Loe raamatut: «Der Versteckspieler», lehekülg 3

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Aber im selben Brief, fast zum Schluss, stehen plötzlich zwei Sätze, die aufhorchen lassen. Über den drei Jahre jüngeren Justus Ebhardt, Sohn des Justizrats, in dessen Haus er wohnt, schreibt er: Justus hat seine Karriere, in die er ursprünglich einzutreten gedachte, geändert. Er will jetzt Seemann werden.

Einer ist ausgebrochen aus Norm und Konvention, ist abgewichen vom vorbestimmten Lebensweg. Wilhelm erwähnt es gegenüber den Eltern. Kein Wort der Kritik an Justus, in das der Vater sogleich einfallen könnte. Dafür so altklug und falsch klingende Sätze über das, was sein eigener »künftiger Lebenszweck erheischt«. Das passt nicht zusammen. Auch für Wilhelm ist der Gedanke an ein nicht angepasstes Leben längst eine Verlockung. Aber noch hält er ihn nieder.

Wilhelms erzwungener Eifer ist nicht ohne Erfolg. In der reinen Mathematik schwang ich mich bis zu Eins mit Auszeichnung empor, aber in der angewandten bewegt’ ich mich mit immer matterem Flügelschlage. Wichtig ist ihm der Zeichenunterricht. »Erste Klasse«, benotet Zeichenlehrer Heinrich Schulz seine Leistung auf diesem Gebiet. Aber auch in den Fächern, die mit Zeichnen nichts zu tun haben, zeichnet er. Seine Kolleghefte sind voll mit skizzenhaften Darstellungen seiner Lehrer und Mitschüler. Sowohl Zeichnungen nach der Natur als auch Karikaturen. Dann kommt das Jahr 1848. Der Versuch einer bürgerlichen Revolution in Deutschland. In den Staaten des Deutschen Bundes kommt es zu Unruhen. Die Forderungen nach Freiheiten, ähnlich denen der Französischen Revolution, und nach nationaler Einheit werden überall lauter und dringlicher. Im März kommt es in Berlin zu blutigen Barrikadenkämpfen. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. verspricht, sich an die Spitze des »Gesamtvaterlandes« zu stellen, und lässt doch auf die Aufständischen schießen. Im Mai tritt das erste rechtskräftig gewählte deutsche Nationalparlament in der Frankfurter Paulskirche zusammen.

In dieser politisch bewegten Zeit wird der gerade vom Dorf in die Stadt gewechselte 16-jährige Wilhelm Busch wie alle Schüler der Polytechnischen Schule zur Verstärkung von Militär und Polizei als Hüter von Recht und Ordnung eingesetzt.

Aus langem zeitlichem Abstand, im Jahr 1906, schreibt er über seine Erfahrungen mit der Revolution:

Das Jahr 48 machte bedenklichen Lärm. Um den Wall die Ketten verschwanden. Ans uns Polytechnikern wurden Kompanien gebildet unter Führung der Lehrer. Den Stock in der Hand, eine weiße Binde um den Arm, zogen wir durch die Straßen und riefen den Frauen »Guten Abend, Bürgerim zu. Nur waren wir als Schergen der Ordnung beim »Volke« recht unbeliebt. Aus den Haustüren im Rösehof gossen unsichtbare Hände uns Schmutzwasser an die Beine. Bald kriegten wir Waffen; alte Steinschloßflinten, die Ohrfeigen austeilten und Gesichter schwärzten, wenn wir draußen an der Schwedenschanze exerzierten.


Wilhelm Busch 1848

Unsere Uniform war bloß kurz angedeutet durch eine Mütze mit schwarzrotgoldenem Streif drum herum. Das dreikantige Bajonett, im Bandelier zu tragen, diente als furchtbares Seitengewehr. Meine Kompanie hatte die Ehre, als erste die Hauptwache am Markt abzulösen. Freundlich grinsend standen uns die Soldaten gegenüber. Sie hinterließen uns munter belebte Matratzen zur behaglichen Ruhestatt.

Daß man uns keine scharfen Patronen anvertraute, war ärgerlich. Einstmals, während der Nacht, hatten wir an der Ecke der Ballhof- und der Knochenhauerstraße eine leichte Barrikade zu nehmen. Oben aus der Herberge flogen Backsteine herunter, unten bewarf uns von weitem die verwegene Menge. Vergebens verfolgten wir sie. Schießen konnten wir nicht. Da sprang ein langer Kollege, der die Geduld verlor, voran und prickte einem Kerl das Bajonett durch die Hose, daß er bölkte wie ein Ochse. Im Lindener Spital hat man ihn wieder kuriert. Und dies, soviel mir bekannt, ist unsererseits die einzige grausige Bluttat während der ganzen Revolution.

Übrigens gab es unruhige Geister auch in unserer eigenen Mitte. Sie brachten dem Direktor Karmarsch, ich weiß nicht warum, eine Katzenmusik. Für die Radaumacher schloß man die Schule. Für uns anderen, die brav gewesen, ging der Unterricht weiter.

Was für andere am Anfang mit großen Hoffnungen und am Ende mit bitterer Enttäuschung verbunden ist, beschreibt Wilhelm Busch als Groteske. Mag sein, dass ihm im Augenblick des Erlebens anders zumute war als im Rückblick nach so vielen Jahren. Davon aber verrät er nichts.

Im Grunde ist er unpolitisch. Die Zusammenhänge im Großen durchschaut er nicht. Die Revolution ist ihm eine Posse aus Krähwinkel. Ein Engagement, für welche Seite auch immer, ist ihm zuwider. Der Hang zur Grübelei in die Tiefe verbietet ihm, sich anderen Menschen anzuvertrauen. Wieder sieht er auch hier zuerst das Bizarre, Komische, Lachhafte. Salopp bezeichnet er das Rauchen und Biertrinken als zwei Märzerrungenschaften.

Sosehr sich eine solche Haltung im Augenblick auch absondert von den Strömungen der Zeit, sosehr wird gerade sie am Ende Gefallen finden bei vielen. Sie wird zur Zuflucht und zum Trost für alle vom Leben Gebeutelten, und wer wollte sich nicht dazuzählen? Später wird diese Haltung zur Grundstimme seiner Bildergeschichten und ist eine Erklärung für ihren großen Erfolg. Seht her, wird man sagen können, wir haben es doch schon immer gewusst, so ist das Leben, hier ist es wahrhaftig aufgezeichnet und treffend beschrieben. Und das Beste, was uns bleibt, ist, wenigstens einmal kräftig darüber zu lachen.

Dass solche Geschichten nur entstehen konnten, weil dem Erfinder vorher so viel von der menschlichen Wärme versagt geblieben ist, auf die er gehofft hat, dass sie entstehen konnten, weil seine nach innen gerichtete Lebendigkeit durch das Nadelöhr der äußeren Absonderung gegangen ist, das wird am Ende kaum jemand wahrnehmen wollen. Im Kern entspringt der Busch’sche Witz dem Alleingelassenwerden und dem Unvermögen, sich zu entscheiden. Weil es vielen so ging und geht, war und ist er so erfolgreich.

Vorerst aber müht sich Wilhelm Busch mit wachsendem Unmut, sich scheinbar dem anzupassen, was man von ihm erwartet. Auch verschwendet er noch längst keinen Gedanken an Bildergeschichten. Er hat ein ganz anderes geheimes Ziel, das er beharrlich verfolgt.

Mit ihm »brav«, aber unzufrieden mit der Maschinenbauerzukunft sind Carl Bornemann aus Alfeld und August Klemme aus Hannover. Alle drei haben sie Bilder im Kopf, die in die technischen Planquadrate nicht passen, die keine Maschinen ergeben. Sie freunden sich an.

Wilhelm hat sich merklich verändert. Aus dem ängstlich-braven Kind aus Wiedensahl ist nun einer geworden, der sich schon mal wagt, im dunklen Wald auch laut zu singen. Nicht nur das Rauchen und das Biertrinken hat er gelernt. Wenn er sich unbeobachtet fühlt und niemand ihn kennt, probiert er jetzt auch schon mal das öffentliche Lautsein. Im Herbst 1850 hat ihn jemand in der westfälischen Kleinstadt Bünde beobachtet:

»Zufälligerweise kam an diesem Tage ein junger Bursch aus Wiedensahl an, der Polytechniker in Hannover ist. Das war ein seltsamer Passagier. Seine Physiognomie war ganz eigentümlich. Er schien sich fortwährend über die ganze Welt lustig zu machen, und seine Fratzen haben uns oft köstlich amüsiert. Dabei war er ein höchst gescheiter, geistreicher Kopf, in allen Fächern zu Hause und jeden Augenblick mit den schlagendsten Einfällen bei der Hand. Ein Komiker war an ihm verdorben, denn er verstand alles ins Lächerliche zu ziehen …«

Ein Studienkamerad begleitet ihn. Von Bünde aus wandern sie nach Ebergötzen. Da will Wilhelm beim Schützenfest dabei sein. Er ist jetzt so alt wie Hannchen Lovis damals. Voriges Jahr hat er ihr ein Albumblatt zukommen lassen mit einem Spruch von Jean Paul:

… Nicht das bunte Ufer fliehet vorüber, sondern der Mensch und sein Strom; ewig blühen die Jahreszeiten des Lebens am Gestade hinauf und hinab, nur der Mensch fliehet einmal vorüber und kehret nicht wiederum.

In diesem Jahr, Wilhelm erfährt es in Ebergötzen, wird Hannchen den Herrn Adalbert Isermann heiraten.

Enttäuschung und Rückzug nach innen.

Hannchen war viel älter als er. Schon die Kinderfreundschaft zu Christine in Wiedensahl war für den Kaufmannssohn aus Gründen des sozialen Unterschieds fern jeder Verwirklichung. So etwas läuft immer nur in seinem Kopf ab, es bleibt bei schönen Träumereien.

In seiner Beziehung zu Mädchen und Frauen zeigt sich schon hier ein seltsames Muster, dem er bis auf eine einzige Ausnahme sein Leben lang verhaftet bleibt: Der junge Wilhelm Busch sucht die Beziehung zu älteren Frauen oder solchen, die schon in festen Beziehungen leben, der alte Wilhelm Busch wird sich besonders zu den jungen, lebensfreudigen Mädchen hingezogen fühlen. Immer bleiben Berührung und Nähe hinter einer unüberwindlichen Mauer im Reich des Wünschens und Wollens.

Dieser Stau der Gefühle lässt ihn im wirklichen Leben oft täppisch und unangemessen erscheinen. In seinen Bildergeschichten dagegen beflügelt er die Phantasie. Der Augenblick der schönen Illusion, das Gefühl, über den Dingen zu stehen: Man kann ihm umso mehr nachgeben, je ungebundener man ist. Er wird nie heiraten, er wird sich nie einer Idee verschreiben.

Im wirklichen Leben aber muss auch Wilhelm Busch seine Enttäuschung verwinden. Er wandert. Zu Fuß legt er Entfernungen zurück, die sich heute kaum jemand zumuten würde. Zusammen mit dem Studienfreund und mit Erich Bachmann geht es von Ebergötzen aus durch den Harz. Von dort nach Hannover. Und von Hannover mit Erich nach Wiedensahl.

Zum ersten Mal bringt Wilhelm jemanden mit in sein Elternhaus. Seinen ersten und gleichzeitig besten Freund. Das macht ihn stärker, nicht zuletzt gegen den Vater.

Kaum wieder in Hannover, wagt er den ersten Schritt seiner Privatrevolte. Er verlässt das Haus der Aufsicht führenden Verwandten und zieht in die Studentenbude zu seinem Studienfreund Carl Bornemann. Denn wer sich im Rauchen und Biertrinken übt, will einen eigenen Hausschlüssel haben.

Die Studentenromantik in Hannover währt nicht lange. Große Veränderungen sind in die Wege geleitet. In Wiedensahl hat er kein Wort gesagt.

August Klemme ist im Herbst 1850 in die »Stadt des Malkastens«, nach Düsseldorf gegangen, um an der dortigen Kunstakademie das Malen zu studieren. Carl Bornemann und Wilhelm Busch warten gespannt auf Nachricht von ihm.

Öfter als in Wiedensahl ist Wilhelm von Hannover aus in Lüthorst. Mit dem Onkel kann er reden. Mag sein, dass dieser ihn in seinem Eigenwillen bestärkt hat.

Am 9. März 1851 geschieht dann der große Ausbruch: Gegen den Willen seines Vaters verlässt Wilhelm Busch zusammen mit Carl Bornemann ohne Abschluss die Polytechnische Schule in Hannover, »um in Düsseldorf Maler zu werden«.

Adriaen Brouwer (1606-1618). Karten spielende Bauern in einer Schenke

In dieser kunstberühmten Stadt sah ich zum ersten Male die Werke alter Meister: Rubens, Brouwer; Teniers, Frans Hals. Ihre göttliche Leichtigkeit der Darstellung malerischer Einfälle, verbunden mit stofflich juwelenhaftem Reiz; diese Unbefangenheit eines guten Gewissens, welche nichts zu vertuschen braucht; diese Farbenmusik, worin man alle Stimmen klar durchhört, vom Grundbaß herauf haben für immer meine Liebe und Bewunderung gewonnen; und gern verzeih’ ich’s ihnen, daß sie mich zu sehr geduckt haben, als daß ich’s je recht gewagt hätte, mein Brot mit Malen zu verdienen wie manch anderer auch. Die Versuche freilich sind nicht ausgeblieben; denn geschafft muß werden, und selbst der Taschendieb geht täglich auf Arbeit aus …

Wilhelm Busch, Von mir über mich

III
Der Versager

Rote Kreise drehen sich, flimmern, lösen sich auf in warme Feuchtigkeit, bilden sich als Wellen neu, durchlaufen seinen Körper von unten nach oben, lassen ihn frösteln und treiben ihm Schweißperlen über die Stirn.

Die Sonne kann es nicht sein. Die Sonne hat sich kaum blicken lassen in diesen Tagen. Es ist Ende März 1853, der Himmel über Antwerpen ist verhangen, er sieht immer denselben Ausschnitt aus dem Fensterkreuz, milchgrau und unbewegt, selten mit ein, zwei Vogelpunkten, die sich schnell seinem Blickfeld entziehen. Stillstand seit Tagen. Er ist gefangen wie ein Vogel im Käfig. Das schneeweiße Federbett, die kleine Kammer, die Waschkommode, rissige Dielenbretter, die Petroleumlampe auf dem Nachttisch, der muffige Geruch, und der Blick wandert an den Deckenbalken entlang, immer dieselben Linien hin und her.

Heute Nacht, mitten in einem seiner Fieberträume, ist ihm auf einmal sein früher Tod nur logisch und konsequent erschienen. Die Hoffnungen, mit denen er nach Düsseldorf gegangen ist, liegen weit zurück. Er ist ein Versager. Den Anforderungen des Lebens nicht gewachsen. Nichts bringt er zu Ende.

Leichtfertig hat er hingeworfen, wofür sie ihn bestimmt hatten. Hochmütig ist er seinen eigenen Wünschen gefolgt. Seinen eigenen Wünschen? Zweimal ist er dem August Klemme hinterher, erst nach Düsseldorf, dann nach Antwerpen. Maler wollte er werden. War das nicht noch anmaßender als Justus Ebhardts Seemannsträume? Auch Justus war in Antwerpen gelandet. Der Maler und der Seemann. Vereint als Strandgut hochfahrender Hoffnungen. Was hat er bloß gedacht? Hat er geglaubt, sie haben hier auf ihn gewartet, hier draußen in der großen Welt? Auf ihn, auf Wilhelm Busch, den Dorfjungen aus Wiedensahl?

Fast in jeder Nacht kommen sie wieder und verhöhnen ihn, die Spukgestalten, die edelschmächtigen weißen Gipsfiguren aus dem Antikensaal in Düsseldorf, wollen, dass er immer wieder und immer wieder von vorn ihre Rundungen und jenseitigen Blicke aufs Papier bringt. Ein Flüstern und Kichern erhebt sich. Hermes, der Götterbote, wirft sein weites Gewand über die Schulter, die klassisch schönen Gesichter verziehen sich zu gemeinem Grinsen, unzählige Arme strecken sich aus, unzählige Finger zeigen auf ihn. Wilhelms Zeichenstift fegt mit irrwitziger Geschwindigkeit übers Papier, als könne er den Aufstand der idealistischen Gipsköpfe nur durch rasendes Nachzeichnen bannen. Sie jagen ihn kreuz und quer durch den Saal und Wilhelm zeichnet wie besessen.

Unter die antiken Modelle haben sich jetzt auch Carl Friedrich Sohn, der Lehrer der Vorbereitungsklasse, und Wilhelm von Schadow, der Akademiedirektor, gemischt. »Kopieren, kopieren und nochmals kopieren!«, schreit Carl Friedrich Sohn, und von Wilhelm von Schadow, der im Nebel verschwindet, hallt es herüber: »Heilig! Klassisch! Historisch!« Sie jagen ihn bis auf die Straße hinaus, und ihr Johlen unterscheidet sich jetzt durch nichts mehr von dem der Hütekinder in Wiedensahl oder der Dorfjugend bei der Kirmesrauferei in Ebergötzen. Aber die Straße ist nun nicht mehr die Straße in Düsseldorf, der Lärm nähert sich dem Haus Pont au fromage Nr. 320 in Antwerpen, und Wilhelm hält sich die Ohren zu, er will das Spottgelächter nicht hören, aber sein Wehren ist zwecklos, der Lärm kommt von innen.

Irgendwo im Haus poltert es. Das Geräusch kommt näher. Die Tür geht auf. Im Schein der Kerze huschen zwei Gestalten in sein Zimmer. Er erkennt sie und seufzt erleichtert. Es sind seine Wirtsleute Jan und Mie Timmermans, sorgenvolle, gütige Menschen. Er, hager, mit Nachtmütze und Schlappen, sie, mollig, zwanzig Jahre älter als ihr Mann, im Nachthemd mit Spitzenkragen. Gemeinsam betreiben sie das Barbiergeschäft an der Käsbrücke, Sammelstelle für alltägliche Freuden und Sorgen.

»Herr Wilhelm, Herr Wilhelm«, beginnt Mie in ihrer herben flämischen Sprache, von der Wilhelm immer nur Wörter erraten kann, die dem Plattdeutschen ähnlich sind, aber nie alles versteht. Sie stellt die Kerze auf den Nachttisch, lüftet das dumpfe Federbett, macht ihm neue Wadenwickel und wischt ihm den Schweiß von der Stirn.

Gestern haben sie einen richtigen Arzt ins Haus geholt. Die eigenen Bartscherer-Mittel schienen ihnen nicht mehr zu reichen. Der spitzbärtige Mann hat ihn abgehorcht, beklopft und befühlt und am Ende bedächtig genickt, als habe sich seine schlimmste Befürchtung bestätigt. Wilhelm hat das Erschrecken von den Gesichtern seiner Wirtsleute gelesen. Typhus.

Von dieser Krankheit stehen viele nicht wieder auf. Noch ist er nicht einmal 21 Jahre alt. War das denn schon alles? Als er am Morgen aufwacht, sitzt Mie neben seinem Bett, schon wieder oder immer noch, er weiß es nicht. Manchmal werden die Feuerräder vor seinen Augen kleiner und manchmal verschwinden sie ganz. Dann blinzelt er zu ihr hinüber und findet ihre lächelnd gütigen Augen. Ach Mie, denkt er. Wie gut ist es, die Nähe eines Menschen zu spüren. Es braucht keine Worte. Es braucht überhaupt keine Worte.

Alles wirklich Wichtige ist mit Worten ohnehin nicht zu sagen. Was er sagen wollte, wollte er in Bildern sagen. In der »Muttersprache der Kunst«. Bilder, die er in sich geahnt hat, denen er nachspüren wollte sein Leben lang. Und nun hat er sie gesehen, mit eigenen Augen gesehen. Das, liebe, verständige Mie, das ist das Schönste und Schrecklichste zugleich, was deine Stadt, was Antwerpen für mich bereitgehalten hat: die Bilder. Zwei-, fast dreihundert Jahre sind sie alt. Peter Paul Rubens hat sie gemalt, Adriaen Brouwer, David Teniers und der unvergleichliche Frans Hals.

Alles, was er sagen wollte, ist mit diesen Bildern gesagt. So wie er es nie fertig bringen wird. Stümperei und Geschmier alles im Vergleich zu den großen Niederländern. Und kein akademisches Malenlernen wird ihn je dahin bringen, den alten Meistern auch nur das Wasser zu reichen.

Ach Mie, denkt er, wie gut ist es, zusammen schweigen zu können.

Sammelbilder
1851-1865

Jan und Mie waren ein zärtliches Pärchen, doch kinderlos, sie dick, er dünn; sie halbierten mich abwechselnd, verpflegten mich während einer Krankheit und schenkten mir beim Abschied in kühler Jahreszeit eine warme rote Jacke und drei Orangen.

Die Rückkehr von Antwerpen nach Wiedensahl ist seine erste Flucht vor der großen in die kleine Welt. Wie schmachvoll auch immer, er vollzieht sie. Das Leben geht weiter.

Erst einmal gilt es, sich ganz von der Krankheit zu erholen. Das umgebaute Elternhaus hat nun auch Platz für ihn, und der Vater, will er nicht hartherzig erscheinen, muss den verlorenen Sohn wieder aufnehmen. Aber seinen Wünschen entspricht es nicht, dass sein Ältester nun scheinbar untätig zu Hause herumlungert, nichts Brotbringendes tut oder anstrebt und nur Flausen im Kopf hat. Im Plänemachen, ja, da ist er groß, aber da wird doch nie was draus. Schon im Dezember hat er seine Rückkehr aus Antwerpen angekündigt, mit großen Worten, versteht sich:

… Ich denke jetzt zu dem Punkte gekommen zu sein, wo ich meine Vorstudien so ziemlich beendet nennen kann. In Kurzem hoffe ich deshalb wieder bei Euch zu sein und dann verschiedene Studien nach der Natur zu malen und darauf ein Bild anzufangen …

Das soll glauben, wer will.

Friedrich Wilhelm Busch bleibt skeptisch. Und in der nun folgenden Zeit hat er allen Grund, sich bestätigt zu fühlen. Von dem großen Bild ist nichts zu sehen. Stattdessen fängt Wilhelm auf einmal an, Märchen zu sammeln.

Was damals die Leute ut oler Welt erzählten, klang mir sonderbar im Ohr. Ich horchte genauer und sucht’ es mir fleißig zu merken … Von Märchen wußte das meiste ein alter, stiller, für gewöhnlich wortkarger Mann. Einsam saß er abends im Dunkeln. Klopft’ ich ans Fenster, so steckte er freudig den Trankrüsel an. In der Ofenecke steht sein Sorgensitz. Rechts von der Wand langt er sich die sinnreich senkrecht im Kattunbeutel hängende Pfeife, links vom Ofen den Topf voll heimischen Tabaks, und nachdem er gestopft, gesogen und Dampf gemacht, fängt er seine vom Mütterlein ererbten Geschichten an. Er erzählt gemächlich; wird’s aber dramatisch, so steht er auf und wechselt den Platz, je nach den redenden Personen, wobei denn auch die Zipfelmütze, die sonst nur leis nach vorne nickte, in mannigfachen Schwung gerät.

Für Spukgeschichten dagegen von bösen Toten, die wiederkommen zum Verdrusse der Lebendigen, war der Schäfer Autorität. Wenn er abends erzählte, lag er quer über dem Bett, und wenn’s ihm trocken und öd wurde im Mund, sprang er auf und ging vor den Tischkasten und biß ein neues Endchen Kautabak ab zur Erfrischung. Sein Frauchen saß daneben und spann …

41 Märchen kommen zusammen, 52 Sagen, dazu noch Volkslieder und Reime. Bluttriefende Geschichten zum Teil, zum Teil Eulenspiegeleien, in denen Bauernschläue siegt und heuchlerische Pfaffen das Nachsehen haben. Auf den vergeblichen Griff nach den Sternen folgt der Versuch, wieder Nähe zu gewinnen, Boden unter den Füßen zu spüren. Viele der Märchen und Sagen sind im vertrauten Plattdeutsch erzählt. Aber wer will davon schon etwas wissen im Zeitalter der Eisenbahn und der Fabriken, und für die Märchen gibt es die Brüder Grimm.

Im Herbst 1853 ist er für längere Zeit beim Onkel Kleine in Lüthorst und lässt sich ernsthaft vom wundersamen Leben des Bienenvolkes fesseln. Vorübergehend hängt er dem Gedanken nach, als Bienenzüchter nach Brasilien auszuwandern. Doch dann spinnt er sich wieder ein in die kleine, sich selbst genügende ländliche Welt, versucht, seine Unruhe zu unterdrücken.

Er malt und zeichnet in Wiedensahl, Lüthorst und bei Verwandten in Hameln, füllt sein in Antwerpen gekauftes Skizzenbuch mit Porträts von Bruder Gustav, mit Blüten, Bäumen, Bauernhäusern, Marktfrauen, Kindern, Katzen, Landschaften und Interieurs. Die Bilder malt er so klein, als wolle er sie von vornherein verstecken. Was »Ordentliches« im Sinn seines Vaters bringt er nicht zustande, das angekündigte Bild lässt auf sich warten, aber im Verborgenen probiert er unentwegt weiter, ganz für sich, und zeigen will er es keinem.

Eineinhalb Jahre lebt er ohne Perspektive im Hin und Her zwischen Bildern, Bienen und Märchen und vertieft sich, angeregt durch des Onkels aufklärerisches Engagement, in Grübeleien auf hohem Niveau: Auch mich zog es unwiderstehlich abseits in das Reich der Naturwissenschaften. Ich las Darwin, ich las Schopenhauer damals mit Leidenschaft …

Hier irrt er sich in seiner Erinnerung. Die Bücher des englischen Naturforschers Charles Darwin kann er erst später gelesen haben. Die Entstehung der Arten ist 1859 erschienen, Die Abstammung des Menschen erst 1871. Mit seinen Schriften hat Darwin den Blick geöffnet auf die Entwicklung der Tier- und Pflanzenwelt und dem dort herrschenden »Kampf ums Dasein«. Der Gedanke, dass der Mensch vom Affen abstammt, hat seinerzeit für außerordentliche Erregung gesorgt und den Stolz der technik- und fortschrittsgläubigen Welt verletzt. Wilhelm Busch wird dieser Gedanke gefallen haben. Dass einer den Menschen den Spiegel der Natur vorhält, erscheint ihm ganz recht so. Auf seine Weise wird er mit den Bildergeschichten etwas ganz Ähnliches tun. Auch kann er im Rückzug auf die Vorstellung, dass alle Menschen letztlich den gleichen Naturgesetzlichkeiten ausgeliefert sind, vieles wettmachen, was er an Verletzungen von den scheinbar so selbstsicheren Erfolgsmenschen einstecken muss. Vom Akademiedirektor bis zum Kritiker, sollen sie nur ihre Klugheit verbreiten, am Ende gehorchen sie doch alle den gleichen instinkthaften Trieben. Auch die Schadenfreude spielt hier unübersehbar ihre Rolle.

Arthur Schopenhauer wird zu seinem Lieblingsphilosophen. Erst gegen Ende seines Lebens wird sich Wilhelm ein wenig aus der geschlossenen Denkwelt Schopenhauer’scher Philosophie hervorwagen. Auffallend sind die vielen Parallelen im Leben beider Männer. Was Wilhelm Busch in kleinen Verhältnissen erfährt, findet sich ähnlich bei Arthur Schopenhauer, nur in großbürgerlicher Umgebung. Auch Schopenhauer hat ein vergleichbar schwieriges Verhältnis zu seinen Eltern, auch er wird als Zehnjähriger für zwei Jahre aus dem Elternhaus entfernt, auch er soll einen Beruf erlernen, gegen den er sich innerlich zur Wehr setzt. Das Erbe vom Vater allerdings, das Schopenhauer lebenslange Unabhängigkeit gewährt, setzt ihn in den Stand, unvergleichlich entschiedenere Konsequenzen zu ziehen, als es Wilhelm Busch je möglich gewesen wäre.

Ungeachtet aller Kriegsunruhen und politischen Zeitläufe hat Schopenhauer sich wie Busch immer wieder in selbst gewählte Einsamkeit zurückgezogen. Als Dreißigjähriger schon hat er in dreijähriger Arbeit in Dresden sein Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung geschrieben. Das Schopenhauer’sche Denksystem legt den lebenserhaltenden Willen als Triebkraft für alles Böse in der Welt zugrunde. Einen Ausweg gibt es nicht. Es sei denn, der Wille würde im Spiegel der Vorstellung seiner selbst ansichtig und der Mensch würde durch ein solches Erkennen auf seinen Willen verzichten. Weil dies aber in der Wirklichkeit nicht geschieht, bleibt die Welt dem zwangsläufig bösen Willen verfallen.

Als Die Welt als Wille und Vorstellung im Jahr 1819 erscheint, will kaum jemand etwas von solchen im Grund pessimistischen Gedanken wissen. Schopenhauer bleibt unbekannt.

Erst nach der gescheiterten Revolution von 1848, in Zeiten tiefer politischer Resignation, entwickelt das deutsche Bürgertum eine Vorliebe für diese Philosophie. Nun endlich ist die Zeit reif, dass viele, unter ihnen Wilhelm Busch, sich selbst und die Welt im Werk Schopenhauers wiederfinden und seine Art zu denken annehmen. Immer wieder wird in Wilhelm Buschs Bildergeschichten der ungezähmte Wille vor allem in Gestalt von Kindern und Tieren gegen die ignorante Macht der Realität Sturm laufen, wird durch die Mühle gedreht, vernichtet oder durch Dressur gezähmt. So hat Wilhelm es im Leben erfahren. Darin fühlt er sich von Schopenhauer bestätigt. Arthur Schopenhauers entschiedene Art, die Welt anzuschauen und zu deuten, wird für den entscheidungsscheuen Wilhelm Busch zur Orientierung.

Im November 1854 endlich wagt er sich wieder hinaus. Aber wieder braucht es einen Anstoß von außen. Wieder, zum dritten Mal nun, kommt der Anstoß von August Klemme.

Post aus München flattert in die ländliche Schläfrigkeit von Wiedensahl und setzt den ernüchterten Zweifler in Bewegung. Die Königliche Akademie der Künste in der süddeutschen Metropole hat der Düsseldorfer Kunstschule inzwischen den Rang abgelaufen. August Klemme hat sich dort umgetan, und was er darüber mitteilt, ist für den 22jährigen Wilhelm Busch Grund genug, sich noch einmal aufzurappeln. Noch einmal will er den Versuch wagen, seinen doch nicht zu bezwingenden Neigungen ein Korsett zu verschaffen, mit dem er sich in der Welt sehen lassen kann. Und: … geschafft werden muß, und selbst der Taschendieb geht täglich auf Arbeit aus.

Den Vater, den Dorfkrämer, zu überzeugen, ist ein hartes Stück Arbeit. Dass sein Sohn Maler werden, sich einer im allgemeinen Ansehen brotlosen Kunst zuwenden will, scheint ihm anmaßend und ungehörig. Die Mutter und der Onkel müssen herhalten, müssen Zureden, um die Finanzierung des noch einmal aufflammenden Wunsches zu sichern.

Kaum ist er in München, sind die alten Zweifel wieder da. Das akademische Malenlernen ist nichts für ihn. Die Kompliziertheit großstädtischer Verhältnisse verwirrt ihn. Er wohnt in der Dachauer Straße Nr. 3 bei der Pfarrerswitwe Stiller, in der Nähe des Bahnhofs, da kann er die Züge hören. Die Angst vor der Schmach eines nochmaligen Rückzugs lässt ihn ausharren.

Am 6. November wird er in die technische Malklasse des Akademiedirektors Wilhelm von Kaulbach aufgenommen.

Sein akademischer Eifer aber ist von vornherein entschieden gedämpft. Gegen die offizielle Ansicht dessen, was Kunst ist, setzt er den querköpfigen Stolz des Autodidakten.

Sein Engagement verläuft sich auf ein Nebengebiet. Schon in Antwerpen hat er für die Kneipzeitung des dortigen Künstlervereins einige Scherze beigetragen. In München nun ist er sehr schnell Mitglied des Künstlervereins »Jung-München«, der sein Stammlokal beim Kapier in der Promenadenstraße hat. Mit 22 Jahren ist Wilhelm Busch eines der ältesten Mitglieder des Vereins, in dem sich nach typisch deutscher Sitte junge Maler, Musiker und Schriftsteller mit Statut und Fahne zusammengefunden haben. Aus allen Richtungen des weiterhin kleinstaatlichen Deutschlands sind sie im kunstfreudigen Sammelbecken der liberalen Stadt zusammengekommen. Man hockt zusammen, trinkt und raucht und blödelt und kann in Gemeinschaft die Unsicherheit der anderen bespötteln, die man von sich selbst so gut kennt. In seltenen Augenblicken gelingt es sogar, über die eigene Schwäche zu lächeln.

Wilhelm spürt es: Je mehr er sich in den Geheimgängen seines Gehirns nach innen hin einrichtet, umso dringlicher wird der Wunsch, doch irgendwie auch in der Außenwelt dazuzugehören. Deshalb schließt er sich so rasch den »Jung-Münchnern« an und übt sich mit besonderem Eifer, einer von ihnen zu werden.

Hier zeigt sich nun deutlich ein wunder Punkt in seinem Leben, aus dem heraus er immer wieder scheinbar unverständliche Torheiten begeht. Dazugehören will er. Heftig und intensiv. Aber anderen Menschen zu Gefallen sein, damit tut er sich schwer, da hat er sich gleich im Verdacht der Dummheit, der Naivität, da fürchtet er schnell, ausgenutzt zu werden, da geraten seine Gefühle auf Glatteis. Wenn er es dennoch tut, tut er es heimlich, verdeckt, eingereiht im Chor der allgemeinen Meinung. Wir werden es sehen: Immer wieder, wenn er sich bemüht dazuzugehören, tappt er daneben.

Im Verein »Jung-München«, in dem Ulk und Spott durch äußere Formen gefordert und geschützt sind, meint Wilhelm, sich zum ersten Mal wirklich loslassen zu können. Er karikiert seine Vereinskollegen, ausschließlich Männer versteht sich, schreibt Texte für Faschingsschwänke, Operettenlibretti. Die vereinsinterne Kneipzeitung Der Beiwagen füllt sich mehr und mehr mit Beiträgen des stattlichen Norddeutschen, der schnell akzeptiert ist, den aber keiner so richtig einordnen kann. Die anderen beschreiben ihn als auffallend gut aussehend, mit scharfem Witz begabt, kühl, stolz, abweisend und seltsam oft mit ernsten Dingen beschäftigt. Öffentliches Reden ist seine Sache nicht. In seinen Kneipzeitungsbeiträgen lässt er sich auf Erotisch-Schlüpfriges ein, schreckt auch nicht vor fäkalischen Derbheiten zurück, beschreibt Rauscherfahrungen, und wie selbstverständlich rutscht ihm da in ein, zwei Nebensätzen ein zeitübliches Ressentiment gegen die Juden aus der Feder, in einem Spottlied stimmt er in den Chor der Franzosenhasser ein.

Tasuta katkend on lõppenud.

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