Systemtheorie III: Steuerungstheorie

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Systemtheorie III: Steuerungstheorie
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[2][3]Helmut Willke

Systemtheorie III:

Steuerungstheorie

Grundzüge einer Theorie der Steuerung komplexer Sozialsysteme

4., überarbeitete Auflage

UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK/Lucius · München

[4]Prof. Dr. Helmut Willke lehrte seit 1983 Soziologie an der Universität Bielefeld; seit 2002 hat er eine Professur für Staatstheorie und Global Governance inne. Seit 2008 ist er Professor für Global Governance an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen mit Gastprofessuren in Washington, D. C., Genf und Wien. 1994 erhielt er den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Seine Forschungsschwerpunkte sind Systemtheorie, Staatstheorie, globale Steuerungsregime, globale Netzwerke und Wissensmanagement. Er ist Autor des Grundlagenwerks zum systemischen Wissensmanagement. Er hat langjährige Erfahrung als Berater in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft.

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3. Auflage: © Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 2001

4. Auflage: © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2014

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Lektorat: Marit Borcherding, Göttingen

Satz und Layout: Claudia Wild, Konstanz

UVK Verlagsgesellschaft mbH

Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz

Tel.: 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98

www.uvk.de

UTB-Band Nr. 1840

ISBN(eBook) 978-3-8463-4122-3

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

[5]Inhalt


1Einführung
2Demokratie als Steuerungsmodell komplexer Gesellschaften
2.1Exkurs zum Markt als Steuerungsform
2.2Ideen zur Revision der Demokratie als Steuerungsmodell
3Hierarchie als Steuerungsprinzip komplexer Systeme
3.1Kritik der Hierarchie
4Das Problem der Koordination
4.1Zur Logik von Verhandlungssystemen
5Macht als Steuerungsmedium
5.1Machtbasierte Infrastruktur – der Fall Politik
5.2Die Schwäche der Macht
6Geld als Steuerungsmedium
6.1Geldbasierte Infrastruktur – der Fall Sozialstaat
6.2Zur Logik geldgesteuerter Selektionen
6.3Die Armut des Geldes
7Wissen als Steuerungsmedium
7.1Aufklärung über Expertise und Expertensysteme
7.2Wissensbasierte Infrastruktur
7.3Wissensmanagement der Organisation
7.4Die Ignoranz des Wissens
8Über Renitenz und Risiko

Literatur

Register

[6][7]1 Einführung

Die moderne Systemtheorie kann inzwischen für sich in Anspruch nehmen, eine Theorie für die Theorie und eine Theorie für die Praxis zu sein. »Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie«, so lautet eine Einsicht aus der Managementberatung. Tatsächlich wirkt die von der soziologischen Systemtheorie getragene Revolution des systemischen Denkens seit einigen Jahren in unterschiedlichste Praxisbereiche hinein und verändert die konzeptionellen und operativen Grundlagen für die Steuerung komplexer Systeme.

Allerdings geschieht dies in einem Kontext, der zumindest in zweierlei Hinsicht von einer paradoxen Steuerungsskepsis geprägt ist. Zum einen hat sich eine systemische Steuerungstheorie damit auseinanderzusetzen, dass die neuere Systemtheorie Steuerung überhaupt nur in der Form der Selbststeuerung begreiflich machen kann. Sie betont mit triftigen Gründen die Eigenlogik, Autonomie und operative Geschlossenheit komplexer Systeme und schließt daraus, dass eine direkte externe Beeinflussung oder Steuerung keinen Erfolg haben könne.

Zum anderen sieht sich jede Steuerungstheorie heute mit einem Trümmerhaufen gescheiterter praktischer Steuerungsvorhaben und Steuerungshoffnungen konfrontiert. Nicht nur die Praxis sozialistischer Gesellschaftssteuerung ist tragisch und mit unvorstellbaren Kosten gescheitert; auch die Praxis westlich-demokratischer Steuerung hat in unzähligen Bereichen tiefe Spuren der Enttäuschung, Konfusion und Resignation hinterlassen. Misslungene Steuerungsstrategien werden unter den Stichworten »Staatsversagen« und »Marktversagen« abgeheftet, wenn nicht gleich unter dem Titel einer »Logik des Misslingens« (Dörner 1989), von »Blundering into disaster« (McNamara 1987) oder von »Adventures in chaos« (Macdonald 1992). Außer den widersprüchlichen Rufen nach »Deregulierung« einerseits und »Gemeinwohlorientierung« andererseits sind bis heute kaum brauchbare Alternativen zu erkennen.

Diese missliche Lage rechtfertigt wohl den Versuch eines neuen Anfangs. Neu an diesem Versuch ist in erster Linie die Absicht, die hochentwickelten Beobachtungs- und Konstruktionsinstrumente der neueren Systemtheorie zu nutzen, und sie in ein resonantes Verhältnis mit praktisch relevanten Steuerungsproblemen zu bringen.

In theoretischer Sicht ist das Steuerungsproblem zentral, weil es die Frage nach der Möglichkeit und der Qualität der wechselseitigen Beeinflussung komplexer Systeme stellt. Bei aller Betonung der Eigenlogik und der operativen Geschlossenheit nicht trivialer Systeme ist die moderne Systemtheorie eine System-Umwelt-Theorie. Je deutlicher sie die Eigensinnigkeit und Undurchdringlichkeit[8] selbstreferenzieller Systeme herausarbeitet, »desto dringender stellt sich die Frage, wie denn unter dieser Bedingung die Umweltbeziehungen des Systems gestaltet sind« (Luhmann 1993, S. 440). Auf dem Feld der Steuerungstheorie werden in den kommenden Jahren entscheidende Auseinandersetzungen stattfinden. Mit dem Zusammenbruch des praktizierten Sozialismus haben auch theoretische Konzeptionen der zentralisierten Planung, der hierarchischen Fremdsteuerung, der direkten autoritären Beeinflussung ihre verbliebene Basis an Glaubwürdigkeit und Reputation verloren. Der u. a. von der Systemtheorie (Foerster 1985b; Willke 1979; Willke 1983, Kap. 4) immer wieder monierte Widersinn einer Trivialisierung komplexer Sozialsysteme hat sich auch durch eine immer repressivere Praxis nicht halten lassen. Dieses praktische Scheitern einer Theorie (der Gesellschaftssteuerung) wird nicht ohne Auswirkungen auf »westliche« Vorstellungen der Gesellschaftssteuerung durch Politik bleiben. Fantasien der Machbarkeit, ja Erzwingbarkeit politischer Reformen, die vor allem das sozialdemokratische und das verbliebene sozialistische Denken noch prägen, geraten weiter in die Defensive. Die von oben verordnete Beglückung der Menschen durch Sozialstaat und Wohlfahrtsgesellschaft wird noch fragwürdiger werden. All dies kann in der gegenwärtigen historischen Epoche wenig überraschen.

 

Überraschend dagegen ist die simultane Erfahrung der westlichen Demokratien, dass auch das offizielle Gegenprogramm des »Durchwurstelns«, des »Laisser-faire«, der Deregulierung und des Pluralismus an deutliche Grenzen des Ertrages und der Erträglichkeit gestoßen ist. Selbst in den USA, dem Hort des scheinbar freien Spiels der Kräfte in Politik und Ökonomie, im Wissenschaftssystem wie im Gesundheitssystem, in den Massenmedien wie im Außenhandel (»free trade«), wird inzwischen bloßes Durchwursteln und bloße Evolution nach Marktgesetzen als suboptimal eingeschätzt – und in wichtigen Fällen sogar als selbstschädigend. Seitdem ist es schwieriger geworden, die Frage der Entwicklungsdynamik von Gesellschaften (und anderer großer Sozialsysteme) in endlosen Wiederholungen zwischen den Eckpunkten Staat und freier Markt, staatlicher Kontrolle und marktförmiger Freiheit, Planung und Evolution, hierarchischer Autorität und Selbstorganisation hin- und herzuschieben. Das Planungsmodell ist gründlich diskreditiert; aber auch das Marktmodell kommt in Verruf, seitdem insbesondere durch die globale Finanzkrise deutlicher beobachtbar wird, dass und wie Marktversagen und die marktproduzierten Fehlleistungen modernen Gesellschaften an die Substanz gehen.

Eine Steuerungstheorie, die sich aus der doppelten Negation von Plan und Markt entfaltet, sieht sich konsequenterweise auch einer doppelten Frontstellung von Planungsverfechtern und Marktadepten gegenüber. Die verführerisch einfachen Antinomien (Gegensatzpaare oder Denkformen) von Plan und [9]Markt, Markt und Staat, Hierarchie und Freiheit, Hierarchie und Markt etc. wehren sich gegen das Eindringen eines störenden Dritten, das die übersichtlichen Grenzlinien durcheinanderbringt. Die resultierende Konfusion schlägt in der Regel auf das Dritte zurück und verhindert die Frage, ob es nicht eine alternative Form gäbe, welche die bisherigen Alternativen übergreift. Die zentrale theorie-strategische Herausforderung an die Steuerungstheorie ist es deshalb, in einem Feld zu operieren, das gar nicht an der Erprobung zusätzlicher Alternativen interessiert ist, sondern an der Perfektionierung der bereits etablierten Konzeptionen. Nach einer paradoxen Logik des »Mehr von demselben« gilt dies gerade auch dann, wenn diese Konzeptionen für alle erkennbar Misserfolge produzieren. Die intuitive Reaktion der betroffenen und interessierten Akteure ist nicht: »Lasst uns die Konzeptionen überprüfen und eventuell verwerfen«, sondern viel eher: »Lasst uns die Konzeptionen ausbauen, denn wir haben bereits so viel in sie investiert«.

Jede Steuerungstheorie muss der Übermacht der etablierten Theorien zumindest so lange trotzen, bis sie begreiflich machen kann, weshalb Steuerung für den Fall nicht trivialer Systeme eine eigenständige Problem- und Fragestellung ist. Es kommt darauf an, plausibel zu machen, dass sich eine Steuerungstheorie sozialer Systeme weder in der Begrifflichkeit der Planungstheorien, noch in den Begriffen der Theorien naturwüchsiger Evolution fassen lässt, weil Steuerung weder auf externe Eingriffe noch auf interne Dynamiken alleine reduziert werden kann. Das theoretische Kernproblem jeder Steuerungstheorie ist deshalb die Fragen nach den möglichen Formen der geordneten Verschränkung von operativer Geschlossenheit und externer Anregung. Erst nach dieser Komplizierung besteht eine Chance, die vorherrschende Verengung des Denkens auf die Form Plan/Markt oder Hierarchie/Selbstorganisation aufzubrechen.

In praktischer Sicht ist das Steuerungsproblem brisant, weil die Kunst der Systemsteuerung sich in einem erbärmlichen Zustand befindet. Zugleich wächst die Dringlichkeit praktischer Steuerungsprobleme. Ob Primärgruppe, Organisation oder Gesellschaft, ob Abteilung, gesellschaftliches Funktionssystem oder transnationaler Kontext – auf jeder nur denkbaren Ebene nehmen die Steuerungsprobleme zu, und die Steuerungskapazitäten können nicht Schritt halten. Regionale Krisen wie der Krieg im ehemaligen Jugoslawien, die »operation hope« in Somalia, die französische Intervention in Mali oder die Auseinandersetzungen zwischen der UN und Nordkorea zeigen auf internationaler Ebene, wie schwierig die Steuerung komplexer Verhältnisse selbst bei scheinbar eklatanter Überlegenheit der eingreifenden Akteure ist. Vergleichbares gilt auf nationaler Ebene für eine Unzahl gesellschaftlicher Problemlagen, vom Drogenproblem über die Technologiesteuerung bis zur[10] vielfältigen Selbstgefährdung durch Umweltzerstörung und durch einen Raubbau an natürlichen und menschlichen Ressourcen.

Dass sich die Lage der Entwicklungsländer trotz vielfältiger eigener und fremder Programme in kaum einer Hinsicht verbessert und in vielen Hinsichten verschlechtert hat, halten die meisten Beobachter bereits für normal (Moyo 2010). Selbst die am meisten entwickelten Ökonomien haben trotz jahrelanger Anstrengungen keine Mittel gegen eine degradierende Massenarbeitslosigkeit finden können. Wie sollen Steuerungsfragen dieser Größenordnung gelöst werden, so könnte man allerdings fragen, wenn wir nicht einmal in der Lage sind, die scheinbar kleinen Steuerungsprobleme der familiären Stabilität, der anspruchsvollen Erziehung von Kindern, der Versorgung mit Kindergartenplätzen, der Integrität kommunaler Lebenswelten, einer zukunftsorientierten Berufsausbildung etc. auch nur einigermaßen befriedigend zu behandeln.

Vielleicht am erstaunlichsten an der Situation der modernen Gesellschaften ist, dass ungeheuer viele und vielfältige Programme, Initiativen, Projekte, Modellversuche und Veränderungsvorhaben in Gang gesetzt werden, ohne dass dies eine tiefsitzende Steuerungsskepsis überwinden könnte. Akteure und Publikum, Betreiber und Betroffene erwarten oft gar nicht, dass substanzielle Verbesserungen erreicht werden. Die Verhältnisse, sie sperren sich – ohne dass sich genauer sagen ließe, was diese Verhältnisse so undurchschaubar und unveränderbar macht.

All dies nährt die Vermutung, dass nicht einzelne Steuerungsfehler Erfolge im Sinne gelingender Systemsteuerung verhindern. Vielmehr scheint unser Verständnis des Problems der Steuerung komplexer Sozialsysteme insgesamt mangelhaft zu sein. Wäre diese Vermutung richtig, dann wüssten wir, warum es so wenig nützt, an den praktizierten Steuerungskonzeptionen herumzubasteln und sie im einen oder anderen Detail zu überarbeiten. Wenn Ökonomen, Politiker, Unternehmer oder Gewerkschafter jeden Monat neue Vorschläge zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit verkünden, sich aber über Jahre hinweg die Lage nur verschlechtert, dann ist zu befürchten, dass das ganze vorherrschende Modell der Steuerung des Arbeitsmarktes nichts taugt. Wenn über Jahrzehnte hinweg die staatliche Entwicklungshilfepolitik hauptsächlich viele kleine und einige große Katastrophen produziert, dann sollte sich irgendwann die Frage stellen, ob die vorherrschende Konzeption von Entwicklungshilfe überhaupt irgendetwas mit der Realität komplexer Sozialsysteme im Kontext fremder Kulturen zu tun hat.

Wie für die Theorie, so könnte es auch für die Praxis der Steuerung angesichts dieser Penetranz von Misserfolg naheliegen, sich ganz aus dem Geschäft der Steuerung zurückzuziehen und auf Nichtsteuerung zu setzen. Demgegenüber möchte ich in diesem Buch das Argument entwickeln, dass Steuerung[11] unabdingbar ist, weil gerade komplexe Sozialsysteme weder ihrer Eigendynamik überlassen (siehe dazu Mayntz und Nedelmann 1987), noch von außen kontrolliert werden können. Ihre Eigendynamik treibt sie zwar zur maximalen Nutzung ihrer intern angelegten Möglichkeiten, aber ohne Rücksicht auf die widrigen Folgen (»negative Externalitäten«) für ihre Umwelt. Externe Kontrolle dagegen schnürt den Möglichkeitsraum eines Systems auf denjenigen einer Trivialmaschine ein und beraubt es so seiner kreativen und innovativen Züge. Die komplementären Mängel von selbstzerstörerischer Eigendynamik und unmöglicher Kontrolle bezeichnen ziemlich genau das Dilemma, das mit Hilfe eines brauchbaren Konzepts von Steuerung zu lösen wäre.

Nehmen wir als ein erstes Beispiel das Auto (siehe dazu die Parallele im Einführungskapitel meiner Systemtheorie II). Seit 100 Jahren folgt die Entwicklung des automobilen Verkehrssystems hauptsächlich seiner Eigendynamik. Die grundlegende Technologie wird kontinuierlich variiert, aber nicht substanziell verändert. So gibt es eine schier unendliche Fülle von Modellen, Varianten, Veränderungen, mehr oder weniger neuen »features« und Spielereien; aber immer noch existieren weder ein brauchbares Elektroauto noch andere überzeugende Alternativen zum Auto. Die industrielle Produktionsform des Autos hat sich kontinuierlich fortentwickelt. Seit langem ist es ein millionenfach verkaufter Massenkonsumartikel. Das Auto ist billiger, standardisierter, in seinen Komponenten verlässlicher und sicherer geworden; aber nirgendwo in der Autoindustrie scheint es einen Bedarf an grundsätzlicher Reflexion der Folgekosten des Autos zu geben. Die begleitende Infrastruktur – Straßennetz, Verkehrsschilder, Kraftfahrzeugämter etc. – hat sich ebenfalls evolutionär fortentwickelt, ohne Neuerungen oder Brüche.

Insgesamt aber erzeugen diese (und weitere) einzelne Strömungen der eigendynamischen Entwicklung des automobilen Verkehrssystems einen Mahlstrom an negativen Externalitäten, vom Verkehrsinfarkt der Städte über die Vergiftung von Boden, Luft und Wasser bis zur Zerstörung der Ozonschicht und einer möglichen globalen Klimaveränderung – von den jährlich mehr als einer Million Verkehrsopfern auf der Welt insgesamt ganz abgesehen (siehe den Bericht der WHO unter tttp://www.focus.de/panorama/welt/un-mehr-als-eine-million-verkehrstote-weltweit_aid_408400.html). Das Tückische an dieser Entwicklung ist, dass für sich betrachtet jedes einzelne Moment der Eigendynamik eben gerade kontrollierbar erscheint, noch nicht ganz den Punkt erreicht zu haben scheint, an dem das System insgesamt kippt. Im Zusammenwirken seiner vielen Elemente aber bewirkt das automobile Verkehrssystem eine geradezu unglaubliche Gefährdung seiner globalen Umwelt, seiner eigenen Bestandsvoraussetzungen, seiner eigenen Nützlichkeit und Legitimität.

[12]Wäre externe Kontrolle eine Alternative zur Eigendynamik? Auf den ersten Blick ist zu sehen, dass der Moloch Straßenverkehr zu mächtig geworden ist, um noch von außen kontrolliert zu werden. Merkliche Eingriffe in Mobilität, Verfügbarkeit, Kostenstruktur oder gar Zulässigkeit des Autoverkehrs erscheinen von vornherein als aussichtslos – nicht nur wegen des millionenfachen Aufschreis »freier Bürger«, die sich »freie Fahrt« auf die Stirn geschrieben haben, sondern weil mit spürbaren Eingriffen tatsächlich wichtige Funktionsvoraussetzungen einer hochindustrialisierten und hochmobilen Gesellschaft gefährdet wären. Also auf Kontrolle verzichten? Auch diese Option ist inzwischen nicht mehr akzeptabel, dazu ist das Problem zu akut und drängend.

Sieht man genauer hin, so zeigt sich, dass die unvereinbaren Alternativen von ungebremster Eigendynamik und externer Kontrolle sich zu einer raffinierten Scheinlösung verbunden haben. Das System des automobilen Individualverkehrs insgesamt folgt einer unbeherrschten und in hohem Maße zerstörerischen Eigendynamik. Aber es erzeugt zugleich den Schein von Kontrolle und Kontrollierbarkeit, indem einzelne Momente des Systemzusammenhanges in die Form von isolierbaren Einzelproblemen gepackt und korrigierenden (regulativen und/oder technischen) Anforderungen unterworfen werden. Neue Regeln erzwingen die Absenkungen der zulässigen Abgaswerte; der Katalysator wird eingeführt; neue Werte für Maximalverbrauch, neue Werte für die Zusammensetzung des Treibstoffes, höhere Steuern, Vorschriften für car pools; Verkehrsberuhigung, Spielstraßen, Flexibilisierung der Arbeits- und Schulzeiten zur Entzerrung der »Rushhours«; immer neue Programme zur Verlagerung von Straßenverkehr auf die Schiene, immer neue Programme zur Erhöhung der Attraktivität der öffentlichen Verkehrssysteme, immer neue Projekte zur Verbesserung der Schnittstellen zwischen den verschiedenen Verkehrsträgersystemen; Forschungsprojekte zur Automatisierung des Straßenverkehrs, Pilotprojekte zu elektronisch gestützten Verkehrsleitsystemen – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen mit Anstrengungen zur Kontrolle einzelner Probleme und Auswüchse des Autoverkehrssystems.

 

So entsteht der Eindruck, dass mit einer Vielzahl kontrollierender Eingriffe das System insgesamt unter Kontrolle gehalten oder sogar »verbessert« werden könnte. Tatsächlich aber verstärkt sich der Verdacht, dass mit dieser Art von Maßnahmen und Reformen die interessierten Akteure des Systems sich selbst und dem Publikum Kontrollierbarkeit, Planbarkeit und Beherrschbarkeit einreden, während das automobile Verkehrssystem insgesamt außer Kontrolle geraten ist.

Die Problematik des Autoverkehrs ist nur eines von vielen Beispielen. Auf der Ebene ganzer Gesellschaften lag das Modell wettbewerbsorientierter evolutionärer Anpassung zum Beispiel den groß angelegten Sozialexperimenten[13] der »Reaganomics« in den USA und des »Thatcherismus« in Großbritannien zugrunde. Aber die Anpassung des Systems unter der Führung der »Selbstheilungskräfte« des Marktes hat die tiefliegenden gesellschaftlichen Verwerfungen und Asymmetrien eher verstärkt als korrigiert und mehr neue Probleme geschaffen als alte gelöst. Das Modell externer Kontrolle hat Ende der 1980er-Jahre die Führungen der osteuropäischen sozialistischen Systeme dazu verführt, sich einer Fülle von Detailreformen zuzuwenden und darüber die Unreformierbarkeit des Gesamtsystems des praktizierten Sozialismus aus den Augen zu verlieren. Viele ähnliche Illustrationen ließen sich anführen.

Aus diesem beklemmenden Dilemma von selbstzerstörerischer Eigendynamik einerseits und einer verblendeten Illusion der Kontrolle andererseits soll nun Steuerung herausführen? Das bleibt abzuwarten. Jedenfalls ist genau dies der Anspruch einer systemtheoretischen Steuerungstheorie, welche die Erfahrung ernst nimmt, dass in vielen konkreten gesellschaftlichen Problemlagen sowohl die Verklärung des Durchwurstelns als selbstkorrigierende evolutionäre Anpassung gescheitert ist, wie auch die Verkürzung des Problems externer Kontrolle auf eine Sequenz isolierter Detaileingriffe. Allerdings geht es in der Theorieentwicklung nicht in erster Linie darum, eine Lösung des konkreten Problems anzubieten. Das muss den beteiligten Akteuren und Systemen schon selbst gelingen. Theorie kann aber eine unabdingbare Voraussetzung jeder praktischen Problemlösung schaffen, indem sie das Instrumentarium für Beobachtungen, Analysen und Strategien bereitstellt. Dies ist notwendig, um verstehen zu können, welche Art und Qualität von Problem vorliegt und welche Formen der Intervention sinnvoll sein könnten.

So wie es ohne eine Theorie der Sternentwicklung unmöglich ist, etwa aus radioastronomischen Beobachtungen etwas Vernünftiges herauszulesen, so wüssten wir ohne eine plausible Beschreibung des Steuerungsproblems gar nicht, worauf wir bei der Beobachtung dahindriftender Sozialsysteme achten sollten. So wie ohne eine Theorie der Psyche individuelles Verhalten inkohärent und chaotisch erscheinen muss, mit der Folge, dass eine Beeinflussung dieses Verhaltens zum Zwang oder zum Glücksspiel verkommt, so ist die Beeinflussung komplexer Sozialsysteme ohne eine brauchbare Steuerungstheorie ein Vabanque-Spiel mit hohen Einsätzen. Im Umgang mit einfach strukturierten Systemen, mit dekomponierbaren (d. h. in handhabbare Einzelteile zerlegbare) Problemlagen und mit nicht organisierter Komplexität (siehe dazu Systemtheorie II, Kap. 2.4) gewinnen wir seit langer Zeit Erfahrungen, die im Umgang mit organisierter Komplexität nicht nur unbrauchbar sind, sondern sogar irreführend. Die unterschiedlichsten Formen der Beeinflussung sozialer Systeme, von familialer oder schulischer Erziehung über Organisationsmanagement bis zu politischen Programmen, von Systemtherapie über korporative Strategien bis zu Kriegen haben einen historisch[14] gewachsenen Fundus an Ideen, Konzepten und Erfahrungen über erfolgreiche und erfolglose Beeinflussung geschaffen, der heute nahezu durchgängig kontraproduktiv und widersinnig geworden ist (aufschlussreiche historische Beispiele dafür bei Neustadt und May 1986). Dies ist die eigentliche Schwierigkeit einer Steuerungstheorie heute.

Vielleicht war es aber immer schon die Schwierigkeit einer Steuerungstheorie, dass der direkte und umstandslos erscheinende Weg des hierarchischen Zwangs einerseits, des kurzsichtigen Durchwursteln andererseits natürlicher und machbarer erscheinen als der komplizierte Weg einer resonanten Verschränkung (d. h.: einer wechselseitig aufeinander Rücksicht nehmenden Verknüpfung) von Eigenlogik und extern vorgegebenen Möglichkeiten und Restriktionen. Weil aber in komplexen Problemkonstellationen weder Zwang noch Durchwursteln angemessen sind, führen sie nicht selten zu tragischen Lösungen, die das Problem nur verschlimmern. Ein anschauliches Beispiel dafür bietet die antike Tragödie Antigone des Sophokles. Im Kampf um Theben töten sich die Brüder Eteokles und Polyneikes, beides Söhne des Ödipus, gegenseitig. Eteokles, der die Stadt verteidigte, wird in Ehren begraben. Aber der Angreifer Polyneikes darf auf Befehl des neuen Herrschers von Theben, Kreon, nicht begraben werden. Zwischen den beiden Schwestern Antigone und Ismene kommt es zur Auseinandersetzung, weil Antigone entgegen dem Verbot auch Polyneikes, ihren Bruder, begraben will. Ismene beugt sich dem Zwang des Kreon und versucht sich mit Hinweis auf ihre Rolle als Frau durchzuwursteln: »Wir müssen einsehn, dass wir Frauen sind, mit Männern uns zu messen nicht bestimmt. … Ich füge mich der Obrigkeit: Maßlos zu handeln hat ja keinen Sinn.«

Treffend bezeichnet Antigone dieses Durchlavieren als »Klugheit« und »Vorwand«. Aber sie selbst hat dem Zwang des Kreon nichts anderes entgegenzusetzen als einen höheren Zwang, denjenigen der Götter und des Gebots an die Schwester, den toten Bruder zu bestatten. Sie versucht nicht, auf Kreon Einfluss zu nehmen, um ihn zur Rücknahme seines Verbots zu bringen. Im Gegenteil: Offen und trotzig gesteht sie ihre Tat und verweist auf ein höheres Gesetz: « So groß schien Dein Befehl mir nicht, der sterbliche Dass er die ungeschriebnen Gottgebote, Die wandellosen, konnte übertreffen.« Hat Kreon angesichts dieser erzwungenen direkten Konfrontation eine andere Möglichkeit, als auf seinem Gesetz zu bestehen und Antigone zum Tode zu verurteilen? Wenn sie ungestraft bliebe, dann wäre seine Autorität als König untergraben. Schlimmer noch: »Wenn sie sich ungestraft das leisten darf, Bin ich kein Mann mehr, dann ist sie der Mann!« Heutige Feministinnen werden dies zu interpretieren wissen.

Antigone kommt es nicht darauf an, ein Problem in einer komplexen Konstellation zu lösen. Sie sieht von den meisten Momenten der Situation[15] ab – vom Fluch des Ödipus, vom Kampf um Theben, von der Position des Königs, von ihrer Liebe zu Haimon (dem Sohn Kreons), von den Folgen ihres Handelns für ihre Schwester – und verengt ihren Blick auf die Alternative gehorchen oder nicht gehorchen, begraben oder nicht begraben.

Die vielleicht spannendste Rolle in der ganzen Tragödie ist Haimon zugeschrieben. Er hat einen einzigen großen Auftritt, einen langen Dialog mit seinem Vater, in welchem er grandios beginnt, als sei er steuerungstheoretisch geschult, sich dann aber von der Unnachgiebigkeit seines Vaters zunehmend irritieren lässt, schließlich bei Vorwürfen und Drohungen und Spott Zuflucht suchen muss und damit den tragischen Verlauf der Handlung nur noch beschleunigt. Gleich zu Beginn wird er von seinem Vater mit der unlösbaren Alternative konfrontiert: »Kommst du nun, Vor mir um deine Braut zu toben oder Liebst du den Vater stets, was er auch tut?« Aber anstatt sich auf diese tödliche Alternative einzulassen, spricht er wie ein geschickter Berater. Er versichert dem Vater, dass er seiner Weisung folge – solange sie auf den rechten Weg führe. Er lässt offen, was der wirklich rechte Weg wäre und bringt nach einer längeren Tirade Kreons über Gehorsam und Renitenz eine weitere Perspektive ins Spiel, nämlich seine Rolle als einziger, der es wagt, dem König ungeschminkt Beobachtungen über die Stimmung des Volkes mitzuteilen. Behutsam arbeitet er darauf hin, seinem Vater begreiflich zu machen, dass eine Aufhebung des Verbots nicht Schwäche wäre, sondern Weisheit, nicht Unordnung und Aufruhr nach sich zöge, sondern Bewunderung für Großmut:

»Auch für den Klugen ist doch keine Schande,

Statt sich zu übernehmen viel zu lernen.

Du siehst am winterlich geschwollnen Strom

Den Baum, der nachgibt, seine Zweige retten,

Was widersteht, reißt’s mit den Wurzeln fort.

Und wenn der Steuermann das Segeltau

Nur immer strafft und gar nicht lockern mag,

Der kentert bald und fährt kieloben weiter.

Drum beuge dich und wandle deinen Sinn!

Hab ich, der Jüngre, auch ein Wort, ich meine,

Weitaus der höchste Rang gebührt dem Mann,

Dem von Natur der Weisheit Fülle ward.

Doch in der Regel fällt es anders aus,

Dann ist von Klugen lernen auch ein Lob.«

Haimon benutzt sogar zwei explizite Bilder kluger Steuerung – er spricht vom Baum, der sich dem Strom nicht entgegenstemmt und vom Steuermann, der auch nachlassen und nachgeben kann, um den Wind besser zu[16] nutzen. Aber es ist alles vergebens. Schnell spielt sich der zwischen Vater und Sohn übliche Machtkampf ein, bei dem beide nur verlieren können.

Vielleicht wollte Sophokles in Wirklichkeit doch eine Einführung in die Steuerungstheorie schreiben. Denn er begnügt sich nicht mit diesem gescheiterten Versuch. Vielmehr inszeniert er einen in seiner Komplexität eindrucksvollen Steuerungsprozess, der zwar letztlich auch scheitert, weil die Akteure die Zeitdynamik des Geschehens nicht mehr im Griff haben, der aber exemplarisch aufweist, wie Steuerung funktionieren könnte. Schlüsselfigur ist der blinde (!) Seher Teiresias. Ihm gelingt es, Kreon den umfassenderen Kontext der Entscheidungssituation vor Augen zu führen – die Folgen seines Beharrens auf Antigones Tod für ihn selbst, für seine Familie, für die Stadt insgesamt. Er entzieht Kreon die Sicherheit einfacher Alternativen und deutet an, dass Kreons Unerbittlichkeit die Rache der Erinnyen gegen die Stadt heraufbeschwört. Nun endlich ist Kreon erschüttert, aber erstaunlicherweise muss er dies nicht als Niederlage Teiresias gegenüber eingestehen, sondern sich selbst in einem inneren Dialog mit dem Chor. So ist sein Nachgeben nicht mehr eine Frage von Behauptung oder Aufgeben, sondern von Einsicht in eine neue Notwendigkeit.