Nach Verdun

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Horst Bosetzky/ Jan Eik

Nach Verdun

Kappes vierter Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

Horst Bosetzky alias -ky lebt in Berlin und gilt als «Denkmal der deutschen Kriminalliteratur». Mit einer mehrteiligen Familiensaga sowie zeitgeschichtlichen Spannungsromanen avancierte er zu einem der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Zuletzt erschien von ihm der Berliner Familienroman «Bratkartoffeln oder Die Wege des Herrn». Für die Reihe «Es geschah in Berlin» verfasste er auch die Krimis «Kappe und die verkohlte Leiche» (2007) und «Der Lustmörder» (2008).

Jan Eik geboren 1940 in Berlin als Helmut Eikermann, ist seit 1987 freiberuflicher Autor und Publizist. Er schrieb zahlreiche Kriminalromane und -erzählungen sowie Hör_ und Fernsehspiele. Zu seinen Veröffentlichungen gehören u. a. «Der siebente Winter» (1989), «Der Geist des Hauses» (Ein Friedrichstadtpalastkrimi, 1998), «Trügerische Feste» (2006) und «Schaurige Geschichten aus Berlin» (Neuausgabe 2007). In der Reihe «Es geschah in Berlin» erschien auch sein Krimi «Der Ehrenmord» (2007).

Originalausgabe

1. Auflage 2008

© 2008 Jaron Verlag GmbH, Berlin

1. digitale Auflage Zeilenwert GmbH 2013

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

Satz: LVD GmbH, Berlin

ISBN 9783955520038

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelseite

Impressum

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

Die Reihe

EINS

SEIT DIENSTAG, dem 4. Februar 1916, lag die Kompanie in der Nähe von Chaumont in Stellung, gleich hinter der Eisenbahnlinie, die Verdun einstmals mit dem Norden verbunden hatte. Von dem ansteigenden Gelände aus waren im Süden deutlich die Ruinen von zwei kleinen Dörfern zu erkennen, Flabas und Ville. Dahinter lag düster der Caures-Wald, durch dessen nördliche Zipfel sich die Frontlinie schlängelte.

Mehr über die Gegend wusste keiner aus dem ganzen Zug. Nicht einmal der oberschlaue Oberlehrer Seifert, der mit seinem Geschwafel allen auf die Nerven ging. Dass sie sich einige Kilometer nördlich von Verdun befanden und dass diese schwerbefestigte Stadt das Ziel ihres Angriffs sein würde, brauchte er niemandem mehr zu erklären, dennoch wiederholte er es zwölfmal am Tag. Jeder wusste, dass man die 5. Armee unter dem Oberbefehl des Kronprinzen nur zu diesem Zweck hierher verlegt hatte. Die Offiziere taten dennoch sehr geheimnisvoll, insbesondere der Oberleutnant von Zabelsdorff. Der stolzierte umher, als habe er den Plan für die Offensive mit dem Kronprinzen persönlich entworfen.

Seit Zabelsdorff kurz nach Weihnachten den Befehl übernommen hatte, war es ihm gelungen, sich mit seinen Garnisonsmanieren bei jedermann gründlich unbeliebt zu machen. Nur Seifert kroch ihm in den Hintern. Die anderen - gewiefte Frontschweine, die sie waren - gingen ihm aus dem Weg, soweit das zwischen den zerschossenen Häusern des kleinen Fleckens überhaupt möglich war. Von Wegen oder gar Straßen konnte sowieso keine Rede sein. Es regnete seit Tagen, und alles versank nach und nach immer tiefer im Schlamm.

«Jenau wie daheim in Astpreißen», stellte der Riesenkerl Böwert mit seiner gewohnten stoischen Ruhe fest, während Heinrich Pietsch vergeblich nach begehbaren Stellen im aufgeweichten Grund fahndete. Als Großstädter war er es nicht gewohnt, bei jedem Schritt ins Bodenlose zu versinken - in Stiefeln aus Ersatzleder und mit Holzsohle. Dieser ganze Krieg stank ihm zum Himmel. Wenn er eine Möglichkeit gesehen hätte zu desertieren, hätte er es getan. Doch wohin sollte man sich in dieser zerschossenen Ödnis wenden? Und wie würden die Kameraden reagieren?

Der kleine Ludwig mit der verstimmten Mundharmonika würde vermutlich gar nichts merken, aber sein hasserfüllter Rivale Clement, Primgeiger in einem Berliner Vorstadt-Theater, hatte seine Heimtücke und seine ruhige Hand beim Zielen mehr als einmal bewiesen. Und Seifert, das Oberarschloch, würde in Geschrei ausbrechen, noch bevor er zehn Schritte getan hätte.

Der einzige aufgeweckte Kerl, mit dessen Verständnis er wohl rechnen könnte, schien ihm sein Vornamensvetter und Altersgenosse Schimaniak zu sein, mit dem er sich ein wenig angefreundet hatte. Straßenbahnschaffner war der, irgendwo in einem Kaff östlich von Berlin, und in seinem ganzen Auftreten eben ein richtiger Kleinstädter und Mucker, zu keiner Widerrede bereit. Nicht etwa, dass Pietsch zu besonderer Widersetzlichkeit neigte. Das konnte er sich in seinem Beruf gar nicht leisten. Als Verkäufer von Herrenkonfektion in einem der ersten Berliner Ausstattungshäuser war er es gewohnt, gegenüber Kunden und Vorgesetzten Diskretion und Distinktion an den Tag zu legen.

Beim Spieß Marschallek kam er mit diesem Verhalten auch einigermaßen durch. Das war ein richtiger Beamter, und solange man den Korrekten spielte, ging alles gut. Nur bei von Zabelsdorff half das alles nichts. Wie er es auch immer anfing - der verfluchte Kompaniechef hatte ihn auf dem Kieker. Irgendetwas fand er immer auszusetzen an dem «Koofmich», wie er Pietsch allzu gerne titulierte. Pietsch war kein Koofmich! Pietsch war Herrenkonfektionär. Das Beharren auf dieser Berufsbezeichnung hatte ihm allerdings nur vier Stunden Exerzierübung im Schlamm eingebracht. Das würde er dem Oberleutnant eines Tages heimzahlen!

Dem Mistkerl von Kompaniechef hatte er auch sein elegantes Menjou-Bärtchen opfern müssen. «Undeutsche Rotzbremse», hatte von Zabelsdorff gehöhnt. Als wären der Kaiser und Hindenburg kahlgesichtig!

Gemeinsam mit dem jungen Leutnant von Hiebenthal, auf den Zabelsdorff aus Sicht der Mannschaften einen ausgesprochen ungünstigen Einfluss ausübte, hatte ebendieser das einzige bewohnbare Gebäude in Chaumont für sich requiriert und residierte darin, als handle es sich um das kaiserliche Schloss. Natürlich hatte sich auch Leutnant d. R. Wittkopp dort einquartiert. Und betrübt feststellen müssen, dass hier nach anderthalb Kriegsjahren selbst für einen bescheidenen Sammler von Kunst und Antiquitäten nichts mehr zu holen war. Vorbei die schönen Zeiten in Belgien und im Lothringischen, wo er manches schöne Stück erbeutet hatte.

In der Nacht zum 12. Februar rückte die Kompanie bei strömendem Regen bis in die vordersten Stellungen vor. Am Morgen erwarteten sie jede Minute das Angriffssignal. Doch es blieb an diesem Tag aus - und in den nächsten neun Tagen ebenfalls. Erst am

21. Februar setzte sich die Armee mit ihrer geballten Feuerkraft in Bewegung.

Es wurden furchtbare Tage und Nächte. Die Nässe und der kalkige Schlamm verwandelten die Kompanie innerhalb von Stunden in eine Truppe weißgrauer Gestalten, die sich vergeblich in dem aufgeweichten Boden festzukrallen versuchten. Nachdem sie die Unterstände der eigenen und der französischen Frontlinie hinter sich gelassen hatten, suchten die Männer hinter jedem Baumrest, hinter jeder Bodenwelle Schutz, immer wieder angetrieben von dem Befehl: «Vorwärts! Vorwärts!»

 

Eine endlos lange Woche war vergangen, und noch immer lagen sie im Dreck, kaum ein Dutzend Kilometer von ihrem Ausgangspunkt entfernt, wo sie ihr Gepäck zurückgelassen hatten. Klarte es einmal auf, erahnte man rechts das Flusstal der Marne. Von Süden her flogen im Minutenabstand die schweren Geschosse der französischen Artillerie heran, hinter ihnen antworteten die 38er und die 42er der Dicken Bertha.

Die Mannschaftsstärke der Kompanie war auf knapp die Hälfte geschrumpft. Dem kleinen Ludwig hatte ein Granatsplitter den Hals zerfetzt. Ungerührt hatte Böwert am Abend dessen Verpflegung in Empfang genommen und vollständig vertilgt.

Die versprochene Ablösung ließ ebenso auf sich warten wie an den meisten Tagen das Essen. Gerade hatte man ihnen ein paar zusätzliche Notrationen bewilligt. Böwert wurde immer aufsässiger, und Heinrich Pietsch stand ihm kaum nach mit seinem wortlosen Widerstand gegen alles, was von Zabelsdorff anordnete. Selbst der friedliche Schimaniak begann allmählich zu rebellieren.

Von Zabelsdorff, von irgendeinem wirren Papier angestiftet, begann von Stoßtruppunternehmungen zu faseln, für die er die Männer bereits in Chaumont auszubilden versucht hatte: «Nur der rücksichtslose Drang jedes einzelnen Soldaten nach vorn in Verbindung mit der hervorstechenden Kampfkraft eines Stoßtrupps schafft den Erfolg! Die Hauptaufgabe eines solchen Stoßtrupps besteht in der Wegnahme vorgeschobener Sappen, Flankierungsanlagen, Maschinengewehrstellungen und verteidigter Unterstände sowie im Aufrollen von Gräben.»

Eines Abends war es dann so weit. Der feindliche Beschuss hatte ein wenig nachgelassen. Sie hofften, in einem zerschossenen französischen Unterstand, in dem ein grauenvoller Verwesungsgeruch hing, etwas Ruhe zu finden, als die Essenholer eintrafen, begleitet von dem tiefgebückt schleichenden Oberleutnant.

Der ließ ihnen keine Zeit für eine ruhige Mahlzeit. «Männer!», sagte er mit unterdrückter Stimme. «Es ist so weit! In einem kühnen Stoßtruppunternehmen werden wir die vom Feind gehaltene Höhe 317 nehmen, die uns den Weg zur Marne versperrt.»

«Herr Oberleutnant, dort is äin dickes MG-Nest!», wandte Böwert ein. Er war der Einzige, der schon kaute.

«Na eben, Böwert! Und Sie mit Ihrer Kraft werden es ausräuchern!»

Böwert sah Pietsch an und der ihn.

«Es ist so gut wie keine Deckung vorhanden», wagte Schimaniak anzumerken. Die Höhe vor dem Talou-Rücken, die sich kaum gegen den dunklen Himmel abzeichnete, lag kahl und nur von einem schütteren Rest zerschossener Baumstümpfe umgeben vor ihnen. Sie kannten das Gelände. Die Flieger hatten sogar Luftaufnahmen geliefert.

«Sie können ja warten, bis man Ihnen eine eigene Brustwehr errichtet!», fuhr von Zabelsdorff Schimaniak an. «Ich verbitte mir alle Widerreden!»

Er gönnte ihnen kaum Zeit zum Essen und setzte seine Einweisung währenddessen fort. «Ausrüstung des Stoßtrupps: Patronen in Rocktaschen oder Brotbeutel, möglichst viele Handgranaten. Zwei Sandsäcke mit je drei, vier Handgranaten um den Hals, Drahtschere am Koppel, Gewehr ohne Seitengewehr umgehängt auf dem Rücken, Pionierschanzzeug im Futteral am Koppel, dazu weitere Handgranaten. Angriff frontal oder noch besser von der Flanke her im Graben, entsprechend ‹Stoßtrupp im Angriff›! Böwert als bester Werfer voran. Dazu Seifert, damit ein bisschen patriotische Stimmung aufkommt. Schimaniak darf meinetwegen noch den Kanisterdeckel als Schutzschild mitnehmen. Dazu Clement, der ja angeblich immer die erste Geige gespielt hat.»

«Nur wir viere, Herr Oberleitnant?», erkundigte sich Böwert ungläubig.

«Warten Sie gefälligst ab!», donnerte der zurück. «Grundsatz ist, zur Vermeidung unnötiger Verluste und gegenseitiger Behinderung, einen Trupp nur so stark zu machen, wie es zur Erreichung der gestellten Aufgabe notwendig ist. Verstanden?»

Er nannte einen weiteren Namen und musterte das Häufchen der Übriggebliebenen. «Na, gibt’s noch einen Freiwilligen? Wenn’s klappt, ist das Eiserne Kreuz sicher!»

Niemand rührte sich. Alle wussten, wen von Zabelsdorff noch auswählen würde. Doch er legte es darauf an, den Betroffenen zappeln zu lassen. «Basteln Sie sich zwei, drei geballte Ladungen, falls es Hindernisse gibt», sagte er und dann, wie nebenbei: «Koofmich Pietsch, das ist doch ’ne Aufgabe wie geschaffen für Sie!»

Eine Stunde später zogen sie los. Es regnete wieder einmal in Strömen. Das Feuer aus Richtung der Franzosen war stärker geworden, aber die Maschinengewehre schossen wenigstens nicht von der Höhe. Man hatte den Trupp offensichtlich noch nicht bemerkt … Doch in den Drahtverhauen und Unebenheiten zwischen den nur von ferne kahl wirkenden Baumstümpfen blieb ihr Unternehmen hoffnungslos stecken. Die Helmspitzen der ledernen Pickelhauben hatten sie weisungsgemäß längst abmontiert, um damit nirgends hängenzubleiben, doch an eine andere Gefahr hatte niemand gedacht: Der Regen weichte die papierenen Sicherungskappen der Handgranaten auf.

Seifert, der ein wenig zurückgeblieben war, versuchte vergebens, sich durch ein Gewirr von Stacheldraht aus einer flachen Mulde zu befreien, als sich die am Stiel der Handgranate baumelnde Abreißschnur in dem Draht verfing und die Explosion auslöste.

Sofort setzte heftiges MG-Feuer ein. Clement schrie auf und warf sich wie alle anderen zu Boden. Böwert lag etwa zehn Meter entfernt hinter einem Baumstumpf. Pietsch und Schimaniak, zwei geballte Ladungen am Körper, kauerten nebeneinander. «Keinen Schritt weiter!», murrte Schimaniak. Pietsch schwieg. Eine MGGarbe strich eine Handbreit über sie hinweg. Sie duckten sich noch tiefer. Jeder hatte neben sich ein Bündel aus sieben Handgranatenköpfen, die Sprengkapseln in den Öffnungen mit Hölzchen festgeklemmt und mit Draht um einen weiteren Kopf herumgebunden. Man musste nur den Stiel mit der Sprengkapsel einschrauben und abreißen - und nach fünfeinhalb Sekunden würde die achtfache Ladung krepieren.

Rechts neben Pietsch war das Gelände ein wenig abschüssig, wie er im Feuerschein einer einschlagenden Granate bemerkte. Er griff nach der Ladung und stellte sie wie ein Rad auf. Beinahe von selbst kullerte sie den sanften Hang hinunter. Im Lärm der Feuerstöße, die jetzt hinter ihnen erwidert wurden, hörte er nicht, ob das Bündel irgendwo an einem Baum oder im Draht hängenblieb.

«Wir müssen hier weg!», sagte er rau.

Der Kamerad, an dessen Namen sich Pietsch nicht erinnerte, kroch heran. «Der Clement ist schwer verwundet», keuchte er.

Clement, ein falscher Fuffziger, wie ihn Pietsch insgeheim nannte, seit der ihn einmal beim Spieß verpfiffen hatte, lag nur wenige Schritte entfernt und stöhnte. «Wir bringen dich zurück», versprach ihm Schimaniak. Leise rief er nach Böwert, der auch antwortete.

Wieder setzte das MG ein.

«Lass das Scheißding hier liegen», zischte Pietsch zu Schimaniak, der noch immer die geballte Ladung schleppte. «Da braucht nur …»

Ja, es brauchte nur ein Fünkchen oder eine Kugel, um eine der Sprengkapseln zur Explosion zu bringen. Was genau es war, erfuhr niemand. Ein Feuerschlag flammte auf und hinterließ Tod und Verderben.

ZWEI

ES GING auf Feierabend zu. In dem schmalen Laden in der Seitenstraße war es schon fast dunkel. Dennoch trödelten noch immer zwei Kundinnen im schummrigen Licht herum, obwohl Erich Röddelin schon zweimal vernehmlich geäußert hatte, die Warenvorräte seien für heute erschöpft - bis auf Kaffee-Ersatz, Rübenmarmelade und saure Gurken, die in ihrem Fass vor sich hin stanken.

Das bisschen, was sonst noch vorhanden war, gedachte er nicht mehr heute Abend und schon gar nicht an solche Figuren zu verkaufen wie die beiden ärmlich gekleideten Weibsen. Solche Gestalten kannte er zur Genüge. Die hofften jedes Mal, was Besonderes zu erhaschen - und versuchten am Ende, auch noch anschreiben zu lassen.

Kredit is nich - der’s tot, hatte Erich mal über einer Wirtshaustheke gelesen. Der Spruch hatte ihm gefallen. Dabei war Erich Röddelin ein guter Mensch. Jedenfalls hielt er sich dafür, und selten hatte ihm jemand widersprochen - von seiner Thea mal abgesehen, aber auf deren Urteil gab er noch weniger als auf das fremder Leute. Und mit fremden und fast immer unangenehmen Leuten hatte er es den lieben langen Tag zu tun, von der morgendlichen Warenbeschaffung, die immer schwieriger wurde, bis zum späten Ladenschluss. Selbst danach hämmerten sie noch an die Jalousie oder belästigten einen sogar an der Wohnungstür mit ihren einfältigen Wünschen, als gäbe es für einen deutschen Kolonialwarenhändler keinen Feierabend. In Friedenszeiten hatten Thea und er sich das notgedrungen gefallen lassen, da zählte jeder Pfennig.

Nun war seit fast zwanzig Monaten Krieg, und der entwickelte sich nicht ganz so, wie sich Erich Röddelin das in seinen treudeutschen Träumen vorgestellt hatte. Mit den anfänglichen Siegen war es längst vorbei, und den ganzen Winter über hatte es ausgesehen, als stecke der Karren ziemlich tief im Dreck. Erst jetzt ging es wieder vorwärts, wie es sich für ein deutsches Heer gehörte. In den nächsten Wochen musste dieses verfluchte Verdun fallen. Dann war der Weg nach Paris endlich frei.

Darauf wartete Erich Röddelin sehnsüchtig. Seiner Ansicht nach kam alles Übel nur von den Juden und davon, dass der gutmütige Kaiser das linke Sozialistenpack viel zu lange toleriert, ja in den Reichstag hatte einsickern lassen, wo es einzelne von den Kerlen tatsächlich wagten, den notwendigen Kriegskrediten ihre Zustimmung zu verweigern und damit Deutschlands Sieg zu gefährden. Wenn Erich Röddelin dergleichen des späten Abends im Preußischen Staatsanzeiger las, überkam ihn jedes Mal eine solche Wut, dass seine Thea sich vorsichtshalber ins Bett begab, um ihm nicht in die Quere zu kommen.

Manchmal war Röddelin nach solchen Nachrichten - es reichte schon ein verlorenes Gefecht oder ein kurzzeitiger Rückzug an der Front - aus dem Haus und in die nächste Kneipe gestürmt, um seinen gerechten Zorn im Kreise Gleichgesinnter herunterzuspülen. An denen hatte es zu Kriegsbeginn nicht gemangelt. Inzwischen jedoch glich das Bier verdünnter Pferdepisse, und selbst in der Eckkneipe war man nicht mehr sicher vor aufrührerischem Gesindel, das immer lauter aufmuckte, je länger der Krieg andauerte. Und je knapper die Lebensmittel und nötigsten Gebrauchsartikel wurden. Von Bier bis hin zu Mehl und Zimt bestand alles nur noch aus Ersatz. Und alle taten sie, als wäre er daran schuld und nicht das feindliche Ausland mit seiner Blockadepolitik!

«Jewisse Heringsbändja fressen sich dick und duhn», rief da beispielsweise einer von der Theke zum Stammtisch hinüber, «und unsaeins kann sehn, det die Würmer wat zwischen de Kiemen kriejen.»

«Denn musste erst mal die Olle dazu sehn», ergänzte ein anderer halblaut, aber Erich Röddelin hatte gute Ohren und verstand genau, worauf das abzielte. Als hätte er die aufquellende Figur seiner Thea nicht selber Tag für Tag vor Augen. Sie war nicht schlank gewesen, als er sie vor nunmehr 26 Jahren nach langem Werben geehelicht hatte, und jung auch nicht mehr. Aber was machte das schon? Er stammte vom Lande und war eher für was Handfestes zu haben als für Hungerhaken, die sich hinterm Besenstiel verstecken konnten. Sie schielte ein bisschen, na schön, und war ein paar Zentimeter größer als er, und ihre Stimme klang unüberhörbar in dem Grünkramkeller, den sie vom Vater Nieswandt übernommen hatte.

«Wenn die sich mal umdrehn will, muss eena rausjehn», hatten die Kundinnen in der Füsilierstraße schon damals hinter vorgehaltener Hand gelästert. Erich hatte es nicht gestört. Er war froh gewesen, nach all den Jahren in Pferdeställen und als Schlafbursche in stinkigen Furzmulden doch noch ein Auskommen gefunden zu haben in dieser unwirtlichen Stadt. Behaglich schmiegte er sich des Abends an das Fleischgebirge neben sich und schlief gewöhnlich schnell und traumlos ein.

Im Übrigen war Theas Korpulenz, der weder mit Hungerkur noch mit Korsett beizukommen war, keineswegs der einzige Grund gewesen, den verlotterten Grünkramkeller in der Nähe des Schönhauser Tors aufzugeben und hier, weit draußen in den Neubauten des Ostens, von vorn zu beginnen. Wäre es nach Thea gegangen, so hätte es ein Feinkostgeschäft mindestens in der Frankfurter Allee sein müssen. Doch Erich konnte rechnen. Selbst mit dem Erbteil des zur rechten Zeit dahingegangenen Schwiegervaters Nieswandt reichte es nur zu dem kleinen Laden in einer ruhigen Seitenstraße von Alt-Boxhagen, immerhin eine Stufe hoch vom Trottoir, wie das hier hieß, und nicht mehr neun runter in den dumpfen Kellermief wie in der Füsilierstraße. Kein Asyl für obdachlose Frauen gegenüber und kein jüdischer Fischgroßhändler an der Ecke. Die miesen Häuser im Scheunenviertel, in denen nicht mal mehr die ärmsten Juden wohnen wollten, waren inzwischen abgerissen. Eine weite Freifläche erstreckte sich dort, wie Erich bei einer morgendlichen Tour zur Zentralmarkthalle festgestellt hatte, der sogenannte Babelsberger Platz, dem man schließlich doch noch eine vaterländische Benennung hatte zukommen lassen. Bülowplatz hieß er jetzt und - da war sich Erich Röddelin sicher - für alle Zeiten.

 

Gleich rechts hinter der Kuhbrücke lag der Viehmarkt, und dahinter konnte man vom Ufer des Rummelsburger Sees hinüber nach Stralau gucken. Das war fast so etwas wie Heimat für Erich. Nur Thea musste gelegentlich an den steilen Abstieg in das Kellerloch und den feuchten Schimmel in allen Ecken erinnert werden, wenn sie der Vergangenheit allzu sehr nachjammerte. Er hingegen, Erich Röddelin aus Bismark in Vorpommern, war ein Mann des Fortschritts, der sich im nahen Aboli-Kino von Herzen an den Bildern deutscher Geschütze und deutscher U-Boote erfreuen konnte. Von den siegreichen deutschen Truppen hatte er allerdings eigentlich mehr erwartet. Sein eigener Militärdienst bei den Pasewalker Ulanen lag beinahe vierzig Jahre zurück, und weit hatte er es dabei nicht gebracht. Aber die Erinnerungen der Offiziere und Feldwebel an die siegreichen Kriege anno 1864, 1866 und 1970/71, an Alsen, Düppel und Sedan, waren da noch lebendig gewesen und hatten sich ihm eingeprägt. Stundenlang hatte er den Berichten gelauscht. Bald wusste er, wie man eine Attacke zu reiten und eine Schlacht zu schlagen hatte. Obwohl er nur der Pferdebursche war. Er stammte eben vom Lande und verstand, mit Tieren umzugehen.

Besser, als er mit Menschen umgehen konnte, wie Thea mitunter maulte, wenn seine pommersche Sturheit ihr besonders aufstieß. Oder wenn er eine Kundin mit ausnehmender Schroffheit bedachte, die vielleicht nicht mehr verlangte, als von der minderwertigen Ware wenigstens die korrekte Menge zu bekommen.

Thea war einfach zu weich. Sie fiel auf jedes mitleidheischende Gesülze der Weiber herein, die mit Engelszungen um ein paar Gramm oder ums Anschreiben feilschten, während sie vom Mann an der Front und von den hungrigen Kindern zu Hause schwafelten. Bohrte man ein wenig tiefer, wie es Erichs Art war, so stellte sich heraus, dass es sich der Ehegemahl in der belgischen Etappe wohl ergehen ließ und die Kinder sich bei der Großmutter auf dem Lande erholten.

Nein, ihm machte keiner was vor. Die Weiber nicht und die Kerle schon gar nicht, die Thea wie die Schellfische anglotzten, als wäre sie nicht in die Jahre gekommen und nicht so fett, wie sie nun einmal war. Am liebsten bediente Erich deshalb selber im Laden. Dann hatte alles seine Ordnung. Ein anerkennendes Lächeln hatte er allenfalls für die echten Kriegsverletzten übrig, von denen es in der Gegend schon einige gab. Arme Kerle! Was sich da vor Verdun und Douaumont tat, war gewiss nicht von Pappe, auch wenn die Berichte in der Kreuz-Zeitung knapp ausfielen. Am Ende würde der liebe Gott schon wissen, wem er den Sieg zusprach. Dann galt die stolze Aufschrift Kolonialwaren über der Ladenfront endlich wieder mit Fug und Recht!

Die ältere der beiden Frauen hatte sich zu einem Glas Rübenmarmelade entschlossen. Erich kannte die Leupolten und wusste, weshalb sie so lange gezögert hatte: weil sie hoffte, von Thea bedient zu werden.

Die andere dagegen, eigentlich noch im besten Alter für eine Frau, mickerte in den letzten Jahren mehr und mehr dahin, als bekäme ihr der Krieg nicht. Dabei kannte Erich Röddelin die Wahrheit so gut wie jeder andere Mensch im Umkreis von dreihundert Metern um die Mietskaserne in Alt-Boxhagen, in der sie wohnte: Sie hatte sich in der Kriegsbegeisterung der ersten Augusttage von ihrem Galan ein Kind anhängen lassen, ein pergamenthäutiges, ewig kränkelndes und greinendes Gör, das seinen ersten Winter nicht überlebt hatte. Seitdem schlich die Mutter wie ein schwarzer Strich durch die Landschaft, mit böse verzogenem Gesicht, als wären andere Leute an ihrem Unglück schuld. Es hieß, sie würde neuerdings bei der Eisenbahn arbeiten.

Kaum hatte die Leupolt die Groschen für die Marmelade aus ihrer zerschlissenen Geldbörse gefischt und einzeln vor Röddelin hingezählt, da klingelte die Ladenglocke, und gleichzeitig tauchte Theas nicht zu übersehende Masse in der Tür zum dunklen Hinterzimmer auf. «Nahmd, Frau Leupolt», grüßte sie leutselig, und die Leupolten hätte anscheinend am liebsten einen Hofknicks gemacht. Half ihr aber nichts mehr, denn Erich war schon um den Ladentisch herum getreten und schob das alte Weiblein sanft in Richtung Ladentür. Dabei erst fiel ihm auf, dass die andere, die jüngere Kundin spurlos verschwunden war.

«Machst du endlich Feierabend?», keuchte Thea.

«Nee», antwortete Erich gallig. «Vielleicht kommt ja noch deine Freundin, die Schlächtermamsell, und versucht, dich anzupumpen!»

Er wusste sehr wohl, von wem Thea die Wurstzipfel bezog, die sie heimlich im Bett kaute, im Glauben, er merke es nicht.

Statt einer weiteren Entgegnung schrie Thea plötzlich auf, als wäre ihr eine Ratte über den Fuß gelaufen. Schreckensbleich wies sie auf das Schaufenster. Von außen drückte jemand seine Visage gegen das Glas.

«Der schon wieder!», grollte Röddelin grimmig und hob drohend die Faust in Richtung Fenster. Doch schon tauchte das Gesicht, das sich zu einem diabolischen Grinsen verzerrte, ins Dunkel der Straße zurück.

Erich atmete auf. Ein Glück, dass der Kerl nicht in den Laden gekommen war, um auf seine übliche Weise zu stänkern! Einmal hatte ihm Erich mit den Blauen gedroht, und der Kerl hatte unter höhnischem Lachen den Laden verlassen, nicht ohne dabei absichtsvoll einen Sack mit Erbsen umzustoßen.

Er trat zum Fenster, lockerte den Gurt und ließ die Jalousie herunter. Im Laden war es jetzt beinahe vollständig dunkel. Die sauren Gurken, deren weißer Belag sich kaum noch verbergen ließ, verbreiteten einen so infernalischen Geruch, dass er beschloss, die Ladentür hinter dem Rollladen noch offenzulassen.

Langsam, damit sich die Lüftungsschlitze weit öffneten, ließ er die hölzernen Lamellen nach unten, als er plötzlich einen heftigen Schmerz an seinem Schienbein verspürte und vor Schreck den Gurt fahrenließ. Rasselnd knallte die Jalousie auf die Türschwelle. Jemand hatte genau den Augenblick, da er den Rollladen herabließ, abgepasst, um einen Stein oder einen anderen größeren Gegenstand in den Laden zu werfen und Erich damit zu verletzen. Zorn packte ihn. Doch noch ehe er jenes ominöse Wurfgeschoss zu ertasten vermochte, tat sich vor ihm ein krachender Feuerschlund auf, der den Laden in ein blutrotes Licht tauchte. Das war das Letzte, was Erich Röddelin wahrnahm.