Lebenskreise in einer deutschen Stadt

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Lebenskreise in einer deutschen Stadt
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Herbert Müller

Lebenskreise in einer deutschen Stadt

Roman aus dem Würzburger Milieu der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Impressum neobooks

Kapitel I

"Tut mir leid", sagt die Arbeitsvermittlerin freundlich", es gibt nichts. Und für eine weitere Maßnahme besteht eine Wartezeit von vier Monaten." - "Aber", entgegnet Erwin, der Erwerbslose, "das ist doch vollkommen unsinnig! Da bezahlt einem der Staat eine Maßnahme für über zehntausend Mark, nur damit man dann doch wieder auf der Straße sitzt und die erworbene Qualifikation vergisst."

"Mehr kann ich für Sie nicht tun. So lauten nun einmal die Gesetze. Und ich richte mich nur nach meinen Vorschriften. Wenn Sie nach dieser Wartezeit einen Arbeitgeber finden, der Sie unter der Bedingung, dass er von uns die Förderung im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme bekommt, einstellt, dann ließe sich etwas machen."

"Aber ich habe doch jetzt erst diese Fortbildung gemacht, damit ich in den Arbeitsprozess wieder reinkomme. Wozu dann überhaupt ABM, ich will richtige Arbeit?!"

"Ein Arbeitgeber geht davon aus, dass Sie nach so langer Arbeitslosigkeit eine längere Einarbeitungszeit brauchen als normal."

Es hat keinen Sinn, weiterzubohren. Schon oft hat er an dieser Front gekämpft. Mit dem Anwalt gedroht. Ein Freund empfahl ihm, einen aufzusuchen. Umsonst – er erfuhr dort, dass man bei einem Rechtsstreit mit dem Arbeitsamt in der Regel den Kürzeren zieht. Rumgeschrien hatte er auf dem Arbeitsamt, und sich dabei unbeliebt gemacht.

"Das bringt doch nichts", dachte er schließlich, "man ist auf die Leute angewiesen."

"Auf Wiedersehen, Frau Schmal, sagt er, und geht. Er schlurft die Sanderstraße entlang. Wirft einen kurzen Blick auf die schönen Mädchen auf den Titelseiten der Herrenmagazine am Kiosk an der Ecke. Ein paar mal hatte er sich überwunden, so etwas zu kaufen. Aber was soll's, ist ja doch immer dasselbe, zu schade ums Geld! Dann steigt ihm der Duft aus der Bäckerei Sandertorbäck in die Nase. Er geht rein. Es duftet nach frischen Brötchen. In einer Vitrine lachen ihn Tomatenmark und Salami von mittelgroßen Pizzen an. Ohne mit der Verkäuferin mehr als zwei Worte gewechselt zu haben, verlässt er nach sieben Minuten das Geschäft. Die Arbeit des Mikrowellenherdes hat so lange gedauert. Schnell ist die Pizza aufgegessen. Erwin spürt noch immer ein leichtes Hungergefühl. Aber er weiß schon, das geht gleich vorbei. "Etwas Warmes braucht der Mensch", denkt er. Er geht zum Arbeitslosentreff in der Martin-Luther-Straße, der vom Diakonischen Werk unterhalten wird. Er steigt die Stufen zu der gemütlichen Kellerwohnung hinunter, die mit Teppichboden ausgelegt ist. Dort trifft er Roland und Silke. Silke, die Sozialpädagogin hier, hat gerade eine Kanne Kaffee gekocht. Es ist 1.00 Uhr mittags.

"Zum Frühstück kommst du zu spät, Erwin", sagt Silke.

"Danke, hab' schon gefrühstückt", sagt Erwin in einem vollmundigen Bass. Dabei hatte er ja bloß die schäbige Pizza gegessen. Erwin begrüßt Roland, und Silke stellt die volle Kanne schwarzen Kaffee aus Jenaer Glas auf den Tisch. Der Duft steigt Erwin in die Nase. "Unsere gute Fee", sagt er.

Silke lächelt, dann schlendert sie in Richtung ihrer Arbeitsecke und nimmt hinter dem Schreibtisch Platz. Roland hat ihr Lächeln in sich aufgesaugt. Sie hat es nicht gemerkt. Er wendet sich hastig um. Tatsächlich, sie ist hinter ihrem Schreibtisch verschwunden! Sie soll nicht hören, was er Erwin jetzt zu sagen hat. Der hat sich schon eine Tasse mit dem heißen, duftenden Kaffee vollgegossen. "Willst du auch einen?"

"Danke, hab' vorhin schon zwei Tassen getrunken." Vor Roland steht eine große Porzellantasse. Auf ihrem Boden trocknet ein brauner Ring aus Kaffee und Milch langsam an. Es ist warm hier. Erwin zündet sich eine Zigarette an. Roland mag das gar nicht so.

"Stell dir vor, ich habe eine Traumfrau aufgerissen", platzt es aus ihm heraus. Das Wort Traumfrau zieht er ganz lang.

"Wie schön für dich!" entgegnet Erwin, nach Rolands Geschmack zu kühl, und nimmt den ersten Zug aus seiner Zigarette. Auf dem Tisch stehen zwei Aschenbecher herum, die bereits voll sind mit Kippen. Viele haben hier heute schon gefrühstückt. Beide, Erwin und Roland, tragen schon leicht abgenutzte Klamotten.

"Du, ich sag' dir, das ist was Echtes! Wir haben uns im Zauberberg kennen gelernt. Sie ist Französin. Spricht aber deutsch. Kommt aus dem Elsass."

"Was ist sie denn von Beruf?"

"Sekretärin. Und ganz heiß!" Er blickt sich wieder nach Silke um. "Wir haben uns schon geküsst." - "Wie sieht sie denn aus?"

"Eine Figur, sag' ich dir, eine Traumfigur. Spitzbusen. Schwarze Haare." Roland zeichnet eine ausgeprägt weibliche Figur mit seinen Händen vor Erwin in die Luft. Er ist ganz aufgeregt.

Erwin denkt nach. "Ja...und...Wie kommt die Frau denn aus dem Elsass nach Würzburg?"

"Sie überlegt sich, hier noch 'mal zu studieren, weil der Job zuhause sie anödet. Sie findet, Würzburg ist eine schöne Stadt. Da konnte ich ihr nur beipflichten und habe ihr alles gezeigt. Besonders angetan war sie von der Residenz – dem Deckengemälde von Tiepoli..."

"Und wo wohnt sie hier, bei dir etwa?" Erwin zieht die Stirn kraus. Er muss an Rolands Räuberhöhle denken. "Da ist sie doch bestimmt rückwärts wieder rausgefallen."

"Du wirst lachen, alles ist aufgeräumt! Richtig wohnlich sieht es jetzt aus. Sogar einen Blumenstock mit Blüte hab' ich aufgetrieben. Einen Weihnachtsstern. Du weißt doch, bei mir halten sich Blumen nicht so gut. Sie wohnt bei einer Freundin. Noch."

"Und wie heißt sie?"

"Jaqueline."

"Das tut dir bestimmt gut, Roland, möbelt dich richtig auf."

Er schaut ihm kurz ins Gesicht, dann umklammert er seine halbleere, aber noch warme Kaffeetasse, starrt hinein und fügt hinzu: "Aber mach dir nicht zu viele Hoffnungen."

"Was heißt hier, 'nicht zu viele Hoffnungen', wir haben sogar schon vom Heiraten gesprochen!" - "Wenn das mal gut geht!"

"Na ja, nur im Scherz. Aber sie liebt mich, glaub' mir!"

"Glauben ist immer gut", entgegnet Erwin leicht ironisch.

"Wieso denn nicht?"

"Ist schon o. k., Roland, ich will dir den Spaß nicht verderben, aber Frauen und unsereins..."

"Du meinst, wegen deiner Scheidung", Erwin trinkt den Rest seiner Kaffeetasse aus.

"Kann sein. Mach's gut, Roland, ich muss weiter."

"Warte, ich muss dir noch was zeigen!" Hastig packt Roland zwei schwarze Schatullen aus, eine große rechteckige, und eine kleine quadratische. Die legt er vor Erwin auf den Tisch. Der ahnt schon, was jetzt kommt. In diesem Augenblick wird auch Silke aufmerksam, denn Roland ist etwas laut geworden. Sie lässt ihren Kugelschreiber fallen und geht zu dem Tisch der beiden Männer. Hinter Roland bleibt sie stehen, als dieser die beiden Schatullen aufklappt und mit der Innenseite vor Erwin hinstellt.

"Hier, ich hatte Glück, beim Kaufhof ist grad' Räumungsverkauf. Das Collier aus echtem Silber, und mit einem Industriediamanten, nur neunundsiebzig-achtzig." Roland spricht schnell. "Und der Ring, dazu passend, ebenfalls ein Industriediamant, neunundreißig-neunzig!" Silke tritt neben den Tisch, Roland bemerkt sie mit einem unsicheren Blick. "Roland?" Sie schaut ihn an, lächelt, "Das ist ja toll. Darf man fragen, wer die Glückliche ist?"

"Jaqueline, aus Frankreich."

"Heißt das, du hast den Job im Schlachthaus bekommen?"

"Nee, da war ich bloß zwei Tage. Dauernd dieses kalte Fleisch, da wird einem ja übel. Nichts für mich. Bei so was, da lasse selbst ich den Kümmeltürken den Vortritt. Oder denen aus Polen."

"Die Ausländer können doch auch nichts dafür." Roland steht auf, legt seinen Arm um Silkes Schulter. Er ist zwei Köpfe größer als sie, ein baumlanger Kerl. "Ich will mich doch heute nicht mit dir über Ausländer streiten!" sagt er in einem vollen Ton. Silke spürt das Vibrieren seines großen Brustkorbs. Leicht verlegen entwindet sie sich ihm, pickt den Ring auf, hält ihn ins Licht, auf ihrem Gesicht ruht ein leicht sinnliches Lächeln.

"Der ist für meine Freundin." sagt Roland stolz. Silke schaut sich auch noch das Collier an und lässt sich von Roland ein paar Sätze über seine Freundin erzählen. "So, und jetzt schmeiße ich euch raus", sagt sie schließlich. "'muss noch ein bisschen was tun. Kommt nächsten Mittwoch wieder!"

"Mach's gut, Silke!" sagt Erwin. Sie gehen.

"Wann siehst du sie denn wieder?" will Erwin draußen wissen.

"Am Samstag kommt sie zu mir. Bis dahin will sie noch mit der Uni alles klären, mit der Anmeldung und dem ganzen Firlefanz. Aber dann haben wir den ganzen Tag für uns. Ich werde sie mit den Klunkern überraschen!"

 

"Halt die Ohren steif, Junge, bleib' sauber!"

"Na, was denkst du denn von mir." Roland ist etwas verlegen. Dann trennen sich die beiden. Roland schwebt durch's Glacis (Ringpark um die Würzburger Altstadt) nach Hause, während Erwin über den Rennweg in Richtung Innenstadt schlurft. Er hat viel Zeit.

Den Samstag über muss Erwin des öfteren an Roland denken. Er beneidet ihn ein bisschen. Am Abend ist er dann im AKW (Autonomes Kulturzentrum Würzburg), dem Szenelokal, das nur ein paar Häuser vom Arbeitslosentreff entfernt liegt. Erwin steht an der Theke, neben sich eine Halbmaß Dunkelbier.

"Wenigstens das ist Einem noch geblieben", denkt er. Heute Abend ist Disko im AKW. Erwin ist hereingekommen, bevor die Kasse für die Disko auf einem Holztisch hinter der Flügeltür eingerichtet worden ist. So hat er die 2,- D-Mark Eintritt gespart. Jetzt ist die Disko in vollem Gange, und Erwin drängt sich durch die Menschentraube in Richtung Tanzfläche, will mal gucken. Da sieht er Einen, den er hier heute Abend gar nicht erwartet hat, jedenfalls nicht so - Roland. Ohne Jaqueline - starrt er glasigen Blickes in die sich wiegende Menge junger Leute auf der Tanzfläche. Erwin setzt sich ruhig neben ihn auf die schwarze Holzverschalung. Roland bemerkt ihn.

"Sie ist weg", macht er sich Luft.

"Wie, was, weg?"

"Abgereist, zurück ins Elsass? Was weiß ich?"

"Hast du keine Adresse von ihr?"

"Nein, sie hat mich belogen. Die Freundin sagte, sie wäre schon am Donnerstag aufgebrochen, um ihren Trip durch Europa fortzusetzen. So einen arbeitslosen Deutschen hätte sie angemacht, der wär' ganz lustig gewesen."

Roland kann nicht verhindern, dass ihm die Tränen in die Augen quillen und an seinen Wangen herunterlaufen. Es wäre gut, wenn Erwin ihn jetzt in den Arm nehmen würde, er tut es aber nicht.

"Und was machst du jetzt mit den Klunkern?" fragt er.

"Weiß nicht", Er denkt einen Augenblick nach.

"Vielleicht lässt sie ja doch noch was von sich hören."

"Wenn ich du wäre, ich würde den Ramsch im Second-Hand-Shop zu Geld machen und einen trinken geh'n. Oder mir was Schönes kaufen. Was ich mir schon länger gewünscht hätte."

Aber Roland reagierte abrupt unwirsch: "Ach, du hast ja gar keine Ahnung, wie das ist!" Dann steht er auf und geht.

"Roland, mach' dich nicht unglücklich!" ruft ihm Erwin nach. Doch das geht in der lauten, harten Musik unter.

Kapitel II

Am Montag isst Erwin in der Stadtmensa der Universität zu Mittag. Mit seiner ausgeprägten Glatze von der Stirn bis zum Hinterkopf fällt er schon etwas auf zwischen all den Studenten. Einige von ihnen kennt er vom Sehen, doch heute kümmert sich keiner um ihn. Sie kommen in Gruppen und sitzen beieinander, unterhalten sich mehr oder weniger angeregt. Oder sie bleiben wie Erwin in der Masse allein. Das Standardessen heute ist Bratwurst mit Kartoffeln und Rotkraut. Erwin hat sich noch drei Beilagen extra genommen, denn von der üblichen Portion wird er nicht satt. Extra Kartoffeln, Kroketten und zum Nachtisch eine eingemachte Birne. Er nimmt sich Zeit zum Essen, schnappt ein paar Gesprächsfetzen von nebenan auf. Da schimpft mal einer auf den Dozenten, oder es geht um Einladungen zu irgendwelchen Feten. Bei großen Lustbarkeiten mischt sich Erwin auch schon mal unter die Studenten, aber immer seltener.

Heute interessiert ihn das alles nicht. Er genießt sein warmes Essen, das hier billiger ist als anderswo. Von einer früheren Anstellung her kennt er noch einen, der ihm günstige Mitarbeiter-Essenmarken besorgt. Wortlos zahlt er an der Kasse.Beim Hinausgehen nach dem Essen verspürt er Lust auf eine Tasse Kaffee. Die gibt es drüben in der Cafeteria. Hier ist alles rechtwinklig, im modernistischen Stil: der Bau selbst, die Theke, die Tische und Stühle. Er braucht nicht wie in der Mensa anzustehen. Es ist schon halb zwei, die Hauptmittagszeit vorbei. Er kauft sich an der Theke eine Tasse Kaffee, dann schweift sein Blick über den Gastraum. Wo ist ein guter Platz? Da, ein bekanntes rundes Gesicht - Helmut. Er geht auf den Tisch zu, an dem Helmut sitzt. Helmut ist ein wenig älter als Erwin, hat jedoch noch alle Haare.

"Na, du alter Stromer!", grüßt Helmut.

"Hallo Helmut, sieht man dich auch mal wieder!" Helmut hat schon eine Tasse Kaffee vor sich stehen. Erwin setzt sich zu ihm.

"Du hast noch ein oder zwei Bücher von mir", erinnert sich Helmut.

"Ja, stimmt, das mit dem Guru - und das von dem Mönch, der diese Erscheinungen hatte. Ich bringe sie dir demnächst mal vorbei."

"Hast du sie denn gelesen?"

"Nun ja, zum Teil wenigstens. Wenn man allein ist, hat man viel Zeit, sich mit solchen Dingen zu beschäftigen. Aber alles habe ich nicht verstanden."

"Es ist nicht das Wichtigste, dass man alles versteht, sondern dass man selber Erfahrungen macht. Gott, wenn man so will, in sich spürt."

"Manches fand ich durchaus sehr interessant. Besonders dieses Gleichnis von dem Singh mit dem Stein, der generationenlang vom Wasser umspült war. Und als Singh ihn in zwei Stücke brach, war er innen ganz trocken. So sei es auch mit dem Christentum im Abendland. Und er hat recht."

"Selber Erfahrungen machen, Junge! Darauf kommt es an. Du musst den Gott in dir entdecken."

"Die von der Gemeinde der Leute Jesu Christi reden auch immer von ihrem Jesus. So, als ob sie ihn gepachtet hätten."

"Gehst du da noch hin?"

"Nein, da war ich schon lange nicht mehr."

"Warum denn?", wollte Helmut wissen.

"Die Leute dort waren schon immer nett und freundlich. Und dann das Mittagessen am Sonntag, das hat mir gefallen. Man wurde anstandslos auch zu Feiern eingeladen. Aber so richtig warm bin ich da nicht geworden."

"Du bekommst leicht Anschluss, aber das ist nicht alles."

"Ja, genau."

Erwin will das Thema wechseln.

"Was machst du zur Zeit?"

"Ach, so là là. Bis vor kurzem habe ich als Tierpfleger gearbeitet. Du weißt, ich bin ja früher Tierarzt gewesen. - Auf die Dauer war das nichts für mich. Immer Ställe ausmisten! Du bist am Abend so kaputt. Das hat mich spirituell beeinträchtigt."

"Ich wusste nicht, dass du früher Tierarzt warst.

Dann hast du doch auch studiert. Warum hast du damit aufgehört?"

"Ich musste in die Klapse. Schizophrenie..."

"Und dann?"

"Irgendwie bin ich dabei auf den Trichter gekommen, dass ich eben so bin, wie ich bin. Da mussten sie mich wieder entlassen. Dafür habe ich dann an dem Kurs in München teilgenommen."

"Du meinst das mit der nackten Frau, was du mir mal erzählt hast."

"Zum Beispiel. Daran erinnerst du dich, was?"

"Sie war eine wunderschöne Frau. Du warst von ihrem Aussehen fasziniert. Sie stand mitten in der Gruppe einfach auf, zog sich aus bis auf ein ganz knappes Höschen und sie tanzte euch vor. Ganz nackt durfte sie nicht, da gibt es irgendwelche Gesetze dagegen."

"Ja, genauso war's. Als ich sie das erste mal sah, sagte ich: 'Sie sind aber eine schöne Frau!' - 'Genau das ist mein Problem.' entgegnete sie.

Jeder in dem Kurs ist aus sich herausgegangen. Das war eine schöne Erfahrung. Aber bei weitem nicht die wichtigste."

"Du meinst dieses Erleuchtungserlebnis, wovon du mal erzählt hast."

"Ich sag's dir, du bist nicht mehr derselbe, wenn du so etwas erlebt hast. Dieses Licht, diese Klarheit! Ein paar Tage lang hat es gedauert."

"Was war es denn genau?"

"Die unmittelbare Begegnung mit einem allumfassenden Wesen."

"Jesus?"

"Wenn du so willst."

"Aber es geht auch wieder ganz tief 'runter."

"Natürlich, das gehört dazu. Du hast auch wieder sehr schwache und dunkle Punkte. Das kommt mit der Zeit. Doch das macht nichts. Weil du ein ganz anderer Mensch bist." Erwin ist skeptisch. Er will gar nicht so tief in Helmuts geistige Welten eindringen. Er merkt, dass dieses Spirituelle sehr viel Kraft von ihm fordert. Dennoch muss er auf irgendeine Weise tatsächlich glücklich sein. Jetzt haben sie ihren Kaffee ausgetrunken.

"Du, ich muss jetzt los. Ein Kind abholen, für das ich im Moment Tagesvater bin", sagt Helmut.

"So etwas machst du. Das finde ich gar nicht schlecht."

Sie stehen auf und geben ihr Geschirr an der Theke ab, dann gehen sie hinaus.

"Du, ich bringe dir die Bücher morgen vorbei."

"Ach, das eilt nicht. Du kannst sie ruhig noch eine Weile behalten. Trotzdem - besuch' mich ruhig mal, wenn du Lust hast!"

"Das mach' ich, tschüs!"

"Mach's gut!"

Ihre Wege trennen sich vor dem rechtwinkligen Mensabau.

Versonnen trottet Erwin heim. Er hält sich auch für einen gläubigen Menschen. Es ist gut, so jemanden wie Helmut zu kennen. Der ist einer wie er, wenn er auch manchmal ein bisschen angibt mit seiner "Spiritualität", so wie jetzt wieder. Er kommt in seine kleine Zweizimmerwohnung in der Zellerau. Anders als Roland verbringt er viel Zeit damit, sie immer sauber und ordentlich zu halten. Das ist man sich schuldig, meint er. Er spürt wieder seine Bandscheiben, will sich gerade ein wenig aufs Ohr legen, da klingelt das Telefon. Sein Sohn ruft an. Der traut sich nicht nach Hause in die luxeriöse Höchberger Villa seines Stiefvaters, denn seine Hausarbeit ist schlecht gewertet worden. "Schlampig und phlegmatisch", hat der Lehrer darunter geschrieben. Erwin kann nicht "nein" sagen und schiebt den Gedanken an Ruhe von sich.

"Wenn's brenzlig wird, dann kommst du zu mir", antwortet er, "Deine Mutter wird dich noch mehr ausschimpfen, wenn du auch noch den Nachmittag bei mir verbringst."

"Ist mir egal!" hört er aus der Telefonmuschel.

"Na dann komm! Aber ich habe nichts zu Essen da."

"Macht nix, ich hab' sowieso keinen Hunger."

Kurze Zeit später steht der Junge vor der Tür. Rappeldürr ist er, schlaksig die Bewegungen. Erwin fallen sofort die dunklen Ränder unter seinen braunen Augen auf. Er wirkt abgespannt. Mit heißem Tee erwartet ihn sein Vater. Auf dem alten Küchentisch hat er gedeckt. Kaum, dass er abgelegt hat, sitzt der Junge schon auf dem weißen Küchenstuhl und hat sich eine Tasse vollgegossen.

"Au - ist ja heiß!"

"Das hat frischer Tee nun mal so an sich." sagt Erwin ruhig und setzt sich dazu. "Also was war los, Jürgen?" Jürgen zeigt seinem Vater das bewusste Schriftstück. Dieser schaut sich alles genau an, während der Sohn gierig Erwins Norma-Plätzchen verschlingt, die schon lange im Schrank gelegen hatten.

"Du musst doch echt wenig dafür getan haben", sagt Erwin, "Warum?"

Der Junge führt die Hand zum Mund. Nach einigem Zögern erfährt Erwin von dem Video-Kreis, den sie an der Schule aufgemacht haben, um verbotene Filme aufzutreiben. Und Computerspiele.

"Wenn die Eltern nicht da sind, dann ziehen wir uns das Zeug für über Achtzehnjährige rein." gibt er zu. "Manchmal einen ganzen Nachmittag und dann die halbe Nacht lang. Danach bist du richtig zu."

"Aber warum machst du da mit, wenn du es selber gar nicht so gut findest?"

"Es ist eben in. Was soll man denn sonst machen in dieser Scheißwelt. Geht ja doch alles den Bach 'runter."

Erwin ist ratlos. Er gibt seinem Sohn eines der Bücher mit, das er von Helmut geliehen hat. Zwar glaubt er nicht so recht, dass Jürgen so etwas anrührt, aber schaden kann's bestimmt nicht.

Jürgen geht bald wieder. Erwin kann jetzt nicht mehr schlafen. Er ist unruhig. Macht einen Spaziergang am Main entlang. Es ist diesig an diesem Novembernachmittag.

"Jürgen, Roland - die Welt ist wirklich ganz schön beschissen!" muss er denken. "Doch es geht weiter, immer weiter. Und es muss irgendwann mal wieder besser werden." Er blickt über den trägen, schmutzigbraunen Fluss zu den Weinbergen auf der anderen Seite. Es ist ein wenig heller geworden.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?