es herrschte die Stille der Betroffenheit, als Eckhard Hieronymus Dorfbrunner die kleine Handbibel zuklappte, sich auf der Kanzel drehte und mit der Bibel in der rechten Hand die schmale Wendeltreppe herabstieg, wobei er den Talar vorne mit der linken Hand anhob, um die Absätze der Stufen zu sehen. Die Orgel intonierte mit einem kräftigen Bass das Lutherlied von der festen Burg, dessen Strophen die Gemeinde stehend mit einer wiedererlangten Inbrunst sang. Im abschließenden Gebet gedachte Eckhard Hieronymus der Toten des Krieges, auf beiden Seiten der Front, weil Jesus Christus nicht nur für die Toten auf der deutschen Seite gestorben war. Er gedachte auch der Toten, die eines natürlichen Todes gestorben waren. Alle ihre Seelen befahl er der Gnade und Liebe des einen Gottes an, von dem in der Predigt die Rede war. Dann gedachte er der Hinterbliebenen, der Waisen und der Witwen, der Ratlosen und der Verzweifelten, die den Schutz, den Trost und die Führung des Herrn in seiner maßlosen Güte dringend brauchten. „Möge uns der Herr trösten und aus dem Tal des Elends und der Verzweiflung herausführen; möge er uns in seiner großen Güte und Barmherzigkeit in dieser Not beistehen und uns in ihrer Bewältigung seinen Segen geben. Amen!“

Nach dem gemeinsam gesprochenen ‚Vaterunser‘ und dem Segensspruch über die Gemeinde, zu dem die verbliebene kleine Glocke, weil in zu hoher Tonlage, eher belanglos als wichtig und kraftvoll läutete, brauste die Orgel auf. Der Organist, ein älterer Herr mit grauem Haarkranz, hatte wohl sämtliche Register gezogen, als unter dem dröhnenden Fortissimo der Posaunen, dass die Trommelfelle zu platzen drohten, die Fenster klapperten und die Wände zitterten, die Gemeinde einstimmte und die letzten beiden Strophen des Lutherliedes sang; womit der Gottesdienst sein Ende nahm.

Eckhard Hieronymus Dorfbrunner trat die beiden Stufen vor dem Altar herab und ging zum Westportal, um die Menschen, die sich von den Bänken erhoben und dem Ausgang zugingen, beim Verlassen der Kirche durch ein freundliches Kopfnicken zu begrüßen, ihnen die Segenswünsche und das, was Paulus im 8. Kapitel des 1. Korintherbriefes von der Erkenntnis und der Liebe, die aufbaut, gesagt hatte, mit auf den Weg zu geben. Die Menschen mit ihren blassen Gesichtern, in denen bei den Älteren die Sorgenfalten hinzukamen, und bei den ganz Alten mit den Magergesichtern und den nach vorn gekrümmten Rücken, sie alle grüßten freundlich zurück. Einige gaben dem jungen Pfarrer die Hand, einige mit zitternder Hand, nachdem sie den Stock von der rechten in die linke Hand gewechselt hatten. Sie dankten für die Predigt, die ihren Eindruck nicht verfehlte, so die einen, die kraftvoll, so die andern, oder nachdenkenswert war, so die noch anderen. Der junge Pfarrer dankte für die freundlichen Worte, die er wohl verstand, dass sie nicht nur aus dem Kopf, sondern auch aus den Herzen kamen, wofür er besonders dankbar war. Eine ältere Frau mit schneeweißem Haar, die von ihrer Schwiegertochter am Arm geführt wurde, wischte sich bei der Begrüßung mit einem Taschentuch die Tränen aus den Augen. Sie sagte, dass ihr Sohn gefallen sei und ihre Schwiegertochter als Witwe mit vier kleinen Kindern zurücklasse, die jetzt keinen Vater mehr hätten. Das ging dem Pfarrer sehr nah, der darauf so schnell nichts zu sagen wusste. Als er dann doch was sagen wollte, war die alte Frau mit ihrer Schwiegertochter bereits die Stufen vor dem Portal herabgestiegen. Ein Mann im mittleren Alter, der eine Kappe vor dem rechten Augen trug, drückte die Hand des Pfarrers und dankte ihm für die aufrichtigen Worte, als er darauf hinwies, dass das Wissen der Obrigkeit mit der Erkenntnis, wie sie Paulus auslegt, nicht übereinstimmte. „Herr Pfarrer, ich beglückwünsche Sie zu ihrem Mut, das so offen zu sagen; dabei haben Sie so recht. Vielen Dank! Machen Sie weiter so!“

Die Kirche hatte sich geleert. Herr Krause hat die Kollekte vor dem Ausgang zur Sakristei mitgenommen, wohin nun auch Eckhard Hieronymus Dorfbrunner ging. Dort hatten sich der Konsistorialrat Braunfelder mit Frau und Tochter, der Oberstudiendirektor Dr. Hauff mit Frau, der Gutsherr von Falkenhausen und drei Herren vom Minenkonsortium eingefunden, um den neuen Pfarrer zu begrüßen. Küster Krause strahlte dem eintretenden Eckhard Hieronymus mit den Worten „Das haben Sie gut gemacht!“, ins Gesicht und gab ihm einen väterlichen Klaps auf die linke Schulter. Der Konsistorialrat, der einen schwarzen Anzug mit weißem Stehkragen und schwarzer Weste trug, über der das metallene Kreuz mit dem Gekreuzigten hing, wie es die Superintendenten zu tragen pflegen, vermied eine erste Stellungnahme zur Predigt. Mit dem offiziellen Gesicht eines Geistlichen der höheren Stufe stellte er den Neuling den Herren vom Konsistorium vor, die ihm freundlich die Hand gaben, aber so, wie sie waren in ihren schwarzen Anzügen mit den schwarzen Krawatten, kein Wort verlauten ließen, wie sie die Predigt aufgenommen hatten. Nur Frau Dr. Hauff, die sich, weil es gang und gäbe war, in der Anrede den akademischen Titel ihres Mannes gefallen ließ, meinte nach einer fast herzlichen Begrüßung, dass ihr die Predigt gut gefallen habe. Eckhard Hieronymus Dorfbrunner verstand die wohlmeinende Absicht, da sich die Herren einer persönlichen Meinung enthielten, was er als schade, vielleicht sogar als peinlich empfand. Ihr Mann, der den Titel durch eine wahrscheinlich philologische Dissertation erworben hatte, hörte die Worte seiner Frau, drehte sich vom Konsistorialrat ab und dem jungen Pfarrer zu, wollte als Oberschulmeister offensichtlich seiner Frau nicht nachstehen, und sagte mit einem Gesicht, dem die verfehlte Leutseligkeit nicht abzuleugnen war, dass er für seine Jungfernpredigt einen Text gewählt habe, der ihm, das wurde ihm rasch klar, ins Herz geschrieben war.

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