Loe raamatut: «Wie man glücklich wird und dabei die Welt rettet», lehekülg 3

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Die moderne Sinn-Leere

Vielleicht kommt man damit auch schon dem Rätsel auf die Spur, warum gerade in der hochentwickelten, satten und vor äußerlichen Gefahren vergleichsweise sicheren Welt des Westens die Zahl der Depressionen ins Unermessliche zu steigen scheint. Wenn alle wesentlichen Bedürfnisse gedeckt sind, keine wahrhaften Herausforderungen mehr erkannt werden, fällt es vielen schwer, klare und tragende Ziele zu definieren.

Der US-amerikanische Psychologe Abraham Maslow (1908-1970) verdeutlicht diesen Sachverhalt anhand eines Modells. Es ist das berühmte Modell der Bedürfnispyramide. Demnach haben Menschen zunächst das besonders ausgeprägte Bedürfnis, die notwendigsten Grundlagen ihres Lebens abzudecken. Hierzu gehören Schlaf, Essen und Trinken. Ist diese Bedürfnisebene nachhaltig gedeckt, will die nächste Bedürfnisstufe erreicht werden. Der Mensch strebt auf dieser zweiten Stufe nach Geborgenheit und einer Grundsicherheit (vor wahrhaft lebensbedrohender Gefahr). Sind auch diese Bedürfnisse gedeckt, stellen sich soziale Bedürfnisse ein wie Freundschaften und Zugehörigkeitsgefühle. Auf der nächsten, der vierten Stufe, strebt der Mensch nach Anerkennung und Status. Hat er schließlich auch diese Bedürfnisse abgedeckt, möchte er sich auf der letzten Stufe selbst verwirklichen.

Natürlich ist es auf eine unmittelbare Art leichter und zugleich erfüllender, die notwendigen Grundbedürfnisse der ersten Stufen jener Pyramide abzudecken. Diese sind konkret. Wer Hunger hat und sein mühsam verdientes Abendbrot genießen kann, hat ein direktes und wohl begründetes Glücksempfinden. Wenn es schwer ist, an Nahrung zu kommen, wird dessen Beschaffung zum großen, immer wieder antreibenden Lebensziel. Wenn Lebensmittel hingegen in grandiosem Überfluss vorhanden sind und einen selbstverständlichen Teil der Lebenswirklichkeit darstellen, ist ihre Beschaffung banal und kann kein großes, tragfähiges Ziel mehr darstellen.

Viele Menschen der westlichen Moderne haben nun aber alle wesentlichen Bedürfnisse abgedeckt. Es bleibt einzig das abstrakte Gut der individuellen Selbstverwirklichung. Dieses ist jedoch kaum zu fassen. Es ist ein diffuses Streben nach möglichst viel von möglichst allem. Unfähig, sich konkrete Ziele zu setzen, fügen sich daher immer mehr Menschen in vorgegebene Muster ein und lenken sich mit einfachen Kurzzeitgenüssen ab. Sie jagen billiger Unterhaltung und hochgepriesenen Konsumgütern hinterher. Sie werden zu Süchtigen des schnellen Gefühlskicks. Doch existentielle Leere lässt sich damit nicht füllen.

Diese Leere stellt zunehmend nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Menschheit als Solche eine Gefahr dar. Die Flucht in verquere, irrationale, aber gerade in ihrer Schrägheit auch große Ziele, die von außen, von Demagogen oder Gurus verschiedenster Couleur vorgegeben werden, kann diese innere Leere schließlich jederzeit gut ausfüllen. Aus der inneren Erfüllung wird jedoch nur allzu oft eine äußere Gefahr. Je größer das vorgegebene Ziel, desto sinnstiftender. Im Namen eines übermenschlichen, z.B. religiösen oder völkischen Ziels, wurden und werden auch deshalb immer wieder Terrorakte verübt oder Kriege geführt.

Warum das moderne Sinn-Angebot der
institutionalisierten Arbeitswelt nicht weit trägt

In der heutigen Zeit ist es in der westlichen Welt vor allem das institutionalisierte Arbeitswesen, das jene Leere zu füllen verspricht. So bieten z.B. Unternehmen Struktur, Anerkennung, Geld, Ziele und damit Sinn. Im Gegenzug erhalten sie Aufopferungsbereitschaft und Lebenszeit.

Dabei entspricht die heutige Arbeitsstruktur in ihrer Absurdität durchaus der Tätigkeit des Sisyphos. Anstelle der strafenden Götter sind es die vermeintlichen Notwendigkeiten der globalen Ökonomie, die das Tun treiben.

Die Herstellung vieler heutiger Güter und Dienstleistungen verschafft in ihrer äußeren Sinnlosigkeit lediglich dem an der Herstellung beteiligten einen inneren Sinn. Dessen innere Leere wird kurzzeitig gefüllt, indem er klare Aufgaben zugeteilt bekommt, an denen er sich orientieren kann. Eifrig produziert er Dinge, die meist nur für den Selbsterhalt des bestehenden Wirtschaftssystems nötig sind. Überlebenswichtig ist ein Großteil der hergestellten Güter und angebotenen Dienstleistungen jedenfalls schon lange nicht mehr. Stattdessen wird unnützer Überfluss geschaffen, von dessen Verkauf diejenigen bezahlt werden, die an seiner Herstellung beteiligt sind, damit sie ihrerseits unnützen Überfluss, der wiederum von anderen hergestellt wurde, konsumieren können.

Das Bedürfnis an den Konsummassen wird in der Regel durch teure Marketingkampagnen künstlich erzeugt. In immer kürzeren Zyklen werden neue Modevorgaben in die Welt posaunt. Die Anschaffung des neuesten Trends beschert dann eine kurze, befriedigende Hormonausschüttung, gefolgt von der bekannten Leere und dem Wunsch nach mehr.

Weltweit verbringen Milliarden von Menschen ihre Zeit damit, Produkte zu fertigen, die ihnen Bequemlichkeit bringen oder Zeit einsparen sollen. Dass die Erfindung, Produktion und Vermarktung dieser Dinge meist weitaus mehr Bequemlichkeit und Zeit kostet, wird dabei übersehen. Viele der vermeintlich zeitsparenden und Bequemlichkeit bringenden Erfindungen bescheren zudem an anderer Stelle das glatte Gegenteil des Intendierten. Ein bekanntes Beispiel ist der digitale Postverkehr. So sollte einst die eMail das für viele lästige Schreiben von (Geschäfts-)Briefen ablösen und damit Zeit und Mühe sparen. Schnell getippt und direkt abgeschickt sollte eine eMail den Kauf von Papier, das mühevollere Tippen mit einer Schreibmaschine, das Frankieren und Adressieren sowie den Weg zum Briefkasten oder der Postfiliale ersparen. Nicht bedacht wurde, dass die Vereinfachung des Verfahrens eine Vervielfachung des Postverkehrs mit sich bringen würde. Heute leiden Firmen unter der eMail-Flut. Anstatt einiger Dutzend Briefe pro Woche erhalten selbst kleine Firmen heute manchmal mehrere hundert zu bearbeitende eMails pro Tag, gelegentlich pro Stunde. Nicht wenige wünschen sich daher die Zeiten des herkömmlichen Postverkehrs sehnlichst, aber natürlich vergeblich zurück. Der digitale Postverkehr brachte also keine Zeitersparnis, sondern er wurde selbst zu einem zeitfressenden Monster.

Das alles wäre dennoch erfreulich, würde es den modernen Menschen in seinem äußerlich sinnlosen Tun nachhaltig mit innerem Sinn erfüllen.

Doch leider hat sich herausgestellt, dass die derart vermittelten Ziele nicht groß genug sind, um ein Leben dauerhaft zu füllen. Schließlich thront anders als bei Sisyphos kein erhabener Berggipfel über allem. Stattdessen handelt es sich, nüchtern betrachtet, meist um banale Projekte eines beliebigen Arbeitgebers, deren Umsetzung zu einem wichtigen Ziel erklärt wird. Derartige Ziele stellen aber ihrerseits bestenfalls kurze Wegetappen auf der Reise dar, die eben gerade nicht langfristig erfüllend sein können, sondern sich wieder nur in kurzen Momenten erschöpfen.

Natürlich gibt es Menschen, die es schaffen, in ihrem Beruf Erfüllung und Sinn zu finden. Meist gelingt ihnen dies in Berufen, die nicht erst künstlich mit einem abstrakten Ziel versehen werden müssen und deren Ziel auch nicht ausschließlich in Dingen besteht, die außerhalb des eigentlichen Berufsprofils liegen – wie eben einem hohen Gehalt oder dem Gefühl von gesellschaftlichem Ansehen. Es handelt sich in der Regel um Berufe, deren Tätigkeit einen klaren gesellschaftlichen Mehrwert darstellt, der auch über die bloße Aufrechterhaltung des ökonomischen Systems hinausgeht. Bei derartigen Berufen ergibt sich idealerweise das Tätigkeitsprofil aus dem originären Ziel und nicht andersherum. Wer also den Wunsch hat, gesellschaftlich einen Mehrwert darzustellen und z.B. Mitmenschen konkret zu helfen, der wird sich einen Beruf suchen, der genau das umzusetzen verspricht. Das Ziel steht somit über dem Beruf und dessen Begleiterscheinungen. Selbst wenn sich im Berufsalltag Ermüdung breit macht oder Desillusionierungen einstellen, so kann doch das große Ziel bis zu einem gewissen Maß als tragender Sinn bestehen bleiben.

Leider ist dennoch gerade in Berufen mit gesellschaftlichem Mehrwert, seien es pflegende, kurierende oder pädagogische Berufe, die Burn-Out-Rate besonders hoch. Das liegt unter anderem auch daran, dass die ursprünglichen Ziele oft in zu weite Ferne rücken. Sie können bisweilen nicht mal mehr als grober Orientierungspunkt am Horizont erkannt werden. Stattdessen werden bürokratische, rechtliche, wirtschaftliche, dabei immer öfter marketingtechnische Elemente zum Hauptgeschäft. Wenn zu dieser ungewollten Zielverschiebung noch eine erhöhte Arbeitsbelastung hinzukommt und, wie etwa im Bereich der Pflege, selbst die sekundären Ziele wie Ansehen und Einkommen nicht erreichbar sind, ist das Abgleiten in den Burn-Out nahezu vorprogrammiert.

Nachhaltig in ihrem Beruf aufgehen können Menschen auch dann, wenn sie genau jener Tätigkeit nachgehen, die ihnen am besten entspricht. Sie haben schließlich ihre eigene Aufgabe und damit ihr eigenes Ziel aus ihren Talenten abgeleitet. Der Beruf ist dann lediglich Mittel zum Zweck für die Umsetzung dieses Talents. Wer also beispielsweise handwerklich sehr geschickt ist, gerne schreinert und von jeher das Ziel hatte, Schränke, Tische und Stühle herzustellen, der wird in dem Beruf des Schreiners langfristig von einem Sinn getragen werden. Leider werden Berufe mit derartig praktischem Umsetzungspotential gerade im handwerklichen Bereich immer seltener. Die meisten Produkte lassen sich günstiger und effizienter in maschineller Form an entlegenen Billiglohnstandorten anfertigen und in Teilarbeit an Fließbändern oder fließbandähnlichen Arbeitssystemen zusammenschrauben.

Ein Großteil heutiger Berufe scheint nun aber keinen anderen Sinn zu haben als den, das aktuelle Wirtschaftssystem am Laufen zu halten. Der einzelne Mitarbeiter weiß, wenn er sich selbst gegenüber ehrlich ist, oft gar nicht, was genau das Ziel seines Tuns ist. Der Soziologe David Graeber (geb. 1961) von der London School of Economics and Political Science schreibt: „Insbesondere in Europa und Nordamerika führen Heerscharen von Menschen während ihres ganzen Berufslebens Tätigkeiten aus, von denen sie insgeheim glauben, dass sie nicht ausgeführt werden müssten. Aus dieser Situation erwächst ein weitreichender moralischer und geistiger Schaden. Er ist eine Narbe, die sich quer über unsere kollektive Seele zieht.“

Aufgewertet werden viele dieser Jobs nicht nur durch das Gehalt, sondern immer öfter auch durch gut klingende Berufstitel, die gesellschaftliches Ansehen bringen sollen, in Wahrheit aber nur verbergen, welche Banalität eigentlich hinter der Tätigkeit steht.

Das einzige Ziel zahlloser Angestellter liegt wohl tatsächlich nur darin, über jede Notwendigkeit hinausgehende Mengen an Geld und Anerkennung zu erlangen oder einen Karrieresprung zu machen, der dann eben mehr Geld und Anerkennung zu bringen verspricht. Doch derartige Ziele sind schlichtweg zu klein, um lange tragen zu können. Entweder sie erfüllen sich oder es wird nach einigen Arbeitsjahren deutlich, bis zu welchem Grad sie maximal erfüllbar sind. In beiden Fällen werden sie sich früher oder später erschöpft haben. Nun bleibt für viele als langfristiges Ziel nur noch der Wunsch nach Ruhestand und viel frei gestaltbarer Zeit übrig. Passive Wünsche können jedoch nie sehr sinnstiftend sein, da sie nicht direkt beeinflussbar sind.

Gerade in Phasen der Freizeit wird zudem oft erst deutlich, wie wenig ein Mensch ohne Lebenssinn mit dieser Zeit anfangen kann.

Die Gestaltung der Freizeit stellt für viele eine Überforderung dar. Sie betäuben sich mit kurzen Gefühlshochs, die ihnen Unterhaltungsindustrie und Konsumwirtschaft bescheren. Oder sie versuchen verzweifelt, den Sinn der Arbeit in ihre Freizeit hinüberzuretten. Nicht wenige sind durchaus froh, wenn sie auch während des Feierabends noch vorgeblich wichtige und belastende Telefonate führen können oder eMails am Küchentisch diensteifrig bearbeiten dürfen. Die innere Langeweile und Leere kann damit gut kaschiert werden. Der Philosoph Mark Kingwell schreibt hierzu treffend: „Der Workaholic kolonisiert seine Verzweiflung angesichts der Leere des unproduktiven Lebens, indem er es mit Arbeit ausfüllt.“

Wenn eines Tages der unvermeidliche Ruhestand eintritt, werden viele von der empfundenen Sinnlosigkeit ihres Daseins vollends eingeholt. Wer sein Leben lang nur kurzfristig anberaumte und fremdbestimmte Aufgaben übernommen hat und sich in der Freizeit vor allem mit dem Konsum von Gütern oder billiger Unterhaltung abzulenken gelernt hat, wird sich schwer tun, im Ruhestand plötzlich eigene Lebensziele zu definieren und somit tieferen Sinn zu finden.

Das Fehlen eines Lebenssinns lässt nicht nur den eigenen Antrieb erlahmen und das Leben somit freudlos werden, sondern es erhöht auch das Frustrationspotential. Da es schließlich keinen großen Plan gibt, der alles überlagert, werden die Banalitäten des Alltags ungefiltert als schier unerträgliche Belastung wahrgenommen. Wer sich hingegen von einem großen Ziel leiten lässt, wird sich von drei Tagen Regen, einem verspäteten Zug, einer dezenten Staubschicht in einem Hotelzimmer oder anderen vergleichbaren Lappalien nicht verdrießen lassen. Stattdessen wird er höchstwahrscheinlich selbst mit wahrhaften Problemen, wie etwa ernsten Krankheiten oder Unglücksfällen ganz gut zurechtkommen. Er wird diese lediglich als unangenehme Hürden auf seinem klar umrissenen Weg erkennen und daher sofort tateifrig daranmachen, sie zu überwinden. Sie werden dabei jedoch nicht zum bestimmenden Momentum im Leben und somit ihrer Schärfe beraubt.

Immerhin können auch kleine Alltagsprobleme im Äußeren, wie die Staubschicht im Hotel oder der verspätete Zug, den Fokus auf sich ziehen. Wenn sie schon keinen Sinn geben, so stellen sie doch winzige Herausforderungen und Aufgaben dar. Das Verfassen eines Beschwerdebriefs an die Hotelleitung oder den Betreiber der Bahn wird dann schnell zu einem kurzzeitigen Ziel, das wenigstens für den Moment Orientierung gibt.

Noch schlimmer wird es, wenn selbst diese belanglosen Probleme wegfallen, wenn der leere Mensch also ganz auf sich zurückgeworfen wird. Wenn es nichts mehr im Äußeren gibt, worauf der Fokus gerichtet werden kann, dann richtet er sich nach Innen. Jetzt wird jedes kleine Kratzen, jedes Jucken, jede hormonell bedingte Stimmungsschwankung einer peniblen Selbstanalyse unterzogen. Der leere Mensch fühlt sich nun krank, schwach und leidet oft fürchterlich an Dingen, die von der Außenwelt nicht als problematisch erkannt werden. Vielleicht findet er in einer angenommenen Krankheit tatsächlich sogar einen Lebenssinn. Die regelmäßigen Arztbesuche, die ständige Versorgung mit Medikamenten, die Umstellung der Diät und vieles andere füllen das Leben aus. Der Kampf gegen die mehr oder weniger eingebildete Krankheit wird zur erfüllenden Aufgabe.

Das, was die menschliche Umwelt bei solchen Menschen als einen wehleidigen, dauer-nörgelnden oder frustrierten Ton wahrnimmt, ist letztlich nichts anderes als ein Symptom tiefer Sinn-Leere. Zu der eigenen Unzufriedenheit des leeren Menschen kommt dann oft noch hinzu, dass Mitmenschen auf Abstand gehen, da sie übertriebene Larmoyanz nicht gut ertragen können.

Das moderne Sinn-Angebot der institutionalisierten
Arbeitswelt als Gefahr

Neben dem Dilemma, dass die ausdifferenzierte, hoch spezialisierte Arbeitswelt zwar das letzte gesamtgesellschaftlich verbindende und institutionalisierte, aber eben überwiegend nicht nachhaltige Sinnmodell der Gegenwart anbietet, gibt es ein zweites, diesem Sachverhalt entwachsendes, dabei allerdings noch weitaus bedrohlicheres Problem. Dieses besteht darin, dass durch jenes arbeitsame Tun die begrenzten Ressourcen der Erde in erschreckendem Maße aufgebraucht werden. Indem in immer größerer Menge unnütze Dinge hergestellt werden, deren Erfindung, Produktion und Vermarktung lediglich dazu beiträgt, dass immer mehr Menschen ihre existentielle Leere kurzzeitig füllen, werden zugleich die lebensnotwendigen Grundlagen der Erde ausgeplündert. Die begrenzten Ressourcen nähern sich nachweislich dem Ende ihres Vorkommens.

Für eine gewisse Zeit kann genau jene Tatsache das bestehende System natürlich weiter füttern. Schließlich werden zusehends neue Technologien erfunden, hergestellt und werbewirksam vermarktet, die ressourcenschonend sein sollen. Tatsächlich wies schon Bertrand Russell darauf hin, dass circa die Hälfte aller Arbeit darin besteht, die Schäden der anderen Hälfte zu reparieren. Neu entstehende Industrien können nun also neue Arbeitsaufgaben stellen, die Menschen weiterhin kurzfristig Lebenssinn geben. Dieser Sinn kann sogar insoweit tragfähig sein, als die Herstellung umweltverträglicher und ressourcenschonender Gegenstände nun als überlebenswichtig erscheint. Doch ohne Materialverbrauch kann eine produzierende Wirtschaft nicht auskommen. Um das erreichte und zur Gewohnheit gewordene Niveau an Warenüberfluss auch nur annähernd zu halten, wird es nicht genügen, eine ressourcenschonendere Wirtschaft aufzubauen. Es wird über kurz oder lang unumgänglich sein, einen radikalen Lebenswandel zu etablieren, der globalen Vorbildcharakter gewinnt und zu einer neuen Normalität wird.

In jüngerer Zeit wird deshalb immer wieder darüber nachgedacht, wie Produktion und Konsum auf verträgliche Art eingedämmt werden können. Die Idee des „Bedingungslosen Grundeinkommens“ erscheint vielen als attraktiver Lösungsansatz. Jeder Bürger soll demnach eine staatlich festgelegte Zuwendung bekommen, die hoch genug ist, um den Lebensalltag zu bestreiten. Für die Finanzierung dieser Zuwendung gibt es verschiedene Modelle. So begegnen beispielsweise Vorschläge, eine hohe Konsumsteuer, eine Besteuerung der natürlichen Ressourcen und der Treibhausgas-Emissionen oder eine hohe Besteuerung jeglichen Geldtransfers einzuführen.

Aufgrund der erhöhten Steuern könnte in der Theorie die blinde Konsumlust eingedämmt werden. Das Grundeinkommen würde zugleich ein kollektives Abdriften in existentielle Armut verhindern. Die Produktion der einzigen wahrhaft relevanten, nämlich der lebenswichtigen Güter könnte überwiegend maschinell erfolgen.

Die sofortige Umsetzung derartiger Überlegungen würde aber wohl in weiten Teilen der Bevölkerung zu einer psychologischen Katastrophe führen. Selbst der letzte kleine Rest an Lebenssinn fiele für all jene, die ihren Broterwerbsjob aufgeben würden, weg. Die Gesellschaft würde endgültig in Wehleidigkeit und existentieller Leere erstarren und früher oder später einen formidablen Nährboden für dubiose Sinnverkäufer aller Art bieten.

Welche Auswirkungen der Verlust der Arbeit auf eine Gesellschaft hat, die es nicht vermag, sich selbst Lebenssinn zu geben, zeigt eine beeindruckende Studie aus den 1930er Jahren. Sie wurde in dem Buch „Die Arbeitslosen von Marienthal“ beschrieben. Das Werk von Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel gilt als Meilenstein der empirischen Sozialforschung, ist heute aber leider etwas in Vergessenheit geraten. Die Forscher untersuchten auf ungeheuer detailversessene und umfassende Art anhand verschiedenster Methoden die psychologischen Auswirkungen des Arbeitsverlusts auf die Gemeinschaft in Marienthal.

Der österreichische Ort Marienthal war um eine Fabrik herum entstanden. Die Bewohner hatten sich stark mit dieser Fabrik identifiziert, fast jeder hatte für sie gearbeitet. Sie hatte den Menschen ihren Lebenssinn gegeben. Als die Firma im Zuge der Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er Jahre insolvent wurde und ihre Tore für immer schließen musste, konnten sich auch die wenigen anderen Arbeitgeber am Ort nicht mehr halten. Letztlich wurde nahezu der komplette Ort arbeitslos. Da es allen Bewohnern in etwa gleich ging, gab es unter ihnen keine Ausgrenzungen, Herablassungen oder Neidgefühle. Für einen gewissen Zeitraum erhielten die Marienthaler staatliche Unterstützungssätze. Diese waren aufgrund der intensiven Arbeitsleistungen für die einst florierende Firma teils genauso hoch oder höher wie das Einkommen, das Bürger benachbarter Orte erhielten. Das hatte wiederum zur Folge, dass „die in der Umgebung arbeitenden Familien sich in ihrer äußeren Lebenshaltung von den Arbeitslosen kaum unterscheiden [sic].“ Umso gravierender waren dafür die psychologischen Unterschiede. Schnell stellten sich Verbitterung, Resignation und Langeweile ein. Die Sinnlosigkeit des Lebens erschien allgegenwärtig. Der einst florierende und lebhafte Ort Marienthal verkümmerte. Der herrschaftliche Park, früher Stolz der Region, verwilderte. In der Studie steht: „Obwohl fast jeder Marienthaler Zeit dafür hätte, kümmert sich niemand um den Park.“ Die Lebensmotivation der Marienthaler war verschwunden.

Die Forscher gingen soweit, sogar die Bewegungen der Bewohner zu untersuchen. Sie fanden heraus, dass diese langsamer und schleppender wurden. Marienthal hatte „die Beziehung zur Zukunft verloren“. Es gab keine antreibenden Ziele mehr. Das Leben wurde sinnlos. Aus der Auswertung zahlreicher Fragebögen leiteten die Forscher ab, dass die meisten Marienthaler nicht mehr wussten, womit sie ihre Tage füllen sollten. „[…] was zwischen den drei Orientierungspunkten Aufstehen – Essen – Schlafengehen liegt, die Pausen, das Nichtstun ist selbst für den Beobachter, sicher für den Arbeitslosen schwer beschreibbar.“ Nur vereinzelt wurden noch sinnerfüllte Handlungen notiert: „Buben waschen, Hasen füttern usw. Alles was sonst geschieht, steht mit der eigenen Existenz in keinem sinnvollen Zusammenhang.“ Aus den Einzelbeobachtungen der Forscher lässt sich erkennen, dass oft gerade diejenigen Marienthaler, die vornehmlich nach beruflichem Erfolg und Karriere strebten, in tiefer Verzweiflung endeten. Sie hatten als Lebensziel allein den abstrakten Plan „nach oben“ zu kommen. Eigene, darüber hinausgehende Aufgaben hatten sie sich nicht zu geben gelernt.

Doch es begegnen auch Ausnahmen. So wird ein Mann genannt, der sich schon in seinem früheren Leben durch starke Selbstbestimmung ausgezeichnet hatte. Im Ersten Weltkrieg hatte er eine Beförderung abgelehnt und sich auch immer wieder gegen seine Vorgesetzten gewehrt. Stets hatte er eigene Pläne und Ziele. In italienischer Kriegsgefangenschaft hatte er sich vorgenommen, Italienisch zu lernen. Er gestaltete selbst diese für seine Mithäftlinge schwere Zeit somit zu einer sinnvollen und damit erfüllenden Lebensphase. Später übernahm er politische Funktionen. Außerdem war er ein leidenschaftlicher Leser, hatte das Ziel, die Welt möglichst umfassend zu verstehen. Auch im Moment der ausweglosen Arbeitslosigkeit schaffte er es, seinem Leben in Form eines privaten Literaturstudiums Sinn zu geben. Sicher diente ihm die Literatur dabei nicht zur bloßen Unterhaltung. Er missbrauchte sie nicht zu dem Zweck, sich abzulenken und der Welt zu entfliehen, sondern er begriff sie als Chance, sich und sein Denken zu erweitern und fortzuentwickeln. Und so blieb er geistig lebendig und hoffnungsvoll. Er litt weniger als andere.

Vanusepiirang:
0+
Ilmumiskuupäev Litres'is:
22 detsember 2023
Objętość:
340 lk 1 illustratsioon
ISBN:
9783946959632
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