Loe raamatut: «Totenstille am See», lehekülg 2

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2. Kapitel

Auf Zehenspitzen schlich ich vom Schlafzimmer die Treppe hinunter zum Hausflur und von dort in den Keller, um meine Laufschuhe zu holen.

Bereits im Schlafzimmer hatte ich möglichst geräuschlos meine Laufbekleidung angezogen. Meine Frau, mit der ich bereits über dreißig Jahre verheiratet war, sollte weiterschlafen können. Laut Wetterbericht sollten die Temperaturen in der Nacht erstmals unter 10 Grad gesunken sein. Ich hatte daher lange Leggings und ein wärmendes Laufshirt mit langem Arm ausgewählt. Nochmals hoch zum Schlafzimmer und ein Blick zum Bett. Meine Frau schlief noch fest. Auf dem Rückweg würde ich beim Bäcker vorbeilaufen und Brötchen für das Frühstück mitbringen. Ich hegte insgeheim die Hoffnung, dass meine Frau bis dahin aufgewacht sei und mich köstlicher Kaffeeduft empfangen würde.

Nachdem ich die Schuhe wie immer sorgfältig geschnürt hatte, steckte ich noch zwei Euro für die Brötchen ein und zog leise die Haustüre hinter mir zu.

Auch wenn ich es erwartet hatte, war ich doch über die Kälte überrascht, die mich draußen empfing. Ein kurzer Druck auf die Stoppuhrtaste meiner Armbanduhr, und der Frühsport konnte beginnen.

Gestern war es spät geworden, und vielleicht hatte ich auch ein Glas Wein zu viel getrunken. Mit leichten Kopfschmerzen war ich recht früh aufgewacht. Einschlafen konnte ich nicht mehr. Ich hatte mich daher für eine früh-morgendliche Laufrunde in der Siegniederung entschieden. Joggen in frischer Luft würde bestimmt meine Kopfschmerzen vertreiben.

Der Weg führte mich durch die noch menschenleeren Wohnstraßen bis zum Hochwasserschutzdamm der Sieg. Von dem erhöhten Damm hatte ich einen weiten Blick über die herrliche Auenlandschaft. Über den Wiesen und Feldern hing noch ein leichter Nebelschleier, der sich jedoch in Kürze auflösen würde. Ich folgte dem Schutzdamm bis zur Höhe des Sportplatzes der Fortuna Müllekoven. Hier verließ ich den Damm und orientierte mich in Richtung Siegufer. Dort begann mein Rückweg über einen Feldweg entlang der Sieg.

Ich freute mich bereits auf einen Schlenker um den Sieglarer See, den ich fest eingeplant hatte. Ich liebte die morgendliche Stille und die noch unberührte Natur am See. Außerdem kam der weiche Boden dort meinen Gelenken zugute. Am Südost-Ufer hatte der See eine Furt, wo er mit der direkt vorbeifließenden Sieg verbunden war. Der Fluss führte heute nur mäßig Wasser, und der grobe Kies in der Furt war zwar nass, aber die Furt ohne Probleme passierbar.

Der See lag jetzt verträumt in der morgendlichen Stille vor mir. Lediglich die Enten gackerten bereits in den noch über den See liegenden Nebelschwaden. Im nördlichen Teil des Sees hatte sich der Nebel bereits vollständig gelichtet und die ersten Sonnenstrahlen brachen sich im spiegelglatten Wasser.

Ich war verschwitzt, und da ich mein Lauftempo beim Durchqueren der Furt gedrosselt hatte, wurde mir zunehmend kalt. Hätte ich doch nur ein noch dickeres Wintershirt angezogen, haderte ich mit mir.

Langsam erhöhte ich wieder mein Tempo, jedoch nur so viel, dass ich den Blick über den See genießen konnte, ohne Gefahr zu laufen, über einen Stein oder einer Wurzel zu straucheln. Ich befand mich inzwischen am nördlichen Ende des Sees und musste jetzt den direkten Uferweg verlassen. Noch ein kurzer Blick zum gegenüberliegenden Ufer. Dort ragen hohe Bäume und dichtes Springkraut in den Himmel. Aber es gab auch den ein oder anderen versteckten, kleinen Angelplatz, der nur von dieser Uferseite einzusehen war.

Zu dieser frühen, morgendlichen Herbstzeit hatte ich in der Vergangenheit nur selten einen Angler gesichtet. Doch heute schien sich ein Angler bereits in einer kleinen Bucht auf der gegenüberliegenden Uferseite eingerichtet zu haben. Der See war an dieser Stelle nicht sehr breit. Aus der Entfernung konnte ich daher recht gut verschiedene Gegenstände, wie einen Anglerstuhl und eine große Tasche erkennen. Vor der Bucht drehte ein Schwan seine Kreise. Hin und wieder steckte er seinen Kopf ins Wasser und entfernte sich langsam vom Ufer. Die Angelstelle schien verlassen zu sein. Nichts deutete darauf hin, dass hier aktiv geangelt wurde.

Mein Gefühl sagte mir: Irgendetwas stimmte nicht. Meine Schritte verlangsamten sich, bis ich schließlich anhielt. Ich suchte das Ufer mit meinen Augen ab. Einen Angler konnte ich nirgendwo ausmachen. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, meinen Lauf fortzusetzen. Immer wieder strengte ich meine Augen an, um Details zu erkennen. Lag da nicht etwas Größeres im Wasser? Vielleicht ein Stück eines Baumstammes, das dort im Wasser vermoderte? Nein, ein Baumstamm war das nicht. Es schien fast so, als wenn zwei Füße und zwei Beine an Land lagen und der restliche Körper im Wasser. Konnte das womöglich ein Mensch sein?

Mit einem Male war ich mir sicher – dort lag jemand im Wasser.

Ich musste dorthin. Bestimmt war ich die einzige Person, die sich zu dieser Zeit am See aufhielt und helfen konnte. Meine Beine setzten sich augenblicklich in Bewegung und nahmen den unterbrochenen Lauf wieder auf. Nur mit dem Unterschied, dass mein Lauftempo jetzt wesentlich höher war. Ich geriet zunehmend ins Schwitzen. Die vorher noch empfundene Kälte war verschwunden.

Am Ende des Sees bog ich in einen kleinen Pfad ein, der zunehmend holpriger wurde. Große Steine wechselten sich mit dicken Ästen ab, die über den Pfad lagen. Der Weg forderte meine gesamte Aufmerksamkeit, um nicht hinzufallen. Hin und wieder schlugen Äste in mein Gesicht und hinterließen Kratzspuren, die durch den eindringenden Schweiß brannten. Auf den Weg zu achten und gleichzeitig nach oben zu schauen, um den Ästen auszuweichen, funktionierte nicht.

Plötzlich kam mir in den Sinn, dass ich wahrscheinlich Erste Hilfe leisten müsse, wenn dort ein Mensch im Wasser lag. Mein Tempo wurde schneller.

Wie lange lag mein Erste-Hilfe-Kurs bereits hinter mir. Vierzig Jahre oder noch länger? Zu meiner Führerscheinprüfung, so mit zwanzig oder einundzwanzig Jahren, hatte ich einen Kurs belegt, erinnerte ich mich. Von damals hatte ich bestimmt nichts mehr behalten. Stabile Seitenlage, wie war das noch? Allmählich stieg Panik in mir auf. Wie sollte ich helfen, wenn ich nicht mehr wusste, wie?

Inzwischen hatte ich das Nordufer des Sees passiert, ohne auf diesem Stück des Weges den See nochmals zu Gesicht bekommen zu haben. Der Weg wurde jetzt besser. Steine und Äste waren nicht mehr vorhanden, dafür säumten die hohen Stängel des drüsigen Springkrautes den Wegrand und der Weg wurde schmaler. Der nächtliche Tau hatte ihn stellenweise sehr rutschig gemacht und ich konzentrierte mich weiterhin auf meine Schritte.

Irgendwo war hier die Angelstelle. Als ich um eine Wegbiegung lief, erreichte ich einen breiten Wanderweg. Nein, hier war ich auf dem falschen Weg. Ich war bestimmt an der Angelstelle vorbei gelaufen.

Ich drehte mich um und ging jetzt langsam zurück, den Blick immer nach rechts zum See gerichtet.

Dann sah ich einige Meter vor mir die gesuchte Stelle. Das Springkraut war niedergetreten, und als ich zwischen das Springkraut trat, lag der See vor mir. Ich stand schwitzend inmitten der hochragenden Stängel des asiatischen Krautes, dessen süßlicher Duft mir in die Nase stieg und mich zum Niesen reizte.

Im Unterbewusstsein nahm ich wahr, dass am Ufer ein umgekippter Anglerstuhl und ein ebenfalls umgekippter Anglerkoffer lagen. Der Inhalt war über den gesamten Angelplatz verteilt. Mehrere Flaschen Kölsch lagen verstreut umher. Wie es den Anschein hatte, waren alle leer.

Dann fiel mein Blick auf zwei große Stiefel, die aus dem Wasser ragten. Die restliche dazugehörige Gestalt lag völlig unter Wasser. Ihre Kleidung war vom Wasser aufgebläht. Der Körper wirkte dadurch westlich kompakter, als er wahrscheinlich tatsächlich war. Es war ein Mann, der auf dem Rücken im Wasser lag. Das Gesicht konnte ich nicht genau erkennen.

Aufgeregt lief ich die letzten Meter bis zum Wasser. Meine Füße stießen dabei gegen einige der vielen umherliegenden Gegenstände.

Ich beugte mich zu der reglos im Wasser liegenden Gestalt hinunter. Zwei leblose Augen starrten mich an. Das Gesicht strahlte eine gewisse Überraschung oder vielleicht auch Ärger aus. Angst konnte ich nicht erkennen. Die Haut wirkte aufgeschwemmt und es schien, als ob alles Leben aus dem Gesicht gewichen war und einem farblosen, leicht bläulichen Schimmer Platz gemacht hatte. Womöglich lag der Mann bereits länger im Wasser. Die Arme waren vom Körper abgewinkelt, als ob er die Balance im Wasser suchte.

Mir war schlagartig klar: Hier kam jegliche Erste-Hilfe zu spät. Der Mann war tot.

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, der nicht von der morgendlichen Frische herrührte. Was sollte, nein, was musste ich jetzt unternehmen?

Natürlich, die Polizei informieren. Aber wie? Ein Handy hatte ich wieder einmal nicht dabei. Ich ärgerte mich darüber. Wie oft hatte meine Frau zu mir gesagt: „Nimm dein Handy mit. Du weißt nie, was passiert. Vielleicht verletzt du dich. Dann kannst du mich wenigstens anrufen, und ich kann dich mit dem PKW holen.“

Vorsichtig bewegte ich mich in Richtung des Weges zurück. Ich wollte mit keinem Fuß gegen einen der umherliegenden Gegenstände oder Flaschen stoßen.

Es gab nur eine Möglichkeit. Ich musste so schnell wie möglich nach Hause laufen und von dort die Polizei informieren. Mir war klar, dass ich dieses Vorgehen der Polizei gegenüber ausführlich erklären musste. Darüber wollte ich mir im Augenblick keine weiteren Gedanken machen. Womöglich traf ich aber auch einen Spaziergänger, der sein Handy dabei hatte, und der die Polizei anrufen könnte. Ich wählte die Richtung bis zu dem breiten Wanderweg, bis zu dem ich kurz vorher bereits gelaufen war. Von dort führte der Weg direkt zum Siegdamm hoch. Immer wieder schaute ich umher, aber niemand war zu dieser frühen Zeit am Sonntagmorgen unterwegs.

Ich lief weiter bis zu den ersten Häusern der „Schwarzen Kolonie“ im Ortsteil Friedrich-Wilhelms-Hütte. Ihren Namen verdankt sie den schwarzen Dachziegeln der Häuser, die Louis Mannstaedt um 1912 für seine Arbeiter bauen ließ. In den letzten Jahrzehnten hatten die Bewohner die Häuser liebevoll restauriert. Seit längerer Zeit standen sie unter Denkmalschutz.

An diesem Sonntagmorgen wirkten die Häuser noch verschlafen, und die engen Straßen waren menschenleer. Lediglich einem älteren Mann mit seinem Hund begegnete ich. Leider hatte er kein Handy dabei und wie er sagte, wohnte er fünfzehn Minuten von hier entfernt. Also auch keine Hilfe.

Sollte ich irgendwo an einer Haustüre klingeln? Da es nur noch fünfhundert Meter bis zu mir nach Hause waren, entschied ich mich dagegen. Die wenigen Minuten, die ich bis nach Hause noch benötigte, würden am Sachverhalt nichts ändern.


Völlig außer Puste und erschöpft drückte ich den Klingelknopf bei mir zu Hause. Natürlich hatte ich wie immer keinen Haustürschlüssel dabei. Gleichzeitig fiel mir plötzlich völlig unpassend ein, dass ich die Brötchen vergessen hatte.

„Wie siehst du denn aus. Du bist ja total fertig“, empfing mich meine Frau, als sie mir die Haustüre öffnete.

„Da kannst du sicher sein. Ich bin fertig. Am See liegt ein Toter – ertrunken“, stammelte ich außer Atem.

„Ich rufe die Polizei an!“ und schon eilte ich durch den Flur ins Wohnzimmer zum Telefon.

Meine Frau stand wie versteinert im Hausflur und sah entgeistert hinter mir her.

Als ich den Telefonhörer ans Ohr hielt und mich umdrehte, sah ich, dass meine dreckigen Laufschuhe Spuren auf den Fliesen im Flur und auf dem Teppich im Wohnzimmer hinterlassen hatten.

Ich wählte die Notrufnummer 110. Es meldete sich ein Mann mit einer freundlichen Stimme, der fragte, wie er mir helfen könne. Als Erstes nannte ich meinen Nachnamen. Vor Aufregung fiel mir fast mein Vorname nicht ein, den ich nach einem tiefen Atemzug hinzufügte.

Meine Frau stand inzwischen neben mir und hörte mit fragendem Blick zu, was ich wohl dem Polizisten am anderen Ende der Leitung zu sagen hatte.

„Am Sieglarer See liegt ein Toter“, fuhr ich dann aufgeregt fort und musste nach diesem Satz erneut tief durchatmen.

„Ja, den habe ich gerade gefunden.“

„Nein, ich kann nicht dort bleiben, weil ich schon wieder zu Hause bin.“

„Ja, ich habe den See verlassen. Ich konnte sie von dort nicht anrufen, da ich kein Handy dabei hatte.“ „Nein, ich bin kein Spaziergänger, ich bin Jogger. Auf meiner Runde am See entlang habe ich den Toten gefunden.“

„Nein, ohne Zweifel, der Mann ist tot.“

„Was, ich soll wieder zum See zurück? Ich bin total kaputt. Ich kann nicht nochmals dorthin laufen.“

„Ja, natürlich habe ich ein Auto.“

„Ja, okay, ich fahre zum Parkplatz und gehe dann das letzte Stück bis zum See.“

„Bis dann. Ich fahre sofort los“, beendete ich den Dialog.

„Du musst wieder zum See?“, fragte meine Frau, als ich den Hörer aufgelegt hatte.

„Was ist denn eigentlich geschehen?“

„Ich habe am See einen toten Angler gefunden. Ich muss noch einmal zum See. Die Polizei erwartet mich dort. Vielleicht kann ich dir später mehr erzählen, wenn ich wieder zurück bin – aber das kann bestimmt einige Zeit dauern. Warte nicht mit dem Frühstück auf mich. Oder willst du vielleicht mitfahren?“

„Um Himmels willen, nein. Ich mag diese Aufregung am frühen Morgen nicht“, rief sie mir hinterher, denn ich war bereits auf dem Weg zur Garage.

Meine Gedanken schwirrten durcheinander.

„Ein Toter am See. Ein Unfall? – oder vielleicht auch nicht?“

Und ich war mitten drin, in den Ereignissen.

3. Kapitel

Kriminalhauptkommissar Frank Eisenstein stand in der Mitte des Wohnzimmers. Noch war der Raum leer. Während er sich um sich selbst drehte, füllte sich der Raum in seiner Vorstellung mit Mobiliar und harmonischen Accessoires. Bereits jetzt empfand er eine heimelige Atmosphäre. Der Makler hatte ihm diese Wohnung in Troisdorf-Bergheim wärmstens empfohlen, und auch der Mietpreis war für den Großraum Bonn durchaus angenehm. Die Wohnung gefiel ihm recht gut. Nur mit dem Gedanken, künftig in diesem beschaulichen Ort zu wohnen, konnte er sich noch nicht abfinden. Von der Großstadt in einen kleinen Stadtteil von Troisdorf zu ziehen, auch wenn es nur wenige Autominuten bis Bonn waren, war ein Schritt, der gut überlegt sein musste.

Eisenstein war vor zwei Monaten nach Bonn versetzt worden. Ein Grund für Eisensteins Versetzung war nicht allein die Beförderung zum Kriminalhauptkommissar und der damit verbundenen Besoldung nach A 12 des Bundesbesoldungsgesetzes gewesen, sondern vor Allem wollte er mit seiner Freundin zusammenleben.

Im Frühjahr lernte er Inka bei einem Türkeiurlaub kennen. Kurze schwarze Haare und als Anfang-Vierzigerin eine tadellose Figur waren die Kriterien, die Eisenstein zuerst ins Auge gefallen waren. Nachdem sie sich kennen gelernt hatten, war er mehr und mehr von ihrer Ausstrahlung, ihrer ansteckenden Fröhlichkeit und auf der anderen Seite von der Ernsthaftigkeit der Gespräche, die er mit ihr führen konnte, angetan. Aus dem anfänglichen Urlaubsflirt wurde mehr. Der Altersunterschied von etwas mehr als zehn Jahren störte beide nicht. Sie liebten und respektierten sich. Eisenstein hätte nicht erwartet, dass er nach seiner zweiten Scheidung vor vier Jahren nochmals zu einer Beziehung fähig war. Inka war eine einfühlsamere Frau, als seine beiden Frauen vorher. Sie akzeptierte es, dass ihr Freund berufsbedingt wenig und unregelmäßig Freizeit hatte. Ihm hingegen war klar, dass Inka nicht ihre Stelle bei der Stadt Bonn aufgeben und zu ihm nach Duisburg ziehen würde. Daher war der Anfang ihrer Beziehung auf die Wochenenden beschränkt, an denen sie sich abwechselnd bei ihm oder in ihrer Wohnung in Bonn-Pützchen, einem kleinen rechtsrheinischen Vorort von Bonn, trafen.

Eine Wochenendbeziehung war auf Dauer für beide nicht akzeptabel. Aus diesem Grund wollten sie in näherer Zukunft irgendwann zusammenziehen.

Die freiwerdende Stelle im Kommissariat Bonn kam ihm gerade recht. Binnen eines Monates wurde sein Versetzungsantrag bewilligt, und seitdem wohnte er bei seiner Freundin. Da die Wohnung gerade einmal 55 qm groß war, galt es als nächsten Schritt eine für beide Seiten akzeptable Wohnung zu finden. Leider hatten sie gegensätzliche Vorstellungen von der Lage einer gemeinsamen Wohnung. Inka bevorzugte die ländliche Gegend, wohingegen er ein Stadtmensch war. Mehrere gute Wohnungsangebote hatten sie inzwischen ausgeschlagen. Er bezweifelte bereits, ob sie jemals übereinkommen würden. Die Vororte von Bonn und die Städte und Gemeinden im Rhein-Sieg-Kreis, die er bisher kennen gelernt hatte, wirkten auf ihn kleinstädtisch, ja fast dörflich. Er würde wohl über kurz oder lang in den sauren Apfel beißen müssen und eine Wohnung in irgendeinem Nest akzeptieren.

Während Eisenstein noch mit sich rang, ob er mit der Lage dieser Wohnung klarkommen würde, war seine Freundin bereits Feuer und Flamme, als sie das Haus gesehen und den ersten Rundgang durch die Räume unternommen hatte. Nur noch drei weitere Mieter im Haus und diese Parterrewohnung mit großer Terrasse und freiem Zugang zum angrenzenden Rasen, auf dem einige große Bäume im Sommer angenehmen Schatten spenden würden, war ihre Idealvorstellung von einer Mietwohnung. Außerdem lag das Naherholungsgebiet der Siegaue direkt vor ihrer Haustüre.

Inka führte ein angeregtes Gespräch mit dem Makler. Eisenstein schlenderte in Gedanken vertieft durch den Raum. Sein Handy klingelte. Mehrmals ignorierte er den nervigen Klingelton. Letztendlich griff er dann doch in seine Jackentasche und holte das Handy hervor.

Bereits im Display sah er, dass es seine Dienststelle war. Seine träumerischen Vorstellungen von einer gemütlichen Wohnung lösten sich in Nichts auf, und die Realität hatte ihn wieder. Er hasste es, wenn sich seine Kollegen in seiner Freizeit meldeten, denn das hieß meistens, dass er seine privaten Aktivitäten unterbrechen und unverzüglich seinen Dienst aufnehmen musste. Und so war es wahrscheinlich auch heute.

„Eisenstein“, meldete er sich unfreundlich wegen der Störung. Er ging in das leere Schlafzimmer nebenan, damit er unbehelligt telefonieren konnte.

„Entschuldigen Sie bitte die Störung, Herr Hauptkommissar. Aber es wurde eine Leiche gefunden“, druckste die Kollegin, denn sie wusste, wie ungern ihr Chef an einem Sonntagmorgen gestört werden wollte. Besonders, seitdem er diese Freundin hatte. Es schien ihr, als ob Eisenstein mit den Gedanken nicht immer bei seiner Arbeit war, sondern sich ausschließlich alles um seine Freundin drehte.

„Na, toll. Eine Leiche. Und das an einem Sonntagmorgen. Wo?“

Eisensteins gute Laune war mit einem Male dahin.

„Am Sieglarer See“, erhielt er einsilbig die geforderte Information.

„Wo ist denn das nun wieder? Können Sie mir sagen, wie ich dahin komme?“, fragte er unfreundlich. „Geben Sie einfach die Hüttenstraße in Troisdorf in Ihr Navigationsgerät ein. Dort finden sie einen Wanderparkplatz, wo ein Kollege Sie erwartet“, kam sofort die konkrete Antwort.

„Danke. Ich mache mich auf den Weg.“

Eisenstein beendete das Gespräch und steckte das Handy wieder in seine Jackentasche.

„Wer hat angerufen? Doch hoffentlich nicht deine Dienststelle?“, erkundigte sich Inka mit traurigem Gesichtsausdruck. Sie hatte trotz des angeregten Gespräches mit dem Makler mitbekommen, dass Eisenstein ein Telefonat geführt hatte.

„Es wurde eine Leiche gefunden. Ich muss leider los“, entgegnete Eisenstein.

„Klärst du alles Weitere mit dem Makler? Wir sprechen dann heute Abend darüber“, bat er seine Freundin.

„Okay, mache ich. Hoffentlich dauert es nicht zu lange.“

Zum Makler gewandt meinte er kurz: „Es tut mir leid. Ich muss leider weg. Mein Dienst. Sie verstehen sicher.“

Eilig umarmte er seine Freundin. Noch ein flüchtiger Kuss, denn er war mit den Gedanken bereits im Dienst, und schon schlug die Wohnungstüre hinter ihm zu.

Er setzte sich in seinen BMW, den er sich im vergangenen Jahr angeschafft hatte, und programmierte sein Handy mit den Angaben, die er von seiner Kollegin im Kommissariat in Bonn erhalten hatte.

Noch immer war das Navigationsgerät in seinem Wagen sein wichtigster Begleiter. Vor circa zwei Monaten hatte er die Stelle als leitender Kriminalhauptkommissar der Abteilung für Kapitalverbrechen übernommen. Bis dahin kannte er sich überhaupt nicht, weder in Bonn, noch in der Umgebung aus. Obschon er fast täglich Außentermine wahrnehmen musste, hatte er sich noch keinen fundierten Überblick über die Verkehrsinfrastruktur der Stadt Bonn und des Rhein-Sieg-Kreises verschafft. Ohne Navi wäre er aufgeschmissen.

Nachdem das Gerät einen Satelliten gefunden und die Route berechnet hatte, trat er das Gaspedal viel zu hart durch, so dass die 184 PS seines BMWs einen schwarzen Reifenabdruck auf dem Asphalt hinterließen, und machte sich auf den Weg zum Sieglarer See.


Die zu dieser Jahreszeit noch tief stehende Morgensonne blendete Kommissar Frank Eisenstein, als er durch die schmale Zufahrt auf den Wanderparkplatz am Hochwasserdamm der Sieg einbog. Mehrere PKW und zwei der üblichen, blauen Streifenwagen, sowie ein VW-Bus standen auf dem Parkplatz.

„Na toll, die gesamte Mannschaft der Spurensicherung und der Rechtsmedizin ist bereits eingetroffen“, stellte er leicht säuerlich fest, indem seine Mundwinkel nach unten fielen.

Er mochte es nicht, wenn er am Tatort ankam und dort bereits eine Menge Menschen umherwuselten. Er erhielt dann keinen uneingeschränkten, objektiven Eindruck mehr vom Tatort. Es war nun eben heute nicht mehr zu ändern. Der Unfall am Ortseingang von Bergheim an der Einbiegung zur L 269 hatte ihn erhebliche Zeit gekostet.

Der Parkplatz war holprig und Eisenstein lenkte seinen Wagen bis zum Ende der Fahrzeugreihe seiner Kollegen. Er hatte gerade den Motor abgestellt und die Tür zum Aussteigen geöffnet, als eine freundliche und bestimmte Stimme an sein Ohr drang:

„Sie sind sicher Kriminalhauptkommissar Eisenstein? Mein Name ist Grunert, Polizeiwache Troisdorf.“

Ein Mann, etwa Mitte dreißig, beugte sich zu ihm hinunter und reicht ihm seine Hand. Eisenstein fand es noch immer recht befremdend, wenn ihn jemand mit seiner neuen, vollständigen Berufsbezeichnung ansprach. Die Anrede mit Kriminalhauptkommissar durch den freundlichen Polizisten war für Eisenstein noch ungewohnt.

„Ja, richtig. Sie begleiten mich zum See“, entgegnete Eisenstein mehr als Aufforderung denn als Frage.

„Ja, ja. Folgen Sie mir bitte. Es sind nur wenige Hundert Meter bis zu der Stelle am See.“

Und schon schritt der freundliche Polizist vorweg. Eisenstein schwang sich aus dem Wagen und folgte mit einigen Metern Abstand.

Sie überquerten den Damm und kamen in ein Waldgebiet. Der Weg wurde feuchter, und an manchen schattigen Stellen standen noch Wasserlachen der vergangenen Tage. Eisenstein schaute missmutig auf seine dunkelblaue Anzugshose und seine schwarzen Lackschuhe. Wie sollte er heute Morgen ahnen, dass ein Einsatz an einem matschigen Seeufer bevorstand? Noch heute würde er ein Paar derbe Schuhe oder Stiefel für Einsätze wie diesen im Wagen platzieren. Sein Dienstbereich umfasste schließlich jetzt auch ländliche Gegenden. Und dem musste er Tribut zollen.

Kurz vor dem Seeufer wollten sie in einen schmalen Pfad einbiegen, der mit einigen Metern Abstand zum Wasser am Seeufer entlangführte. Ein Absperrband der Polizei sollte dafür sorgen, dass kein Unbefugter den Weg betrat. Zusätzlich achtete ein Polizist darauf, dass diese Maßnahme auch beachtet wurde.

„Guten Morgen, ich bin Kommissar Eisenstein“, grüßte Eisenstein freundlich, und Grunert nickte bestätigend dem Polizisten zu.

„Waren noch keine Schaulustigen hier?“, fragte er.

„Es waren einige Spaziergänger hier und ein, zwei Jogger. Aber kein Problem“, antwortete der Polizist.

Eisenstein und Grunert bückten sich unter das Absperrband und folgten dem Pfad. Inzwischen stand die Sonne direkt über den Wipfeln der Bäume am gegenüberliegenden Ufer. Ihre Strahlen ließen das Wasser glitzern und drangen auch auf den schmalen Weg. Der Morgennebel hatte sich vollständig aufgelöst, und um die rosafarbenen Blüten des Springkrautes surrten die ersten Wespen. Obschon Eisenstein seine Kollegen noch nicht sehen konnte, hörte er bereits aus einiger Entfernung deren leises Gemurmel und geschäftiges Treiben. Hinter der nächsten Wegbiegung hatten sie ihr Ziel erreicht. Der Pfad war vollständig zugestellt mit irgendwelchen Koffern, Stangen, Stativen und sonstigem Gerät.

„Da wären wir“, bemerkte Polizist Grunert unnötiger Weise, als ob Eisenstein dies nicht selbst bemerkt hätte.

Grunert ließ Eisenstein den Vortritt, indem er sich mit dem Rücken in das Springkraut drängte und Eisenstein mit der Hand auffordert, vorbeizugehen. Eisenstein zog die Beine hoch und in einem fast anmutig wirkenden stelzenden Gang über niedergetretene Stängel des Springkrautes suchte er sich den Weg bis zur Angelstelle.

Der Polizeifotograf hatte seine Arbeit bereits erledigt und packte gerade seine Kamera und die weiteren Utensilien in mehrere, bereitstehende Koffer.

„Hallo, Herr Kommissar. Ich bin hier fertig. Endlich mal wieder eine Leiche in unserem Bereich und dann noch in so einem schönen Ambiente hier am See. Viel Erfolg“, meinte er scherzend zu Eisenstein.

Eisenstein kannte den Mann nicht. Der Mann trug eine helle Cordhose und ein dunkleres Cord-Sakko und entsprach mit dieser Kombination überhaupt nicht Eisensteins Stil. Insgesamt machte er jedoch auf ihn einen gepflegten Eindruck. Woher dieser Fotograf wusste, dass er der zuständige Kommissar war, konnte Eisenstein nicht nachvollziehen.

„Schön, dass Sie sich über den Leichenfund so freuen können. Nun lassen Sie mich mal vorbei“, bat er bestimmt.

Eisenstein drängte sich an dem Fotografen vorbei, um die Fundstelle der Leiche in Augenschein zu nehmen, vergaß dabei aber nicht, ihn höflich anzulächeln.

Nun stand er zwischen den hohen Stängeln des Springkrautes. Inzwischen war eine größere Anzahl der Pflanzen niedergetrampelt und der Zugang zur Angelstelle war dadurch erheblich breiter als ursprünglich.

Durch seine schnelle Auffassungsgabe, und aus der Erfahrung der vielen Dienstjahre bei der Polizei, registrierte Eisenstein in wenigen Augenblicken alle Details am Fundort der Leiche. Ein umgekippter Stuhl, der ebenfalls umgekippte Angelkoffer und die herausgefallenen Kleinteile, unter anderem ein Totschläger zur Betäubung der gefangenen Fische, lagen in der Nähe des Wassers. Ein Klappmesser und eine Taschenlampe, die nicht mehr leuchtete, lagen dagegen am oberen Rand der Lichtung. Direkt am Wasser waren zwei eiserne Rutenhalter in die Erde gesteckt, auf denen je eine Angelrute abgelegt war. Die Angelschnüre beider Angeln verschwanden bereits nach kurzer Entfernung vom Ufer im trüben Wasser des Sees. Einen Bissanzeiger konnte Eisenstein auf der Wasseroberfläche nicht erblicken. Mehrere leere Flaschen Bier lagen verstreut am Angelplatz. Eine noch ungeöffnete Bierflasche ragte aus einer Angeltasche heraus, die neben dem umgefallenen Stuhl lag. Eisenstein zog die Stirn in Falten. Irgendetwas fehlte hier. Nur was?

In seiner Jugend hatte er einen Vorbereitungskurs zur Fischerprüfung besucht und danach auch die Fischerprüfung abgelegt. Tatsächlich hatte er in der Folgezeit nur wenige Male geangelt. Andere Interessen drängten sich in den Vordergrund und fesselten ihn mehr. Dies hatte sich bis heute nicht geändert.

Wenn er wieder den Kopf freihatte, würde er sich sicher erinnern, was hier fehlte.

Er schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf die Leiche, die noch immer im Wasser lag. Davor kauerte eine Person in einem weißen Overall und weißer Kopfhaube. Ihre Beine steckten in Stiefeln, die bis über ihre Knie reichten.

Zwei Mitarbeiter der Spurensicherung knieten auf dem Boden und erledigten ihre Arbeit, indem sie alle Gegenstände auf Fingerabdrücke überprüften. Als sie Eisenstein sahen, erhob sich einer von ihnen und meinte zu Eisenstein:

„Sie können bis zu der Leiche gehen. Wir sind noch nicht ganz fertig mit unserer Arbeit. Verwertbare Fußabdrücke haben wir nur in der Nähe des Wassers sichergestellt.“

Eisenstein ging konzentriert und behutsam bis direkt ans Wasser und stellte sich neben die Person im weißen Overall.

„Guten Morgen, Frank. Was machst du denn hier?“

Mit diesen Worten erhob sich die in weiß gekleidete Person. Zwei rehbraune Augen sahen Eisenstein an und er erkannte Susanne Ohlrogge. Ihre langen schwarzen Haare hatte sie geschickt unter der weißen Haube versteckt.

„Hm, ja. Hallo … Susanne. Und was machst du hier?“, stotterte Eisenstein und schluckte mehrmals.

Er war mehr als überrascht. Diese Konfrontation hatte er nicht erwartet, und es war ihm mehr als unangenehm.

Vor vier Jahren, gerade als seine zweite Frau ihn verlassen hatte, lernte er Susanne auf einer mehrtägigen Fortbildungsveranstaltung der Polizeigewerkschaft kennen. Beide wollten dem stressigen Polizeialltag entrinnen und hatten das Seminar im Rahmen des Bildungsurlaubs gebucht.

Bereits am ersten Abend an der Bar funkte es zwischen ihnen. Am Anfang plätscherte ihr Gespräch nur auf beruflicher Basis dahin. Im Laufe des Abends kamen sie sich näher und die Themen wurden persönlicher und intensiver. Es war nicht der Alkohol dafür verantwortlich, dass beide noch am gleichen Abend in Susannes Bett landeten. Eisenstein hatte tatsächlich Feuer gefangen und auch Susanne war verliebt. Es wurde für beide das schönste Seminar, das sie je besucht hatten. Die Beziehung dauerte nur zwei Monate. Als Eisenstein merkte, dass er und Susanne das Gesprächsthema bei fast allen Kolleginnen und Kollegen war, beendete er die Beziehung. Aus Feigheit vor dem Gerede der Kollegen, und weil er Angst vor einer neuen Beziehung hatte. Nicht aus fehlender Liebe, wie er sich nachher eingestand. Er selbst haderte lange mit seiner Entscheidung, die er aber nicht zurücknehmen wollte. Susanne war wütend und enttäuscht. Sie ließ sich sogar nach Stuttgart versetzen, um jede mögliche Begegnung mit ihm für die Zukunft auszuschließen. Und dann heute diese unerwartete Begegnung.

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