Loe raamatut: «H. G. Wells – Gesammelte Werke», lehekülg 16

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VIII. Das tote London

Nach­dem ich mich von dem Ar­til­le­ris­ten ver­ab­schie­det hat­te, ging ich den Hü­gel hin­ab und durch die High Street über die Brücke nach Lam­beth. Das rote Ge­wächs war hier be­son­ders üp­pig und ver­sperr­te fast den Weg zur Brücke; aber sei­ne Zwei­ge wa­ren be­reits von der im­mer wei­ter um sich grei­fen­den Krank­heit, die es so bald und so rasch ver­nich­ten soll­te, ge­bleicht.

An der Ecke des We­ges, der zur Sta­ti­on Put­ney Bridge führt, sah ich einen Mann lie­gen. Der schwar­ze Staub gab ihm das Aus­se­hen ei­nes Schorn­stein­fe­gers; er leb­te, war aber sinn- und hilf­los be­trun­ken. Ich brach­te nichts aus ihm her­aus, als Flü­che und wü­ten­de Stö­ße ge­gen mei­nen Kopf. Ich glau­be, dass ich bei ihm ge­blie­ben wäre, hät­te der rohe Aus­druck sei­nes Ge­sich­tes mich nicht ab­ge­schreckt.

Auf der Stra­ße, die von der Brücke wei­ter­lief, war über­all der schwar­ze Staub zu se­hen, der in Ful­ham noch dich­ter wur­de. Die Stra­ßen wa­ren grau­en­voll still. In ei­nem Bäcker­la­den fand ich et­was zu es­sen; es war sau­er, hart und schim­me­lig, aber noch ganz ge­nieß­bar. Et­was wei­ter ge­gen Wal­ham Green zu wa­ren die Stra­ßen frei von Pul­ver; ich kam an ei­ner lich­ter­loh bren­nen­den Häu­ser­rei­he hin­ter ei­nem ter­ras­sen­ar­ti­gen Vor­sprung vor­über. Der Lärm des Feu­ers schi­en mir ge­ra­de­zu eine Er­leich­te­rung. Als ich in der Rich­tung nach Bromp­ton weiter­schritt, fand ich die Stra­ßen wie­der ganz still.

Hier nun stieß ich aber­mals auf das schwar­ze Pul­ver und auf Men­schen­lei­chen. Ich sah auf der lang­ge­dehn­ten Ful­ham Road al­les in al­lem etwa ein Dut­zend. Der Tod hat­te die­se Leu­te schon vor vie­len Ta­gen er­eilt, so­dass ich schleu­nigst an ih­nen vor­über­eil­te. Das schwar­ze Pul­ver be­deck­te sie über und über und mil­der­te ihre Züge. Ei­ner oder zwei wa­ren schon von Hun­den ent­stellt wor­den.

Wo sich kein schwar­zes Pul­ver fand, hat­te das Stra­ßen­bild eine merk­wür­di­ge Ähn­lich­keit mit dem ei­nes Sonn­tags in der City: die ge­schlos­se­nen Lä­den, die fest­ver­sperr­ten Häu­ser, die her­ab­ge­las­se­nen Vor­hän­ge, die Verödung, die Stil­le. In man­chen Häu­sern wa­ren schon Plün­de­rer an der Ar­beit ge­we­sen, aber kaum nach an­de­ren Din­gen, als nach Ess­vor­rä­ten und Wein. In ei­nem Haus fand ich das Schau­fens­ter ei­nes Gold­schmieds er­bro­chen, aber der Dieb war of­fen­bar ge­stört wor­den, denn eine An­zahl gol­de­ner Ket­ten und Uhren la­gen ver­streut auf dem Stra­ßen­pflas­ter. Ich hielt mich nicht auf, die Din­ge zu be­rüh­ren. Et­was wei­ter fand ich ein zer­lump­tes Weib zu­sam­men­ge­kau­ert auf ei­ner Tür­stu­fe sit­zen; die Hand, die über ihr Knie her­ab­hing, wies eine klaf­fen­de Wun­de auf und das Blut rie­sel­te über ihr rost­brau­nes Kleid; eine große zer­bro­che­ne Cham­pa­gner­fla­sche bil­de­te eine La­che auf dem Stra­ßen­pflas­ter. Das Weib schi­en schla­fend, war aber tot.

Je wei­ter ich in Lon­don ein­drang, de­sto tiefer wur­de die Stil­le. Aber es war nicht so sehr die Stil­le des To­des — es war die Stil­le des Ban­gens, der Er­war­tung. Je­den Au­gen­blick konn­te die Zer­stö­rung, wel­che schon die Nord­west­gren­ze der Haupt­stadt in Brand ge­steckt und Ea­ling und Kil­burn zer­stört hat­te, auch die­se Häu­ser tref­fen und sie in einen rau­chen­den Trüm­mer­hau­fen ver­wan­deln. Es war eine zum Tode ver­ur­teil­te, im Stich ge­las­se­ne Stadt.

In South-Ken­sing­ton wa­ren we­der Leich­na­me noch schwar­zes Pul­ver zu se­hen. Es war in der Nähe von South-Ken­sing­ton, dass ich zum ers­ten Male das Ge­heul hör­te. Es schlich sich fast un­merk­lich in mei­ne Sin­ne. Es war ein schluch­zen­der Wech­sel zwei­er Töne: »Ulla, ulla, ulla, ulla«, klang es un­auf­hör­lich.

Als ich durch Stra­ßen kam, die nach Nor­den führ­ten, schwoll es stark an, und Häu­ser und Mau­ern schie­nen es ab­zu­schwä­chen und end­lich zum Schwei­gen zu brin­gen. In der Aus­s­tel­lungs­stra­ße schwoll es zur vol­len Kraft an. Ich blieb ver­wun­dert ste­hen, starr­te nach Ken­sing­ton Gar­dens und be­griff nicht, was die­ses fer­ne Kla­ge­ge­heul zu be­deu­ten hat­te. Es war, als hät­te die ge­wal­ti­ge Häu­ser­wüs­te eine Stim­me für ihre Furcht und ihre Ein­sam­keit ge­fun­den.

»Ulla, ulla, ulla, ulla«, klag­te die­ser über­mensch­li­che Ton — große Schall­wo­gen feg­ten die brei­ten, son­nen­hel­len Stra­ßen zwi­schen den ho­hen Ge­bäu­den auf bei­den Sei­ten hin­ab. Von Stau­nen er­grif­fen wand­te ich mich nach Nor­den ge­gen die ei­ser­nen Tore des Hy­de­parks. Ich über­leg­te schon, ob ich in das na­tur­his­to­ri­sche Mu­se­um ein­drin­gen und auf die Spit­ze sei­nes Tur­mes klet­tern soll­te, um über den Park hin­über­zu­se­hen. Aber ich ent­schloss mich doch, un­ten zu blei­ben, wo ich doch bes­ser Ge­le­gen­heit fin­den konn­te, mich im Not­fall rasch zu ver­ste­cken, und so ging ich auf der Aus­s­tel­lungs­stra­ße wei­ter. Alle die Vil­len auf bei­den Sei­ten der Stra­ße wa­ren leer und still und mei­ne Schrit­te hall­ten ge­gen die Häu­ser wie­der. Am Ende der Stra­ße, in der Nähe des Park­ein­gangs, bot sich mir ein selt­sa­mer An­blick – ein ge­stürz­ter Stell­wa­gen und das sau­ber ab­ge­nag­te Ge­rip­pe ei­nes Pfer­des. Das mach­te mich eine Zeit lang stut­zig, dann aber ging ich über die Brücke des Ser­pen­ti­nen­tei­ches. Die Stim­me wur­de lau­ter und lau­ter, ob­wohl ich jen­seits der Häu­ser­dä­cher, auf der Nord­sei­te des Par­kes nichts se­hen konn­te, als einen Rauch­schlei­er im Nord­wes­ten.

»Ulla, ulla, ulla, ulla«, heul­te die Stim­me, die, wie mir schi­en, vom Be­zirk um Re­gent’s Park her­kam. Der trost­lo­se Schrei las­te­te sich mir auf die See­le. Die mu­ti­ge Stim­mung, die mich bis­her auf­recht­er­hal­ten hat­te, schwand wie­der. Das Kla­ge­ge­heul be­mäch­tig­te sich mei­nes Ge­mü­tes. Ich fand, dass ich un­end­lich elend, er­mat­tet und hung­rig und durs­tig war.

Es war schon Mit­tag vor­über. Wa­rum wan­der­te ich denn da al­lein um­her in die­ser Stadt des To­des? Wa­rum blieb ich denn al­lein zu­rück, jetzt, da ganz Lon­don in schwar­zes Lei­chen­tuch gehüllt, auf der Bah­re lag? Ich fand mei­ne Ver­ein­sa­mung un­er­träg­lich. Ich dach­te an alte Freun­de, die ich jah­re­lang ver­ges­sen hat­te. Ich dach­te an die Gif­te in den Che­mi­ker­ge­schäf­ten, an den Trank, den die Wein­händ­ler auf­ge­spei­chert hat­ten; ich dach­te an die zwei wein­se­li­gen Ge­schöp­fe der Verzweif­lung, die, so­viel ich wuss­te, den Be­sitz der Stadt mit mir teil­ten.

Ich ge­lang­te durch das Mar­mor­tor des Hyde Park in die Ox­ford­street; hier fand ich wie­der schwar­zes Pul­ver und Lei­chen; ein ab­scheu­li­cher und ver­däch­ti­ger Ge­ruch stieg aus den Kel­ler­fens­tern ei­ni­ger Häu­ser auf. Die Hit­ze und mein lan­ger Marsch mach­ten mich sehr durs­tig. Nach un­end­li­cher Mühe ge­lang es mir, in eine Schen­ke ein­zu­bre­chen und et­was zu es­sen und zu trin­ken zu fin­den. Nach der spär­li­chen Mahl­zeit wur­de ich müde, ging in eine Stu­be hin­ter dem Schank­tisch und schlief auf ei­nem schwar­zen Ross­haar-Ru­he­bett, das ich dort fand.

Ich er­wach­te, um je­nes schau­er­li­che Ge­heul noch im­mer in den Ohren klin­gen zu hö­ren. »Ulla, ulla, ulla, ulla.« Es däm­mer­te schon, und nach­dem ich ei­ni­ge Zwie­back­stücke und et­was Käse im Schank­zim­mer zu­sam­men­ge­rafft hat­te — das Fleisch war wohl un­be­rührt, aber es be­stand fast aus nichts als aus Ma­den — wan­der­te ich über die ru­hi­gen Wohn­plät­ze zur Ba­ker­street — der Port­man­platz ist der ein­zi­ge, den ich mit Na­men nen­nen könn­te — und ge­lang­te end­lich an den Re­gent’s Park. Und als ich aus der Ba­ker­street her­austrat, sah ich in wei­ter Fer­ne jen­seits der Bäu­me im kla­ren Licht des Son­nen­un­ter­gangs die Hau­be ei­nes Mars­rie­sen, von dem das Ge­heul aus­ging. Ich emp­fand kei­ner­lei Furcht. Ich schritt auf ihn zu, als wäre das eine ganz na­tür­li­che Sa­che. Eine Zeit lang be­ob­ach­te­te ich ihn, aber er rühr­te sich nicht. Er stand nur da und heul­te aus ei­nem Grund, den ich nicht ent­de­cken konn­te.

Ich ver­such­te, mir einen Plan zu­rechtzu­ma­chen. Die­ses un­aus­ge­setz­te Ge­heul, die­ses »Ulla, ulla, ulla, ulla« ver­wirr­te mei­nen Geist. Vi­el­leicht war ich auch zu müde, um Furcht zu ha­ben. Ge­wiss ist, dass die Be­gier­de, der Ur­sa­che die­ses ein­tö­ni­gen Ge­heuls auf den Grund zu kom­men, stär­ker war als mei­ne Furcht. Ich wand­te mich nun vom Park weg und schlug mich in die Park­stra­ße mit der Ab­sicht, den Park zu um­ge­hen, ging dann un­ter dem Schutz der Ter­ras­sen im­mer wei­ter, und be­kam nun die­sen be­stän­dig heu­len­den Mars­mann aus der Rich­tung von St. John’s Wood zu Ge­sicht. Etwa zwei­hun­dert Yard von der Ba­ker­street ent­fernt hör­te ich ein viel­stim­mi­ges, wü­ten­des Ge­kläff, und sah, erst einen Hund mit ei­nem Stück fau­li­gen, ro­ten Flei­sches in den Zäh­nen blitz­schnell auf mich zu­lau­fen, und dann eine Meu­te halb ver­hun­ger­ter Kö­ter, die ihn ver­folg­ten. Er mach­te einen wei­ten Bo­gen, um mir aus­zu­wei­chen, als fürch­te­te er, in mir einen neu­en Wett­be­wer­ber zu fin­den. Als das Ge­kläff die brei­te Stra­ße hin­un­ter erstarb, scholl der kla­gen­de Laut des »Ulla, ulla, ulla, ulla« mit ver­dop­pel­ter Kraft.

Auf dem hal­b­en Wege zum Bahn­hof von St. John’s Wood stieß ich auf eine zer­trüm­mer­te He­be­ma­schi­ne. Erst glaub­te ich, dass ein Haus über die Stra­ße ge­stürzt sei, aber als ich un­ter sei­nen Trüm­mern um­her­klet­ter­te, be­griff ich, fast zu­rück­pral­lend, die wah­re Art die­ses nie­der­ge­streck­ten me­cha­ni­schen Sim­son, des­sen Tast­werk­zeu­ge ver­bo­gen und zer­schmet­tert und ver­dreht un­ter den Trüm­mern, die es ver­ur­sacht hat­te, um­her­la­gen. Der vor­de­re Teil war zer­schellt. Es schi­en, als sei die Ma­schi­ne ge­ra­den We­ges blind­lings ge­gen das Haus ge­rannt und durch die ei­ge­ne Wucht ge­bors­ten. Ich konn­te mir nur vor­stel­len, dass das mit ei­ner He­be­ma­schi­ne ge­sche­hen sein kön­ne, die der Lei­tung ih­res Mars­man­nes le­dig war. Ich konn­te nicht ge­nü­gend un­ter ih­ren Trüm­mern um­her­klet­tern, um sie ge­nau zu prü­fen, und die Däm­me­rung war noch nicht so weit vor­ge­schrit­ten, um das Blut, mit dem ihr Sitz be­schmiert war, und die be­nag­ten Knor­peln des Mars­man­nes, wel­che die Hun­de üb­rig ge­las­sen hat­ten, mei­nen Bli­cken zu ver­ber­gen.

Von Stau­nen über alle die Din­ge, die ich ge­se­hen hat­te, er­füllt, drang ich bis zum Prim­ro­se Hill vor. Weit ent­fernt sah ich durch eine Öff­nung in den Bäu­men einen zwei­ten Mars­mann, der schwei­gend und re­gungs­los wie der ers­te im Park ge­gen den zoo­lo­gi­schen Gar­ten zu da­stand. In der Nähe der Trüm­mer, die um die zer­schmet­ter­te He­be­ma­schi­ne la­gen, stieß ich wie­der auf das rote Ge­wächs und fand den Re­gent’s-Kanal in eine schwam­mi­ge Mas­se dun­kel­ro­ter Wu­cher­pflan­zen ver­wan­delt.

Plötz­lich, ge­ra­de als ich über die Brücke schritt, hör­te der Ton des »Ulla, ulla, ulla« auf. Es war, als sei er ent­zwei­ge­schnit­ten. Die Stil­le brach her­ein, wie ein Don­ner­schlag.

Die dämm­ri­gen Häu­ser um mich her­um­stan­den un­klar und hoch und ver­schwom­men da; die Bäu­me des Parks hüll­ten sich in Fins­ter­nis. Von al­len Sei­ten kroch das rote Ge­wächs an mich her­an, als woll­te es mich in sei­ne Fän­ge ver­stri­cken. Die Nacht, die Mut­ter der Angst und des Ge­heim­nis­ses, brach über mich her­ein. So lan­ge jene Stim­me noch er­tön­te, wa­ren die Ein­sam­keit, die Ver­las­sen­heit noch er­träg­lich ge­we­sen; so lan­ge sie da war, schi­en Lon­don noch Le­ben zu ent­hal­ten und das Be­wusst­sein des Le­bens um mich hat­te mich auf­recht­er­hal­ten. Und jetzt plötz­lich ein Um­schlag, das Auf­hö­ren von et­was — ich wuss­te nicht was — und dann eine Stil­le, die man ge­ra­de­zu füh­len konn­te. Nichts als die­se un­heim­li­che Stil­le.

Lon­don schi­en nur ein geis­ter­haf­tes We­sen. Die Fens­ter in den wei­ßen Häu­sern sa­hen aus wie die Au­gen­höh­len von To­ten­schä­deln. Um mich her­um fühl­te ich es wie das Re­gen von tau­send ge­räusch­lo­sen Fein­den. Das Ent­set­zen fass­te mich, ein Grau­en vor mei­ner Ver­mes­sen­heit. Vor mir wur­de die Stra­ße pech­schwarz, als sei sie von Teer er­füllt und eine ver­krümm­te Ge­stalt ver­sperr­te mir den Weg. Ich brach­te es nicht über mich, wei­ter­zu­ge­hen. Ich kehr­te wie­der zur St. John’s Wood­stra­ße zu­rück und rann­te wie be­ses­sen vor die­ser un­er­träg­li­chen Stil­le ge­gen Kil­burn. Ich ver­steck­te mich vor der Nacht und der Stil­le, spät erst nach Mit­ter­nacht, in ei­ner Kut­scher­her­ber­ge in der Har­row Road. Aber noch ehe der Mor­gen grau­te, kehr­te mein Mut zu­rück, und wäh­rend die Ster­ne noch am Him­mel stan­den, wand­te ich mich wie­der Re­gent’s Park zu. In dem Stra­ßen­ge­wirr ver­lor ich den rech­ten Weg; bald aber sah ich weit un­ten, am Ende ei­ner lan­gen Stra­ßen­zei­le, im Halb­licht der frü­hen Däm­me­rung die run­den Li­ni­en von Prim­ro­se Hill. Auf sei­ner Spit­ze stand, sich hoch ge­gen die erb­las­sen­den Ster­ne auf­tür­mend, ein drit­ter Mars­mann, auf­recht und re­gungs­los wie die an­de­ren.

Ein wahn­wit­zi­ger Ent­schluss hat­te sich mei­ner be­mäch­tigt. Ich woll­te al­lem ein Ende ma­chen und ster­ben. Und ich woll­te mir selbst die Mühe spa­ren, mich selbst zu tö­ten. Gleich­mü­tig ging ich auf den Ti­ta­nen zu; als ich aber nä­her kam und es im­mer hel­ler wur­de, da sah ich, dass ein Schwarm schwar­zer Vö­gel flat­ternd sei­ne Hau­be um­kreis­te. Bei die­sem An­blick stand mein Herz fast still und ich be­gann, die Stra­ße hin­ab­zu­lau­fen.

Ich ar­bei­te­te mich durch das rote Ge­wächs durch, das St. Ed­mun­d’s Ter­race dicht um­spon­nen hat­te. Brust­hoch wa­te­te ich durch einen Gieß­bach, der von den Was­ser­wer­ken zur Al­bert Road hin­rausch­te. Noch vor Son­nen­auf­gang er­reich­te ich den Gras­p­latz. Auf dem Kamm des Hü­gels wa­ren große Erd­hau­fen auf­ge­wor­fen, die aus ihm eine mäch­ti­ge Schan­ze mach­ten; es war das letz­te und größ­te Kriegs­la­ger, das die Mars­leu­te auf­ge­schla­gen hat­ten. Hin­ter die­sen Erd­hau­fen stieg ein dün­ner Rauch zum Him­mel auf. In wei­ter Fer­ne sah ich einen gie­ri­gen Hund lau­fen und ver­schwin­den. Der Ge­dan­ke, der mir durch den Kopf zuck­te, wur­de Wirk­lich­keit, wur­de glaub­haft. Ich emp­fand kei­ne Angst, nur ein wil­des, zit­tern­des Ju­bel­ge­fühl, als ich den Hü­gel auf­wärts auf das re­gungs­lo­se Un­ge­tüm zu­stürm­te. Aus sei­ner Hau­be hin­gen dün­ne, brau­ne Lap­pen her­ab, an de­nen die hung­ri­gen Vö­gel pick­ten und zerr­ten.

Im nächs­ten Au­gen­blick hat­te ich die Erd­schan­ze er­klet­tert und stand auf dem Kamm des Hü­gels, das In­ne­re des La­gers tief un­ter mir. Es war ein mäch­ti­ger Raum, da und dort stan­den rie­si­ge Ma­schi­nen, un­ge­heu­re La­ger von Werk­zeu­gen und selt­sa­me Schutz­vor­rich­tun­gen. Und über­all zer­streut, ei­ni­ge in den um­ge­stürz­ten Kriegs­ma­schi­nen, ei­ni­ge in den jetzt ru­hi­gen He­be­ma­schi­nen, und ein Dut­zend steif und still, in ei­ner Rei­he hin­ge­streckt, la­gen die Mars­leu­te — tot — er­würgt von den fäul­nis- und krank­heits­er­re­gen­den Bak­te­ri­en, ge­gen die ihre kör­per­li­che Be­schaf­fen­heit wi­der­stands­los war; er­würgt, wie das rote Ge­wächs er­würgt wor­den war; er­würgt, nach­dem alle An­schlä­ge der Men­schen fehl­ge­schla­gen hat­ten, von den nied­rigs­ten We­sen, die Gott in sei­ner Weis­heit ins Le­ben ge­ru­fen hat.

Und so war ge­kom­men, was ich und vie­le an­de­re Leu­te hät­ten vor­her­se­hen kön­nen, hät­ten nicht Schre­cken und Un­glück un­se­ren Ver­stand ver­blen­det. Die­se Krank­heits­kei­me ha­ben seit An­be­ginn der Din­ge ih­ren Zoll von der Mensch­heit ge­for­dert — schon von un­se­ren vor­mensch­li­chen Ah­nen, seit­dem Le­ben auf un­se­rem Stern be­stand. Aber durch die Fä­hig­keit der na­tür­li­chen Zucht­wahl un­se­rer Gat­tung ha­ben wir die Wi­der­stands­kraft ge­gen sie ent­wi­ckelt; wir un­ter­lie­gen kei­nem die­ser Kei­me ohne Kampf, und ge­gen vie­le — z.B. jene, wel­che in to­ten Kör­pern Fäul­nis her­vor­ru­fen — sind un­se­re Lei­ber über­haupt ge­feit. Aber auf dem Mars gibt es kei­ne Bat­te­ri­en, und von dem Au­gen­blick an, als jene Ein­dring­lin­ge auf der Erde an­lang­ten, als sie aßen und tran­ken, mach­ten un­se­re mi­kro­sko­pi­schen Ver­bün­de­ten sich ans Werk, sie zu ver­nich­ten. Schon da­mals, als ich sie be­ob­ach­te­te, wa­ren sie un­wi­der­ruf­lich dem Tode ver­fal­len, star­ben und siech­ten sie hin, wäh­rend sie noch hin- und her­gin­gen. Es war un­ver­meid­lich. Durch das Op­fer Mil­lio­nen To­ter hat der Mensch sich sein Erst­ge­burts­recht auf der Erde er­kauft, und trotz al­ler frem­den Ein­dring­lin­ge ist sie sein, sie ist sein, und wä­ren die Mars­leu­te auch zehn­mal so mäch­tig als sie sind. Denn die Men­schen le­ben we­der, noch ster­ben sie ver­geb­lich.

Hier und dort ver­streut la­gen sie da, fast fünf­zig Mars­leu­te zu­sam­men in der großen Schlucht, die sie sich ge­gra­ben hat­ten, über­wäl­tigt von ei­nem Tod, der ih­nen so un­fass­bar ge­kom­men sein muss, wie es ein Tod nur sein kann. Auch mir schi­en die­ser Tod da­mals noch un­fass­bar. Al­les, was ich wuss­te, war, dass die­se We­sen, die le­bend ein sol­cher Schre­cken für die Mensch­heit wa­ren, nun tot wa­ren. Ei­nen Au­gen­blick lang glaub­te ich, dass das Ge­richt des Sen­nach­e­rib1 sich wie­der­holt hät­te, dass Gott be­reut und sei­nen To­de­sen­gel aus­ge­sandt hät­te, der sie in der Nacht er­schlug.

Ich stand da und starr­te in die Gru­be, und mein Herz emp­fand eine be­se­li­gen­de Er­leich­te­rung, ge­ra­de als die auf­ge­hen­de Son­ne mit ih­ren Strah­len die Welt um mich in Glanz tauch­te. In der Gru­be herrsch­te noch Fins­ter­nis, die rie­si­gen Ma­schi­nen, so groß und wun­der­bar in ih­rer Kraft und Vollen­dung, so un­ir­disch in ih­ren ge­wun­de­nen For­men, rag­ten un­heim­lich und ver­schwom­men und aben­teu­er­lich aus dem Schat­ten in das Licht auf. Ein Ru­del Hun­de hör­te ich tief un­ter mir um die Lei­chen sich bal­gen, die dun­kel in der Tie­fe der Gru­be la­gen. Jen­seits der Gru­be an ih­rem ferns­ten Rand lag, flach und rie­sen­haft und selt­sam, die große Zug­ma­schi­ne, mit der die Mars­leu­te in un­se­ren dich­teren Luft­schich­ten Ver­su­che an­ge­stellt hat­ten, als Ver­fall und Tod ih­nen Ein­halt ge­bo­ten. Der Tod war nicht einen Tag zu früh ge­kom­men. Ein Kräch­zen über mir ließ mich nach oben bli­cken auf die un­ge­heu­re Kriegs­ma­schi­ne, die nun nie­mals wie­der kämp­fen wür­de, auf die zer­fetz­ten ro­ten Fleischlap­pen, die auf die um­ge­stürz­ten Bän­ke auf der Spit­ze von Prim­ro­se Hill nie­der­tropf­ten.

Ich wand­te mich um und sah den ab­schüs­si­gen Hü­gel hin­ab, wo, von ei­nem Kranz Vö­gel ein­gehüllt, jene an­de­ren bei­den Mars­leu­te stan­den, die ich in der vo­ri­gen Nacht ge­se­hen hat­te, ge­ra­de als der Tod sie er­eil­te. Der eine war ver­en­det, als er eben nach sei­nen Ge­fähr­ten ge­schri­en hat­te; viel­leicht war er der letz­te Tote ge­we­sen, und hat­te sei­ne Stim­me un­auf­hör­lich er­schal­len las­sen, bis die Kraft sei­nes Le­bens er­schöpft war. Die Ma­schi­nen schim­mer­ten nun, harm­lo­se, drei­fü­ßi­ge Tür­me leuch­ten­den Me­talls, im Glanz der auf­stei­gen­den Son­ne.

Und rings um die Gru­be her­um und wie durch ein Wun­der vor ewi­ger Zer­stö­rung ge­ret­tet, brei­te­te sich die große Mut­ter der Städ­te aus. Jene, wel­che Lon­don nur in die düs­te­ren Schlei­er des Rau­ches gehüllt ge­se­hen ha­ben, ver­mö­gen sich die nack­te Klar­heit und Schön­heit der schwei­gen­den Wild­nis sei­ner Häu­ser kaum vor­zu­stel­len.

Ost­wärts, jen­seits der rauch­ge­schwärz­ten Trüm­mer von Al­bert Ter­race und des zer­split­ter­ten Kirch­turms, strahl­te die blen­den­de Son­ne auf dem wol­ken­lo­sen Him­mel; und hie und da fing eine glit­zern­de Flä­che in dem großen Ge­wirr von Dä­chern das Licht auf und glüh­te in schim­mern­dem Weiß. Das Licht be­rühr­te selbst die run­den We­in­spei­cher bei Chalk Farm Sta­ti­on2 und die weit­ge­dehn­ten Höfe des Bahn­ge­bäu­des, die sonst durch die zahl­lo­sen Strän­ge schwar­zer Schie­nen kennt­lich wa­ren, heu­te aber im schnel­len Ros­ten ei­ner vier­zehn­tä­gi­gen Fei­er, fast in ei­ner Art ge­heim­nis­vol­ler Schön­heit rot er­glänz­ten.

Nord­wärts la­gen Kil­burn und Hamps­tead, blau und mäch­tig in ih­rem Ge­drän­ge von Häu­sern; west­wärts lag die große Stadt im Ne­bel; aber süd­wärts, jen­seits der Mars­leu­te, tra­ten die grü­nen Wel­len des Re­gent Parks, das Lang­ham Ho­tel, der Turm der Al­bert Hall, das Reichs­in­sti­tut und die rie­si­gen Zins­häu­ser der Bromp­ton Road, klar und win­zig im Lich­te des Son­nen­auf­gangs her­aus, und die za­cki­gen Trüm­mer von West­mins­ter rag­ten ne­bel­haft im Hin­ter­grund auf. In wei­ter Fer­ne sah ich die blau­en Hü­gel von Sur­rey, und die Tür­me von Cry­stal Palace schim­mer­ten wie zwei Sil­ber­stä­be. Die Kup­pel von St. Paul’s hob sich düs­ter vom Glanz der aus­ge­hen­den Son­ne ab, und war, wie ich jetzt erst sah, durch eine große klaf­fen­de Spal­tung an der West­sei­te be­schä­digt.

Und als ich auf die­se stil­le und ver­las­se­ne Flä­che von Häu­sern, Fa­bri­ken und Kir­chen blick­te — als ich an die un­end­li­chen Hoff­nun­gen und Mü­hen, die zahl­lo­sen Scha­ren von Men­schen­le­ben dach­te, die der Bau die­ses Rie­sen­wer­kes ge­kos­tet hat­te, und an die pfeil­schnel­le und rohe Zer­stö­rung, die wie ein Ge­wit­ter über all dem ge­han­gen hat­te — als ich nun die Ge­wiss­heit hat­te, dass die schwe­ren Wol­ken­schat­ten wie­der ge­wi­chen wa­ren, und dass die Men­schen wie­der in die­sen Stra­ßen le­ben konn­ten und die­se mei­ne teu­re, rie­si­ge, tote Stadt wie­der zum Le­ben und zur Macht zu­rück­keh­ren wür­de — da wog­te ein Strom von Emp­fin­dun­gen durch mei­ne See­le, der mich fast dem Wei­nen na­he­brach­te.

Die Qual war vor­über. Heu­te noch soll­te die Hei­lung be­gin­nen. Die über das gan­ze Land zer­sto­be­nen Über­le­ben­den — die füh­rer­los, recht­los, ohne Nah­rung wie Scha­fe ohne ih­ren Hir­ten um­her­irr­ten — die tau­sen­de, die zu Schiff ent­flo­hen wa­ren — alle soll­ten nun zu­rück­keh­ren. Der Puls des Le­bens soll­te, im­mer stär­ker und stär­ker an­schwel­lend, nun wie­der in den lee­ren Gas­sen schla­gen und sich über die ver­las­se­nen Plät­ze er­gie­ßen. Was die Ver­wüs­tung auch be­trof­fen hat­te, die Hand des Ver­wüs­ters war ver­dorrt. Die Hand des Ver­wüs­ters war ver­dorrt! Alle die­se elen­den Trüm­mer, die­se schwar­zen Ge­rip­pe von Häu­sern, die so un­heim­lich auf das son­nen­be­glänz­te Gras des Hü­gels starr­ten, sie wür­den bald wi­der­hal­len von den Häm­mern der Wie­de­rer­bau­er, und fröh­lich er­klin­gen un­ter dem Klop­fen der Kel­len. Bei die­sem Ge­dan­ken brei­te­te ich mei­ne Hän­de zum Him­mel aus. In ei­nem Jahr, dach­te ich — in ei­nem Jahr…

Und dann kam mit über­wäl­ti­gen­der Kraft der Ge­dan­ke an mich selbst, an mein Weib, und an das alte Le­ben voll Hoff­nung und zar­ter Hil­fe, das für im­mer ge­schwun­den war.

1 Sin-ahhe-eri­ba war als Sohn Sar­g­ons II. von 705 bis 680 v. Chr. as­sy­ri­scher Kö­nig <<<

2 Bahn­hof ei­nes Vier­tels in Lon­don <<<