Loe raamatut: «Der taube Himmel», lehekülg 5

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An dem Tag, nachdem der Onkel unter die Erde gekommen war, hatte er sich Felder und Wiesen und das ganze Umland, Wohnhaus und Ställe angesehen. Mit den Händen in den Hosentaschen. Als ob er Angst hätte, es könnte etwas vor seinen Augen verschwinden, wenn er es anfasste. Nach ein paar Tagen ging er in den Fischereibetrieb, machte heimlich Skizzen und plante Verbesserungen und Modernisierungen.

Ein Wunder löste das andere ab. Rakel war das größte. Sie zog mit ihren drei Schafen zu ihm herauf und blieb. Anfangs ging sie noch jeden Abend von Bekkejordet in das kleine Fischerhaus zu ihren Eltern, weil der Vater es so wollte. Aber ihre roten kräftigen Haare waren überall zu finden. Im Schafstall, in der Ofenecke, in der Speisekammer und im Dachgeschoss. Sogar in Simons Bett. Und ihr Geruch blieb zurück wie der Geruch von getrockneten Blumen, die im Herbst in dem kleinen Nebenraum hingen. Sie waren so jung. Es fehlte ihnen nichts. Zunächst.

Simon und Rakel hatten ihre Hochzeit selbst ganz groß ausgerichtet. Ohne jemanden um Rat zu fragen. Und die Braut war nicht schwanger.

Der Schafstall war in jedem Frühling voller Lämmer. Ebenso sicher, wie das Licht über den Inseln in die Bucht kam. Aber Rakels Leib blieb flach. Der Segen wolle sich in diesem Haus nicht einstellen, hieß es. Jedoch Simon wusste. Auch wenn Rakel nach Breiland fuhr und zurückkam und ihm erzählte, dass sie keine Kinder bekommen könne, Simon wusste. Manchmal weinte es in ihm deswegen. Aber er konnte es nicht ertragen, dass Rakel weinte. Deshalb wagte er nicht, es ihr zu zeigen.

Er war unfruchtbar, nicht Rakel. Er wusste es seit der Zeit, als er ein armer Kerl gewesen war, der sich seine Freude holte, wo er sie bekommen konnte, ohne dass ihn das Gewissen sonderlich plagte, wie wohl das Schicksal des Mädchens aussehen werde. Aber es kam nie ein Kind. Darüber hatte er sich ab und zu gewundert.

Sie waren einander Kinder, Geliebte, Gesinde und Träume. Sie spielten wie Tierkinder, drinnen und draußen. Bis die Freude herausbrach wie heißblütige junge Pferde. Gelegentlich ließen sie Zorn und Angst aneinander aus, um sich im nächsten Augenblick zu gegenseitigem Trost aneinanderzuschmiegen. In Haus und Hof wuchs und gedieh alles.

Simon stand auf dem Hügel und sah nach Været hinunter und über den Fjord. Und er vermisste Rakel so sehr, dass sein Blick getrübt war und die großen, starken Hände unruhig und schutzlos auf dem Fahrradlenker lagen.

8

Rakel wusste nicht, wie viele Stunden vergangen waren.

Jetzt lagen Tora und sie jedenfalls in dem großen Hotelbett. Die Dunkelheit hatte sich wie eine nasse Plane über sie ausgebreitet. Toras Geschichte hatte sie beide so eng miteinander verbunden, dass sie wohl nie mehr voneinander loskommen würden. Es war eine Geschichte, wie Rakel sie noch nie gehört hatte. Nicht in den Fischerhäusern, nicht auf der Straße, und auch in ihrer wildesten Phantasie hätte sie sich so etwas nicht vorstellen können. Sie würde sie bestimmt niemandem erzählen. Die Geschichte war jetzt zu ihrer Last geworden. Weil Tora überleben musste. Das sah Rakel deutlich.

Als sie auf dem Fußboden saßen, war die Wirklichkeit mehr gewesen, als Rakels Verstand fassen konnte, auch wenn sie ihr als Gleichnis von einem Vogeljungen präsentiert wurde. Rakel brachte es bis zu einem gewissen Grad fertig, den nächsten Tag zu verdrängen. Die Gesichter, denen sie begegnen musste. Die Situationen, die sie auf die Probe stellen würden – jeden Tag.

Sie sah auf das schlafende Mädchen neben sich im Bett und gestand sich ein, dass sie den Gedanken nicht denken konnte: Henrik! Ein jammervolles Gefühl, Tora nicht erlösen zu können. Alles ungeschehen zu machen.

Tora hatte tiefe Ringe unter den Augen. Sie glich der Großmutter, als diese im Sterben lag. Die gleiche straffe Haut über den Backenknochen. Aber es zuckte und lebte in dem Gesicht und im ganzen Körper. Sie kämpfte. Wollte nicht aufgeben. Tief im Schlaf befangen.

Während Rakel das Gesicht auf dem Kissen betrachtete, überfiel sie ein so leidenschaftlicher Hass, dass er das Mitleid für Tora erstickte. Jeden vernünftigen Gedanken erstickte. Sie nahm den Hass auf sich. Spürte, wie stark sie davon wurde. Ingrid würde die Wahrheit nie überleben – und »Henrik konnte nicht sterben«. Tora hatte recht. Er war verflucht, er hatte sich in eine Situation gebracht, in der es ihm nicht vergönnt war zu sterben. Sonst wäre er ertrunken oder vor langer Zeit vom Blitz erschlagen worden! Rakel gelobte, dass sie die Rechnung für alles begleichen würde, was der Herrgott versäumt hatte. Dafür war sie geboren worden.

Dieses Kind zu beschützen, dem das Leben gerade die Haut abzuziehen versuchte. Gott mochte ihnen allen helfen. Sie hatte es noch nicht klar vor Augen, wie sie das schaffen würde. Aber schaffen würde sie es.

Und mit diesem Gedanken glitt sie in einen leichten Schlaf.

Im Halbschlaf tasteten sie nacheinander. Die eine hatte jemanden bekommen, mit dem sie ihre Angst teilen konnte. Tora bekam eine Hälfte ihres Ichs zurück. Eine leere Hälfte, um alle Dinge darauf aufzubauen. Sie fing an zu träumen.

Rakel und sie ruderten im Sturm. Sie waren seekrank. Erbrachen sich über das ganze Boot, das gleichzeitig das Bett war. Aber dann wurde das Meer außerhalb des Lichtkegels der Lampe ruhig, dort, wo das Meer sonst tobte, und die Bucht machte eine Biegung und verschwand hinter der Landzunge. Sie lagen im Wasser und planschten und wuschen sich rein. Schwammen nur im Sonnenschein. Das tat so gut. Sie spürte, wie der ganze Körper sich dort im Wasser ausruhte.

Aber Rakel hatte die Hälfte der Angst bekommen, die sie nicht zu tragen gewohnt war. Sie war anders als die Angst vor Krebs oder Brand. Sie hatte jetzt die Verantwortung für Tora, deren Kopf sich zu verwirren drohte. Rakel sah das Grab oben in der Geröllhalde vor sich. Sie mussten beide dorthin. Sie dachte an all die Monate, in denen Tora mit dieser Sache allein gewesen war. Monate? Sie maß die Dunkelheit mit den Augen. Ob es wohl mehr als nur Monate gewesen waren? Ob es sich über einen langen Zeitraum erstreckt hatte? Übelkeit breitete sich aus. Kochte hoch. Sie musste sich im Bett aufsetzen, um den Mageninhalt bei sich zu behalten. Wand sich behutsam aus den dünnen Mädchenarmen. Blieb lange sitzen, ließ die Beine über die Bettkante hängen. Den Kopf nach unten, das rote Haar glühte, ohne dass jemand es sah. Dann beschwor sie den Hass herauf, um sich zu schützen. Bitter und gut. Sie würde ihn schon erledigen. Ihn erledigen. Ihn erledigen! Und wenn sie Jahre dafür brauchen sollte!

Es rührte sich neben ihr. »Schläfste nich, Tora?«

»Nein.«

»Denkste an alles, was du mir gesagt hast?«

»Ja.«

»Das darfste nich. Ich hab’s auf mich genommen. Es ist meine Angelegenheit. Und es bleibt unter uns. Wenn du glaubst, dass ich zu irgendwem hinlauf, damit der Henrik hinter Schloss und Riegel kommt, dann kann ich dir nur sagen, dass ich das nich tu. Ingrid würde mit demselben Boot untergehn, fürcht ich … Das haste auch gedacht, was, Tora?«

»Ja.«

»Wir werden jetzt Pläne machen, du und ich. Du musst mir vertrauen, und du musst darauf vertraun, dass das, was ich sag, richtig für dich ist. Glaubste, dass du das schaffst, Tora?«

»Ja, Tante Rakel.«

Die Stimme war ein leises Schwirren, wie wenn man Zucker auf eine Scheibe Brot streut. Sie hatte die Erlaubnis, ganz klein zu sein in Tante Rakels Bett. Die Dunkelheit war außerhalb des Bettes und schloss sie gemeinsam ein. Tora legte den geschundenen Körper und den leeren Kopf ganz nah an Rakels Körper. Sie wurde aufgefangen als das Bündel, das sie war. Der Tante Stimme rieselte auf sie wie lauwarmes Wasser. Sie war noch nie in ihrem Leben so erleichtert gewesen. Und sie hatte den flüchtigen Gedanken, dass, wenn man nicht wusste, wie es war, durch die Glut zu waten, man vielleicht auch nicht wusste, was Linderung war.

Rakel knipste die Nachttischlampe an. Dann holte sie am Waschbecken ein Handtuch und trocknete ihre Gesichter ab. Behutsam und gründlich. Nahm sich Zeit. Legte die Steppdecke gut um sie beide und sagte: »Du brauchst ein andres Zimmer. Das ist mal das Erste.«

»Warum denn?«

»Weil das Zimmer das ungemütlichste ist, das ich je gesehn hab. Allein die Tapete ist so, dass man am liebsten gegen die Wand rennen möchte. Da kannste nich bleiben.«

Sie sagte nicht: Dort ist es passiert.

»Aber Frau Karlsen?«, murmelte Tora.

»Sie kann ja an andre vermieten. Komm mir doch nicht mit solchen Fragen. Wir brauchen uns um die Frau Karlsen keine Sorgen zu machen!«

»Nein …«

»Glaubste, dass du’s schaffst, nach Ostern wieder in die Schule zu gehn?«

»Ja, ich geh schon über eine Woche wieder in die Schule. Es ist lang her, dass ich … krank war …«

»Wie ging’s … wie haste dich gefühlt? Ich mein – hattest du irgendwo Schmerzen, nachdem … nach allem, was geschehn ist?« Rakel sah Tora hilflos an.

Tora schlug die Augen nieder. Es tropfte und lief unter den Wimpern hervor. Unablässig.

»Ja. Aber jetzt ist’s vorüber. Ich blute nur noch. Das war anfangs am schlimmsten. Hier auch. Es hat so gedrückt.«

Sie machte eine schnelle Bewegung über die Brüste. Rakel reichte ihr das Handtuch. Sie trocknete sich das Gesicht ab. Dann waren sie eine Weile still. Aber sie waren die ganze Zeit mit den Gedanken beieinander. Irgendwo im Haus schlug eine Uhr fünf schwere Schläge. Das Licht kroch unmerklich zu ihnen herein.

»Wir tragen jede unseren Teil zu dieser Arbeit hier bei, Tora. Ich werd alles, was nötig ist, auf der Insel in Ordnung bringen, bei deiner Mutter. Ich verschaff dir ein andres Zimmer. Und du versuchst, dein eignes Leben zu leben, als ob nichts geschehn wäre. Verstehste? Nichts ist geschehn. Für alles hab ich jetzt die Verantwortung. Genauso wie es vorher seine Verantwortung war. Gott helfe ihm!«, murmelte sie.

»Aber, Tante Rakel?«

»Ja?«

»Ich fühl mich so kaputt. Wie tot.«

»Das musste in dich hineinfressen. Bissen für Bissen. Nich du bist kaputt, mein Kind. Er ist kaputt. Es ist seine Schande. Nich deine! Hörst du? Nicht deine! Sag dir jeden Tag: Es ist nich meine Schande. Du wirst sehn, es kann zu einem Segen werden, auch wenn wir’s jetzt noch nich erkennen können.«

Tora hörte Rakels Worte wie von der Kanzel in der Kirche. Die energische Pastorenstimme der Tante über allen Bankreihen, zwischen allen Kronleuchtern: »Es ist seine Schande, nich deine. Nich deine! Es kann zu einem Segen werden … Segen. Segen.«

Sie saßen eine Weile schweigend da.

»Weißte, Tora, ich glaub, ich hab noch nie jemand so bewundert, wie ich dich bewundre. Du hast für die ganze Familie was geleistet. Für deine Mutter, für mich, für Simon. Ganz allein. Ich kenn keinen Menschen, der eine so große Leistung vollbracht hat. Du musst nun auch noch den Rest schaffen. Das musste einfach um deinetwillen. Für dein eigenes Leben. Dein Körper gehört dir. Deshalb musste da durch.«

Tora saß mit gesenktem Blick da.

Sie hatte aufgehört, von dem Vogeljungen zu reden. Rakel merkte, dass die wenigen Worte, die sie sagte, normal klangen. Eine Erleichterung, an die sie sich klammerte. Rakel sandte ein drohendes Gebet nach oben. Stumm. Mit trotzigen Augen: »Lieber Gott, lass ihren Verstand keinen Schaden genommen haben, sonst weiß ich nich, was ich tu. Ich wetze alle Schlachtmesser in Bekkejordet und geh los auf diesen Teufel von Mann. Hörst du, Gott?«

Sie beschwor den Herrn zu erscheinen. Dort im Bett bei ihnen. Der Mund stand halb offen, und die Gedanken lagen wie Stacheldraht in ihrem Kopf. Wenn sie in die Welt gesetzt worden war, um zu hassen, dann war es jetzt Zeit, den Hass hervorzuholen.

9

Die Frühjahrsbestellung verzögerte sich in Nordnorwegen, und in Berlin starben die Menschen am Hitzschlag. Verrückt war das in jedem Fall. Der Regen sei eine Strafe von oben für die Leute auf der Insel, meinte Elisif. In Breiland traf sie der Regen nicht so hart. Das war der Vorteil von Orten, wo sie alle in Häusern arbeiteten. Die Einwohner von Breiland fanden es natürlich auch schön, wenn die Sonne schien – und wenn alles grünte und blühte –, aber es war nicht unbedingt notwendig. Die Stunden und Tage vergingen auch so. Einzig unangenehm konnte es werden, wenn die Menschen wetterfühlig waren oder wenn sie sich von einem Haus zum anderen begaben und nass wurden.

Aber Rakel musste die Kartoffeln in die Erde bekommen. Außerdem grübelte sie viel. Die Schmerzen im Leib waren wieder da. Sie machten sich nachts wie mit einer Kneifzange bemerkbar – wenn Simon fest und tief schlief. An manchen Tagen schleppte sie sich nur noch bis zum Stall. Aber sie sagte nichts. Simon sah es und wurde ganz unruhig. Es klappte in diesem Frühjahr sozusagen gar nichts.

Rakel wusste selbst nicht, wie sie es schaffen sollte, Henrik zu begegnen, als sie von Breiland zurück war. Sie hatte ihn bereits bei der Ankunft des Linienschiffs überraschend am Kai getroffen. Er stand da, als ob er sie erwartet hätte. Sie hatte ihm direkt ins Gesicht gesehen, genickt und war vorbeigegangen. Wusste, dass er sich umdrehte. Sie heftete ihren Blick auf Ottars Ladenschild, und nichts anderes war wichtig. Die Wörter standen Schlange hinter der Stirn. Sie wagte nicht einmal so viel, wie guten Tag zu sagen. Außerdem wünschte sie ihm alles nur erdenklich Schlechte. Nacken und Schultern verkrampften sich vor Widerwillen und Abscheu. Und wenn sie daran dachte, dass ihre einzige Schwester mit so einem zusammenlebte und Bett und Tisch mit so einem teilte, dann brannte ihr das Erbrochene bereits im Mund.

Aber sie verschloss die Worte. Bis auf weiteres. Rakel nahm sich Zeit, wenn sie große Dinge vorhatte.

Dann war Simon auf dem Fahrrad gekommen, und das Ganze hatte sich in einer sonderbaren Begrüßung aufgelöst. Er hatte die Schafe und die Büroarbeit verflucht, die ihn an die Insel gebunden hatten, denn sonst wäre er nach Breiland gekommen. Aber Rakel war froh über alles, was ihn anband. Es war genug, die Verantwortung für ein Leben zu tragen. Mehr, als sie eigentlich tragen konnte.

Sie hatte auch mit Ingrid gesprochen. Ingrid mit einer Stimme wie steifgefrorene Laken auf der Leine im Wind. Ingrid mit ihrem verschlossenen Stolz. Das war das Schlimmste gewesen, ihr nicht alles ins Gesicht schreien zu können. Aber sie wusste, dass sie das nicht durfte. Es würde ihrer aller Leben ruinieren … Würde wie ein Lauffeuer um sich greifen und sie alle verzehren …

Rakel dachte an Toras Lügen. Toras Gesicht in verschiedenen Situationen, von denen niemand etwas wissen durfte. Sie dachte an die abgrundtiefe Hölle, die es gewesen sein musste. Und der Hass wurde rot wie das Schlachtblut, das sie nicht rühren konnte; dafür heuerte sie andere an. Der Hass zeichnete sie. Sie wusste, dass sie nie davon loskommen würde. Sie hatte ihn auf sich genommen.

Sie riss sich zusammen und setzte Kartoffeln. Alte Setzkartoffeln voll bleicher Keimlinge, die sie vorsichtig und schnell in die Erde legte. Dann holte sie sich einen von den jungen Burschen aus dem Betrieb, der die Erde glattharken sollte. Sie hatte alle ihre Kräfte beim Kartoffelsetzen verbraucht. Schaffte in diesem Jahr nicht viel. Die Gedanken und die Schmerzen im Leib entkräfteten sie und ließen sie wie durchsichtiges Glas erscheinen.

Simon näherte sich ihr auf seine Weise. Mit großen, warmen Händen im Bett. Mit unbeholfenen Grimassen und wilden Geschichten in der Küche. War Clown. Manchmal weinte sie nachts und konnte nicht erklären, warum. Da stand Simon auf, zog sich an und wanderte hinaus in die nasse Frühlingsnacht, ohne etwas zu finden, woran er sich klammern konnte. Sie kam jedes Mal ans Fenster und rief ihn herein. Bittend. Weich wie ein Hermelinfell strich sein Name, getragen von ihrer Stimme, über den Hof.

»Si-i-mon … Komm zu mir … Simon …«

Und immer ging er sofort wieder ins Schlafzimmer. Ließ sich trösten. Entdeckte schließlich, dass er auf diese Weise auch sie trösten konnte. Dann schliefen sie zusammen ein wie Geschwister. Eng aneinandergeschmiegt und den Mund an der bloßen Haut des Gegenübers.

Aber Simon wusste, dass Rakel ihm etwas verheimlichte.

Er tröstete sich damit, dass es wohl besser werden würde, wenn die Schafe ins Gebirge kamen und sie sich an den Webstuhl setzen könnte.

Einige Tage vor dem 17. Mai schlug Simon vor, Ingrid und Henrik für den Feiertag zu einem kleinen Imbiss und einem Schnaps einzuladen. Henrik hatte sich seit dem Gespräch am Karfreitag in Ingrids Küche ihm gegenüber meistens tadellos benommen. Simon dachte, dass er Rakel vielleicht einen Gefallen tun würde, wenn er ihrer Verwandtschaft ein wenig guten Willen zeigte.

Aber Rakel hatte aufgesehen, mit blutleerem Gesicht, und »Nein« gesagt. Er war ungehalten geworden, weil er sie nicht verstand. Da war sie aufgesprungen wie eine jähzornige Ziege und hatte den Kopf in seine Brust gestoßen und geschimpft, dass er noch keine Zeit gehabt hatte, ihr beim Aufziehen der Kette am Webstuhl zu helfen, damit sie anfangen konnte zu weben.

Ihre Reaktion war ihm unverständlich.

Er erwähnte die Einladung nicht mehr.

10

Rakel hatte alles aufgeboten, was sie an Bekannten und Energie besaß, um für Tora eine neue Bleibe zu finden. Es hatte hoffnungslos ausgesehen, Osterfeiertage und so weiter. Aber dann fiel ihr ein, dass sie einen der Krankenhausärzte kannte. Sie war an dem schwärzesten Tag ihres Lebens bei ihm und seiner Frau zu Hause gewesen, als sie nämlich erfahren hatte, dass alle Gewebeproben Darmkrebs ergeben hatten. Berg hieß der Arzt, der ihr das Urteil über einen staubfreien braunen Schreibtisch hinweg verkündet hatte. Seitdem hatte sie ihn vergessen wollen. Hielt ihn gewissermaßen für schuldig. Weil er als Erster das Wort ausgesprochen hatte: Krebs. Es nützte wenig, dass er freundlich war und sie nach Hause zum Mittagessen einlud. Es war lange her.

Familie Berg hatte ein großes ockergelbes Haus in einem Garten mit großen alten Bäumen. Einige davon waren nicht in dieser nördlichen Region heimisch. Eiche. Ein verkrüppelter Apfelbaum, der in der ganzen Zeit, soviel man wusste, nur dreimal Früchte getragen hatte. Eine Handvoll saurer grüner Äpfel, die niemand aß. Das erste Mal, als Rakel dorthin gegangen war, schmolz gerade der Schnee, so dass das Gras vom Vorjahr herausragte. Ungepflegt und frech. Und die Äste und Zweige von wilden Stürmen des letzten Herbstes waren Baumaterial für Elster und Krähe.

Familie Berg war modern. Sie hatten keine Zeit, den Garten zu pflegen. Er konnte im Großen und Ganzen in seinem eigenen Rhythmus wachsen. Frau Rigmor Berg war Apothekerin, Gunnar Berg war als Arzt gewaltig beschäftigt und außerdem Präsident des Rotary Clubs und Vorsitzender im Ortsverband der sozialliberalen Partei.

Der älteste Sohn studierte in Oslo, der jüngste ging in die Volksschule, und der mittlere würde bald Landwirt sein und hatte sich bereits in Schulden gestürzt, um einen kleinen Bauernhof zu erwerben. Sie schämten sich nicht, dass er aufgrund seiner Neigungen im Blaumann herumlief und schmutzige Fingernägel hatte. Überhaupt nicht. Sie erwähnten ihn zuerst, wenn sie fremden Leuten von ihren Kindern erzählten. Er war das Kuriosum der Familie. Was dazu führte, dass sie Kontakt zu den »Arbeitern« und dem »Leben« hatten. Gunnar Berg hatte Interesse an Rakel bekommen, über die Tatsache hinaus, dass sie seine Patientin im Krankenhaus war. Er war sonst sehr genau damit, seine Arbeit und seine Patienten nicht mit nach Hause zu nehmen. Vielleicht lag es daran, dass er mit Rakel über ihre Krankheit gesprochen hatte. Vielleicht war er mehr Mann als Arzt, langweilte sich zu Hause und wollte eine kleine Abwechslung haben. Jedenfalls rief er Frau Rigmor an und fragte, ob sie das Essen für vier statt für drei Uhr richten könne. Er wolle eine Patientin zum Essen mitbringen, eine von den Inseln. Frau Rigmor war für ein paar Sekunden verdutzt, bevor sie sagte, dass es in Ordnung gehe.

Und Rakel war gekommen, nachdem sie ihr »Urteil« gehört hatte. Sie trat auf wie eine Königin und gab der Mahlzeit die Ruhe, die ein Lammsattel verdient. Sie schmeckte heraus, dass das Fleisch in Wein mariniert und mit Senf eingerieben war, und kommentierte das auch. Die roten Locken umbrausten ihren Kopf, der Mund lächelte und die Augen waren abgrundtief. Die Kleider nach der neuesten Mode. Sie sprach mit leiser, eindringlicher Stimme, die nicht einen Augenblick verriet, dass sie das Gefühl hatte, an einem seidenen Faden am steilsten Felsen zu hängen.

Sie sprach mit ihnen über Weberei, Schafe und Kartoffeln. Über Simon und den Fischereibetrieb und die Fischfabrik. Und über die Verkehrsanbindung zu den Inseln. Erzählte von Tora, als sie fragten, ob sie Kinder habe. Dass Tora gut in der Schule sei.

Sie war nicht orientiert in Literatur und Malerei und täuschte auch keine Kenntnisse vor, als sie anfingen, von derlei zu reden. Aber sie kannte das Hohelied des Salomo und zitierte Teile daraus, während Frau Rigmor vergaß, den Mund beim Essen zuzumachen. Und Rakel reagierte nicht auf Gunnars offensichtliche Bewunderung und seine Flirtversuche. Frau Rigmor bemerkte es. Sie war es gewohnt, dass alle Frauen einen besonderen Ausdruck bekamen, wenn ihr Mann sie ansah. Diese Frau von der Insel machte das Spiel nicht mit.

Frau Rigmors Schultern senkten sich langsam wieder, und die Stimme kam in ihre normale Lage. Sie achtete nicht mehr so sehr darauf, wie alle sich gaben. Hatte mehr Zeit, um zuzuhören und teilzunehmen. Und der Sohn, Ivar, durfte vom Tisch aufstehen, bevor die Erwachsenen fertig waren.

Sie war eine kleine, lebendige Frau mit hellem Haar und strahlenden blauen Augen, die ab und zu ihre Unsicherheit verrieten, ohne dass sie sich klar darüber war.

Rakel sah es.

An diesem Tag sah Rakel die Menschen überdeutlich. Wie verletzlich sie waren. Nur Einsamkeit, um ihre angstvolle Seele darin zu verstecken. Sie nahm ihre innersten Geheimnisse wahr. Trug ihre Gedanken. Hörte das Gras wachsen. Sah den eisblauen, zerbrechlichen Himmel. Die Düfte kamen ihr schmerzvoll entgegen. Sie empfand so stark, weil für sie ein Vorhang zwischen Leben und Tod weggerissen worden war.

Sie wusste, ohne besonders darüber nachzudenken, dass Frau Rigmor ein Mensch war, der gerne tüchtig sein wollte – und klug. Und dass sie so viel Zeit und Energie darauf verwandte, dass sie vergaß zu leben.

Wenn Rakel auf das Paar sah, das vor ihr am Tisch saß, dann ging ihr auf, dass die beiden weniger froh waren als sie selbst, auch wenn sie Gesundheit und Leben – und einander hatten. Die Gedanken wanderten zu Simon. Sie hätte ihn gerne dagehabt. Nahe bei sich. Es war, als ob sie erst seit diesem Tage wusste, wie innig sie ihn liebte. Jetzt.

Später, als Frau Rigmor in der Küche war, fragte Gunnar Berg: »Haben Sie mit Ihrem Mann gesprochen – über die Krankheit?«

»Nein.«

»Das müssen Sie. Oder soll ich das tun?«

»Nein, ich sag selbst, was gesagt werden muss.«

»Nun ja, es gibt mancherlei Art, die Dinge zu sagen. Und Sie sind ja stark.«

»Nein, nicht stark genug, um den Anblick eines ruinierten Mannes zu ertragen. Das bring ich nicht fertig. Das muss ein andrer machen, wenn’s so weit ist.«

»Und Sie selbst? Sie haben doch wohl die Hoffnung nicht ganz aufgegeben? Ich meine … es gibt keine Statistik, die besagt, dass es das Ende ist – für Sie. Manche haben es geschafft – lange. In der Medizin kommen wir ständig weiter …«

»Ich hab Angst. Wenn Sie das meinen. Aber ich hoffe. Ja. Auf diese Art von Kindlichkeit will ich nicht verzichten.«

Die Kerzen auf dem Tisch flackerten in ihrer beider Atem. Rakel versteckte den Mund einen Augenblick in der Serviette. Dann sah sie auf, beinahe böse.

»Man fühlt sich ganz leer, wissen Sie. Da gibt’s nichts zu beschönigen. Ich seh sozusagen alles vor mir, was gut ist und was gut war in meinem Leben. Ich weiß, dass ich zu den wenigen gehöre, die nicht so zu tun brauchen, als ob sie den Menschen gern hätten, mit dem sie zusammenleben.«

Sie sah ihm trotzig in die Augen. Abwartend. Als ob sie etwas von ihm forderte. Er strich sich übers Kinn.

Frau Rigmor kam wieder herein. Der Faden war abgeschnitten. Die Kerzenflamme beruhigte sich.

Später spielte Frau Rigmor Klavier. Gestand, dass ihr die Übung fehle. Gunnar Berg ging zu ihr hin, küsste sie auf die Wange, drehte sich zu Rakel um und erklärte, wie gut Rigmor sein könnte, wenn sie nicht so viel anderes zu tun gehabt hätte.

Rakel nickte. Lächelte. »Jede Frau muss ein wenig Lebenskünstlerin sein, und das verbraucht so viel Energie, dass alles andere, was sie interessiert, erst an zweiter Stelle kommt …«

»Lebenskunst?«, fragte Rigmor leicht verbittert. »Ich würde es eher Lebenssklaverei nennen.«

»Nein, nicht mit Sklaverei vergleichen. Das Leben ist wie ein Geschenk, das wir für eine kurze Zeit bekommen haben – nur.«

Sie sah blitzschnell – beinahe verlegen – die beiden anderen an. War verwundert und wartete auf das eigene Weinen, das aber nicht kam.

Rigmor ließ ihren Blick zwischen beiden hin und her wandern. Irgendwo im Haus ging jemand eine Treppe hoch. Der Wind sauste leise im Lüftungsventil. Der Frühling nahte.

Wegen dieses Abends landete Tora in der Mansarde des ockergelben Hauses, direkt gegenüber dem Café, dem Park und dem Marktplatz. Mit einem Waschtisch in der Ecke hinter einem blauen Baumwollvorhang und einem Schreibtisch am Fenster mit Aussicht auf die Straße.

So hoch, dass sie über die anderen Häuser hinwegsehen und ein Fleckchen von dem launischen Himmel bei sich haben konnte, wenn sie wollte.

Rigmor Berg und Rakel hatten noch ein paar kurze Briefe gewechselt, mit vorsichtigen Fragen, wie es ihnen ginge.

Deswegen hatten sie also nicht nein gesagt. Auch wenn sie nicht daran gedacht hatten, Sigurds Zimmer zu vermieten, aber sie brauchten es nicht. Es stand ja leer. Und Sigurd konnte in den Sommerferien gut dort schlafen, denn in den Ferien war Tora nicht da.

Tasuta katkend on lõppenud.

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