Humanbiologie

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2 Phylogenese des Menschen

2.1 Entstehung der „menschlichen“ phylogenetischen Linie

Bis vor Kurzem war das vergleichende Studium der Anatomie, des Verhaltens und der Fossilien die einzige Informationsquelle über Prozesse, die den Menschen von Schimpansen abgetrennt haben. Unlängst wurden komplette Genome von Orang-Utan, Gorilla, dem Gemeinem Schimpansen, dem Bonobo, dem Neandertaler, dem „Denisova Menschen“ und einer Reihe von gegenwärtigen Menschen veröffentlicht. Hierdurch konnten wir sehr viele neue Informationen gewinnen.

2.1.1 Speziation Schimpanse – Mensch

Die Prozesse, welche die Speziation von Mensch und Schimpanse begleitet haben, können wir dank unserer Kenntnisse über den Divergenzgrad einzelner Gene rekonstruieren. Auf den ersten Blick überrascht es, dass die auf verschiedenen Chromosomen des menschlichen Genoms lokalisierten Gene von ihren homologen Schimpansengenen unterschiedlich weit entfernt sind – so als ob eine mehrmalige Artbildung aufgetreten sei. Während einige Gene sich voneinander etwa 11 mya getrennt haben, sind andere (insbesondere die Gene auf dem Geschlechtschromosom X) erst ungefähr 6 Millionen Jahre alt. Dieses Phänomen wurde mit einer zwischenartlichen Hybridisierung erklärt: Nach diesem Modell hat die von einem gemeinsamen Vorfahren ausgehende Abzweigung von Mensch und Schimpanse ca. 8 mya stattgefunden (wofür auch die ältesten Fossilien der menschlichen Evolutionslinie, insbesondere Sahelanthropus sprechen). Während der folgenden zwei Millionen Jahre hybridisierten jedoch die Genome der Menschen- und Schimpansenlinie auch weiterhin miteinander (siehe auch Box 2.1).

Box 2.1

Kreuzung zwischen Menschen und Schimpansen?

Schimpansen und Menschen sind genetisch nah verwandte Schwesterarten (ihre DNA ist zu 95% gleich, die kodierenden DNA-Sequenzen sind es sogar zu 99%). Dies führte wiederholt zu Spekulationen über eine Hybridisierung zwischen beiden Arten (wie z.B. zwischen Esel und Pferd). Der hypothetische Hybrid wird als Humanzee (Vater Mensch, Mutter Schimpanse) bzw. Chuman (Vater Schimpanse, Mutter Mensch) bezeichnet. Die Existenz solcher Hybriden ist allerdings nicht bewiesen.

Es mag von Interesse sein, dass Überlegungen zur Kreuzung von Mensch und Schimpanse schon in früher Vergangenheit angestellt worden sind. So berichtet der Mönch Petrus Damiani im 11. Jahrhundert von einem Wesen namens „Maimo“, angeblich das Produkt der sündigen Beziehung der Ehefrau des Grafen Guilelmus und seines zahmen Affen (welcher dann den Grafen in einem Anfall von Eifersucht tötete). Um eine Hybridisierung bemühte sich vor knapp hundert Jahren der russische Biologe Ilya Iwanow. Er führte mit Unterstützung der Gesellschaft der materialistischen Biologen der Kommunistischen Akademie erst in Afrika und später in der damaligen Sowjetunion entsprechende Experimente durch. Sie scheiterten am Mangel an Menschenaffen.

Es scheint, dass etwa 30% des Menschenaffengenoms falsche Informationen über die Phylogenese (ob Schimpanse – Mensch versus Gorilla oder Mensch – Gorilla versus Schimpanse) geben. Interessanterweise finden wir die nächsten Verwandten einiger menschlicher Gene in Gorillas und nicht in Schimpansen. Diese Unterschiede zwischen der Phylogenese der Arten – also [Gorilla × (Schimpanse – Mensch)] – und der Phylogenese einiger Gene – oft [Schimpanse × (Gorilla – Mensch)] oder [Mensch × (Gorilla – Schimpanse)] – lassen sich durch die sogenannte unvollständige Trennung der Linien erklären. Wenn in der Mutterart mehrere Allele desselben Gens (z.B. A und B) existieren, kann man annehmen, dass dieser Polymorphismus auch die Speziation überlebt und beide Tochterarten ihn vererben. Genauso kann ein angestammter Polymorphismus mehrere nacheinander folgende Artbildungen überdauern (z.B. die Speziation Gorilla × Schimpanse – Mensch und auch die folgende Speziation Schimpanse × Mensch), und erst in den einzelnen Tochterarten kommt es zu einer mehrmaligen parallelen Reduktion dieses Polymorphismus. Es kann passieren, dass bei Gorillas ein Allel (z.B. A) fixiert wird, während es bei Menschen und Schimpansen ein zweites Allel (B) sein wird, sodass die Evolution dieses Gens der Evolution der Arten entsprechen wird. Aber so muss es nicht sein. Falls zufälligerweise das gleiche Allel (z.B. A) im Genom der Menschen und der Gorillas fixiert wird, während sich ein anderes Allel (B) im Genom der Schimpansen durchsetzt, wird dieses Gen offensichtlich eine „trügerische“ Evolution liefern (Abb. 2.1). Als ein bekanntes (obwohl erst unlängst voll verstandenes) Beispiel kann das System der Blutgruppen dienen: Der Mensch hat die Allele A und B, Schimpansen tragen A, Gorillas B, Orang-Utans A und B, Gibbons A und B oder B. Diesen Polymorphismus haben sie wirklich von ihren mehrere Zehnmillionen Jahre alten Vorfahren geerbt. Die unvollständige Linientrennung, verbunden mit der Vererbung des angestammten Polymorphismus führt dann zu den gleichen Ergebnissen wie die Hybridisierung.


Abb. 2.1: Kladogramm der Homininae mit der Darstellung der möglichen Trennung von zwei hypothetischen Allelen, A und B, eines Gens. Im Fall (a) ist das Gen mit beiden Allelen unverändert in alle Linien übergangen und liefert damit selbst keine phylogenetische Information. Im Fall (b) wurde in der Linie Hominini nur das Allel B, in der Linie Gorillini das Allel A fixiert. In diesem Fall spiegelt die Evolution des gegebenen Gens die tatsächliche Phylogenese. Im Fall (c) wurde allerdings in der Gorilla- und Mensch-Linie zufälligerweise das Allel A, in der Schimpansen-Linie das Allel B fixiert, und die nur anhand der Evolution dieses Gens abgeleitete Phylogenese wäre falsch.

2.1.2 Basale Vormenschen

Der Anfang der phylogenetischen Linie zum Menschen, also der Zeitpunkt der Abspaltung von der Schwesterlinie zu den Schimpansen, wird auf die Zeit 6–8 mya datiert (Abb. 1.6 und 2.2). Wir können ohne jeden Zweifel annehmen, dass dieses Ereignis in Afrika stattgefunden hat, aber unsere Vorstellung von der geografischen und ökologischen Logik dieses Ereignisses hat sich in den letzten Jahren verändert. Die gemeinsamen Vorfahren der Menschen- und Schimpansenlinie lebten wahrscheinlich in Wäldern und nicht, wie früher angenommen, in Savannen (zugegeben – die Aufteilung unserer Ahnen in Waldschimpansen und Savannenmenschen war schön, elegant und einleuchtend). Der etwa zu gleicher Zeit entstandene Große Afrikanische Grabenbruch (Great Rift Valley) war offenbar doch nicht die Ursache der allopatrischen Speziation der Vorfahren von Schimpanse (westlich des Grabenbruchs) und Mensch (östlich davon). Heutige Schimpansen und Menschen unterscheiden sich deutlich. Daraus darf man indes nicht schließen, dass die zu dieser Divergenz führenden Schritte zielgerichtet waren, dass also die ersten Vorfahren des Menschen schon ein bisschen aufgerichteter, großköpfiger, religiöser, künstlerischer usw. waren, und auch nicht, dass sie in einer waldfreien, lichteren Landschaft lebten. Die Individuen der beiden frisch voneinander abgespaltenen Linien waren sicher kaum voneinander zu unterscheiden.


Abb. 2.2: Aufspaltung der Stammlinien zwischen afrikanischen Menschenaffen und Menschen. Rechts die Stammlinie, die zur Gattung Homo führt. Auf den kreuzenden Linien sind Vorläufer oder Vertreter von Nebenästen nach dem vermuteten Alter angeordnet. Links, im braunen Feld, das Jahr der Entdeckung ihrer Fossilien bzw. der Beschreibung der jeweiligen Vormenschengattungen bzw. (Unter-)Arten. (mya = million years ago).

Die paläontologischen Belege über die Anfänge der menschlichen Linie sind sehr fragmentarisch (siehe auch Box 2.2 und 2.3, Tab. 2.1, Abb. 2.2 bis 2.4). Sie werden durch zwei basale miozäne Formen repräsentiert: Sahelanthropus tchadensis (bekannt als „Toumaï“, Tschad, ca. 7 mya) und Orrorin tugenensis (Kenia, 6 mya).


Abb. 2.3: Fundorte der fossilen afrikanischen Hominiden. Die horizontalen Balken in der rechten Hälfte der Tabelle stellen das Alter der Fossilien in mya (1–7) dar. Fossilien von basalen Vormenschen, Australopithecinen, Angehörigen der Gattung Paranthropus, basalen Homo-Arten und von H.ergaster sind mit unterschiedlichen Farben gekennzeichnet.


Abb. 2.4: Übersicht über die bekannten Vor- und Urmenschenarten. Die horizontalen Balken stellen für jede Art die Zeitspanne ihrer Existenz dar (in Bezug auf die Zeitskala).

Box 2.2

Chronologie der paläoanthropologischen Entdeckungen

Oft wird behauptet, Darwin habe gesagt, der Mensch stamme vom Affen ab. Doch die Aussage stimmt so nicht: Er postulierte vielmehr, dass der Mensch und die heute lebenden Menschenaffen einen gemeinsamen Vorfahren hätten. Dieses Missverständnis war – und ist es auch noch heute – ein Grund, weshalb manchen Leuten Darwins Evolutionstheorie missfällt. Charles Darwin formulierte 1871 die Ansicht, die afrikanischen Menschenaffen stünden dem Menschen verwandtschaftlich am nächsten und die Wiege der Menschheit liege in Afrika. Zu seiner Zeit waren allerdings noch keine Fossilien von Urmenschen aus Afrika bekannt. Als erster fossiler Urmensch wurde der Neandertaler (Homo neanderthalensis) im Neandertal bei Düsseldorf gefunden und als solcher erkannt (1856). Ernst Haeckel brachte 1868 den hypothetischen Vormenschen Pithecantropus („Affenmensch“) in die Diskussion, der auch das fehlende Übergangsglied („missing link“) zum modernen Menschen darstellen sollte. Der erste Pithecanthropus wurde 1891 auf Java entdeckt und später dem Homo erectus zugeordnet. Erst 1924 fand man erste Überreste von Vormenschen (Australopithecus africanus) in Südafrika. Fortan galt Südafrika als Wiege der Menschheit, bis die Leakeys (siehe Box 2.3) 1959 in Ostafrika Fossilien eines Vormenschen entdeckten, der später als Homo habilis bekannt wurde.

 

Die meisten spektakulären paläoanthropologischen Funde stammen aus Ostafrika (Tansania, Kenia, Äthiopien), wobei viele erst in der letzten Dekade (ab 1999) beschrieben worden sind. Unerwartete paläoanthropologische Entdeckungen machte man während der letzten Jahre aber auch in Malawi, im Tschad sowie außerhalb Afrikas – in Spanien, Georgien und auf der Insel Flores in Südostasien (Abb. 1.10). Allerdings wurden bislang keine vormenschlichen Fossilien (Australopithecus etc.) außerhalb Afrikas entdeckt. Die ältesten Urmenschfossilien (Gattung Homo) stammen aus Afrika, manche sind auf Afrika beschränkt. Auch molekularbiologische Befunde unterstützen den afrikanischen Ursprung der Menschen.

Box 2.3

Paläanthropologie und ihre Vertreter

Paläoanthropologie ist ein Teilgebiet der Anthropologie und der Paläontologie und befasst sich mit der Suche nach und der Untersuchung von fossilen Hominiden und der Rekonstruktion ihrer Stammgeschichte, Evolution und Lebensweise anhand von Fossilien. In letzter Zeit werden die klassischen paläontologischen Methoden und Befunde durch paläogenetische Ansätze bedeutend ergänzt (Box 3.3).

Zu den weltweit bekanntesten Paläoanthropologen zählt zweifellos die Familie Leakey.

Louis Seymour Bazett Leakey (1903–1972), kenianischer Paläontologe, Paläohistoriker, Archäologe, Naturschützer britischer Herkunft, spielte zusammen mit seinen Angehörigen, vor allem mit seiner Frau Mary, seinem Sohn Richard und seiner Schwiegertochter Meave, die zentrale Rolle bei der Durchsetzung der Theorie der afrikanischen (insbesondere ostafrikanischen) Herkunft der Menschheit. Auf das Konto der Familie Leakey gehen viele wichtige Entdeckungen (Ausgrabungen und Erstbeschreibungen) von fossilen Vor- und Urmenschen mehrerer Arten und Gattungen sowie von fossilen Fußspuren. Louis Leakey initiierte langfristige Feldforschungsprojekte zur Erforschung des Verhaltens von Schimpansen (Jane Goodall), Gorillas (Dian Fossey) und Orang-Utans (Biruté Galdikas) (Box 6.3). Das Nachrichtenmagazin Time zählte ihn und seine Familie zu den 100 einflussreichsten Menschen des 20. Jahrhunderts.

Zu den bedeutendsten deutschen Paläoanthropologen zählt Gustav Heinrich Ralph von Koenigswald (1902–1982), der an den Universitäten in Utrecht und Frankfurt am Main lehrte. Im Auftrag der Niederländischen Geologischen Gesellschaft wirkte er in 1930er- und 1940er-Jahren als Paläontologe in Indonesien. Er hat unter anderem einen Schädel von H.erectus gefunden sowie Gigantopithecus entdeckt und beschrieben. Ein renommierter und einflussreicher deutscher Vertreter der heutigen Paläoanthropologie ist Friedemann Schrenk (*1956), der an der Universität in Frankfurt am Main lehrt. Berühmt wurde er durch den Fund von H.rudolfensis in Nordmalawi (1991) (siehe Tab. 2.1).

Tab. 2.1: Übersicht der 35 bedeutenden paläoanthropologischen Entdeckungen

(modifiziert, korrigiert und wesentlich ergänzt nach Gibbons 2006).


JahrEntdecker bzw. ErstbeschreiberSpeziessonstigeBezeichnungenAlter(MYA)FundortInterpretation, Bedeutung
1864William KingHomo neanderthalensisNeandertaler0,2–0,03Neandertal,Deutschlandentdeckt 1856; erstes wissenschaftlich beschriebenes Fossil eines Urmenschen
1891–1893Eugène DuboisHomo erectusJava-MenschPithecanthropus erectus0,8–1,2Trinil,Javaindizierte eine mögliche asiatische Herkunft der Menschheit
1908OttoSchöttensackHomo heidelbergensis0,6–0,2Mauer,Deutschlandder Vorfahre der Neandertaler und des modernen Menschen
1924RaymondDartAustralopithecus africanusTaung-Baby1,0–2,0Taung,RSArelativ kleines Gehirn, mit einem großen Vorderhirn; biped; Fund führte zum Umdenken, dass die Menschheit doch sich in Afrika evolvierte
1929Otto Zdansky und Davidson BlackHomo erectusPeking-MenschSinanthropus pekinensis0,2–0,5Zhoukoudian,ChinaSchädel ähnlich zum Java-Mensch; nach neueren Hypothesen (2011) sind sie aber doch so unterschiedlich, dass sie zwei Auswanderungswellen durch H.erectus aus Afrika indizieren
1933Arthur Tindell HopwoodProconsul africanus21–14Victoriasee,Keniadie Gattung gehört zu den frühesten bekannten Vertretern der Menschenartigen (Hominoidea)
1934G. Edward LewisRamapithecus (Sivapithecus?) brevirostris8,0–13Siwalik,Indienlange Zeit für den ältesten Vormenschen gehalten
1938Robert BroomParanthropus robustus2,0–1,5Kroomdraai, RSABroom erkannte richtig, dass es sich nicht um die Vormenschen der Gattung Australopithecus handelt, sondern um eine Seitenlinie – daher die Bezeichnung „Nebenmensch“
1947Robert BroomAustralopithecus africanusMrs. Ples2,1–2,0Sterkfontein,RSAdas jüngste aller bisher entdeckten Exemplare von A.africanus
1959Mary LeakeyParanthropus boiseiZinjanthropus boisei, Australopithecus boisei (Nussknacker-Mensch)2,3–1,4Olduwai,Tansaniaerstes Hominid-Fossil aus Ostafrika
1960LouisLeakeyHomo habilis1,8Olduwai,Tansaniaerster „Urmensch“, größeres Gehirn und kleinere Molaren als Australopitheken
1969RichardLeakeyHomo sapiensOmo 1, Omo 20,185Omo, Äthiopienentscheidendes paläontologisches Beweisstück, dass Homo sapiens sich zunächst in Afrika entwickelte und erst später die übrige Welt besiedelte
1974Donald JohansonAustralopithecus afarensisLucy3,1Hadar,Äthiopienfür die nächsten 20 Jahre ältester bekannter Vertreter der Hominina; kleines Gehirn; biped
1975Colin Groves und Vratislav MazákHomo ergasterKNM-ER 9921,9–1,4Koobi Fora, Keniaanhand eines 1971 von R.Leakey entdeckten Fossils als eine neue Homo-Art beschrieben Stammesform der afrikanischen „Großmenschen“
1976Andrew HillAustralopithecus afarensisFußspuren3,6Laetoli,Tansaniabis dahin ältester Beweis der Bipedie bei Hominiden
1985Alan Walker und Richard LeakeyParanthropus aethiopicusBlack skullAustralopithecus aethiopicus2,5Turkana See, Keniamöglicherweise Vorläuferart von P.boisei und P.robustus
1985Alan Walker und Richard LeakeyHomo ergasterTurkana BoyHomo erectus1,6Turkana-See,Keniaaußergewöhnlich gut erhaltenes Skelett eines Jungen
1986Valerii AlexeevHomo rudolfensisKNM-ER 14701,8Turkana-See,Keniader von R.Leakey 1972 entdeckte Schädel wurde erst 1986 als eine basale Homo-Art beschrieben
1991Dawit Lortkipanidse„Homo georgicus“Dmanissi-Mensch,Homo habilis,Homo erectus1,85Dmanissi,GeorgienBeweis, dass Vertreter der Gattung Homo 300.000 Jahre früher nach Eurasien vordrangen, als zuvor angenommen
1993Friedemann SchrenkHomo rudolfensisUR 5012,4Uraha,Malawider älteste Vertreter der Gattung Homo – eine halbe Million Jahre älter als das Fragment, das Richard Leakey 1972 am Turkana-See gefunden hatte; erster alter basaler Homo außerhalb (Nord)Ostafrikas
1992Gen Suwa und Tim WhiteArdipithecus ramidusArdi4,4Aramis,Äthiopienzur Zeit der Entdeckung der älteste Hominid; primitiver Milchbackenzahn. primitive Bipedie
1994Meave LeakeyAustralopithecus anamensis3,9–4,1Kanapoi,KeniaSchienbein zeigt, dass 4,1 MYA die Bipedie schon vollentwickelt war
1995Michel BrunetAustralopithecus bahrelghazaliAbel3,5Koro, Toro,Tschaderstes Fossil eines frühen Hominiden aus Zentralafrika; ähnelt A.afarensis
1996Yohannes Haile-SelassieArdipithecus kadabba5,8Awash,ÄthiopienZähne zeigen einigen Merkmale der Hominina; wahrscheinlich biped.
1997Bermuder de CastroHomo antecessorAtlanthropus mauritanicus0,8–0,2Sierra de Atapuerca, SpanienArtzuordnung ist umstritten; die Fossilien werden auch H.erectus zugeordnet; ein Beleg für eine sehr frühe Besiedlung Europas durch den Menschen
1999Berhane Asfaw,Tim White,Yohannes Haile-SelassieAustralopithecus garhi2,5Awash, Äthiopienkönnte zeitlich und vom Körperbau her den frühen Vertretern der Gattung Homo nahe stehen
2000Martin Pickford und Brigitte SenutOrrorin tugenensis6,0Tugen Hills,Keniazur Zeit der Entdeckung der älteste Hominid; Femur beweist Bipedie
2001Meave Leakey, Louise LeakeyKenyanthropus platyops3,5–3,3Turkana-See, KeniaZuordnung zu einer eigenständigen Gattung ist umstritten, denn der Schädel wurde von vielen, möglicherweise auch verformten Fragmenten rekonstruiert
2002Michel BrunetSahelanthropus tschadensisToumai7Toros-Menalla, Tschadbislang ältestes Hominid-Fossil; Zähne, Schädel zeigen einige Merkmale der Hominina; Bipedie?, Wiege der Menschheit in Zentralafrika? Die Trennung der Panina und Hominina offensichtlich früher als die Molekulardaten indizierten
2003Anatoli P.DereviankoHomo sp.Denisova-Mensch0,03Denisova, Russlanddas 2010 publizierte Genom von Fossilien des Denisova-Menschen zeigt, dass es sich um eine zu modernen Menschen und Neandertalern parallele Population handelte
2003Tim WhiteHomo sapiens idaltu0,160Awash, Äthiopienbevor die Omo-Fossilien 2005 neu datiert wurden, galten die Idaltu-Fossilien als älteste bekannte Fossilien von H.sapiens
2004Peter BrownHomo floresiensisHobbit0,095–0,012Flores,Indonesiensehr kontrovers diskutierte Art der kleinwüchsigen Menschen, die parallel zu H.erectus und H.sapiens bis relativ unlängst auf der Insel Flores lebte
2010Lee BergerAustralopithecus sedibaMH1, Karabo2,0Gauteng-Provinz, RSAFossilien stammen aus einer Epoche, aus der bisher besonders wenige Hominini-Fossilien bekannt sind; „Übergangsform“ zwischen Australopithecus und Homo?
2010Darren CurnoeHomo gautengensisStw 532,0Gauteng-Provinz, RSAZuordnung und Datierung noch umstritten. Neben H.rudolfensis der früheste Vertreter der Gattung Homo?; relativ große Backenzähne
2012Darren CunroeHomo sapiensRotwildhöhlen-Menschen0,014–0,011Zhirendong, Chinamöglicherweise eine gesonderte, bislang nur aus dieser Region bekannte Population von Zuwanderern aus Afrika, die früher und getrennt von den unmittelbaren Vorfahren der heutigen Chinesen die Region besiedelte

Die Entdeckung von Sahelanthropus (2002) war eine Sensation, weil er die Widerlegung zweier Dogmen nahelegt. Er war älter als die angenommene Molekulardivergenz zwischen Mensch und Schimpanse. In dem Falle könnte er aber nicht der Vorfahre des Menschen sein, es sei denn, er würde die Molekulardatierung widerlegen (in der Tat liegt er eher am Rande des aus den damaligen Molekulardaten hervorgehenden Zeitbereichs, vergleiche Kapitel 2.1.1). Und zweitens wurde er westlich des Grabenbruchs gefunden, wo theoretisch die Vorfahren der Schimpansen, nicht aber die des Menschen leben sollten. Trotz der Tatsache, dass er kein Savannenbewohner war, kann man aus gewissen Schädelmerkmalen (dem Winkel zwischen der Linie der Schädelbasis und der Linie des Gesichtsschädels, und aus der Position des Hinterhauptlochs) auf bipede Fortbewegungsweise schließen.

 

Der jüngere, und biogeografisch weniger überraschende Orrorin hinterließ – im Unterschied zu Sahelanthropus – auch Reste seines postkranialen Skeletts. Sie zeigen, dass es sich auch um eine bipede (vielleicht arborikole) Form handelte.

2.2 Australopithecina (Australopithen)

An der Basis der Menschenlinie, beginnend mit der Zeit vor 5,5 Millionen Jahren, finden wir mehrere afrikanische Formen der Vormenschen, die den Gattungen Ardipithecus, Kenyanthropus, Australopithecus und Paranthropus zugeordnet werden. Es ist evident, dass sie keine phylogenetisch einheitliche Gruppe bilden, sondern eine heterogene Gruppierung von Arten darstellen, von denen jede einzelne unterschiedlich nah mit der Gattung Homo verwandt ist. Anders gesagt: Die Gattung Homo entstand innerhalb der Australopithen und stellt nur eine ihrer Untergruppen dar. Einige Australopithen koexistierten lange mit der Gattung Homo.

2.2.1 Ardipithecus

Zwei Arten, Ardipithecus kadabba (5,6 mya) und A.ramidus (4,5 mya), beide aus Äthiopien, stellen eine sehr frühe und ausdrücklich abweichende Form tertiärer Vormenschen dar: Rekonstruktionen, die auf der Untersuchung einer großen Anzahl von Individuen beruhen, weisen ein überraschendes Mosaik von primitiven und stark abgeleiteten Merkmalen auf. Ihre Fortbewegungsweise beruhte auf einer primitiven Bipedie, die mit einer ausgeprägten Arborealität verknüpft war (wie sie sich z.B. in der opponierbaren Großzehe widerspiegelt). Sie kannten allerdings keine Brachiation (Armschwingen von Ast zu Ast nach Art der Gibbons) und vermochten nicht, vertikal zu klettern. Aber sie gingen eben auch nicht auf ihren Fingerknöcheln (knuckle walking) wie es die Schimpansen machen (einer der erstbeschreibenden Autoren von Ardipithecus formulierte dazu: „If you wanted to find something that moved like these things, you’d have to go to the bar in Star Wars“). Diese Art der Bipedie, ohne die weiteren Anpassungen, über die der heutige Mensch verfügt, war offensichtlich energetisch nachteilig. Daher kann man über andere, z.B. soziale oder reproduktive Vorteile spekulieren. Während der Fuß von Ardipithecus auffällig primitiv war, war seine Hand überraschend modern, vom menschlichen Typ, was verschiedene Hypothesen zweifelhaft erscheinen lässt, nach denen die Greifhand mit verlängertem, opponierbaren Daumen, der eine Feinmanipulation von Objekten erst ermöglicht, eine fortschrittliche menschliche Anpassung sei. Der Schädel von Ardipithecus war klein, ähnlich dem Schädel von Sahelanthropus, und ähnelte weniger den Schädeln von Menschenaffen oder Australopitheken; das Gesicht war auffällig flach, der Kiefer kurz. Ein sehr markantes Merkmal der Ardipitheken war ihr geringer Geschlechtsdimorphismus in Körpergröße und Eckzahnlänge, was auf geringe Konflikte unter den Männchen hinweist.

Das Studium des Ardipithecus zeigt deutlich, dass die naive Vorstellung eines „Übergangsgliedes“ (oder arithmetischen Durchschnitts) zwischen Schimpanse und Mensch (oder Australopithecus) nicht stimmig ist. Weiterhin wurde bestätigt, dass ein altes Fossil nicht unbedingt primitiv sein muss. Die abgeleiteten „menschlichen“ Merkmale (Lokomotion, Anatomie der Hand, Reduktion der Eckzähne) erschienen bereits am Anfang der menschlichen Evolution. Es handelt sich also nicht um Anpassungen, die mit der Herstellung und Nutzung fortschrittlicher Werkzeuge zusammenhängen. Darüber hinaus zeigt sich, dass Schimpansen kein geeignetes Ausgangsmodell sind, um Überlegungen über den Anfang der Evolution des Menschen anzustellen.

Bemerkenswert ist, dass wir viele „menschliche“ evolutionäre Neuheiten auch bei dem Menschenaffen Oreopithecus bambolii aus dem Miozän (Fundort Italien) finden. Bei diesem Primaten handelt es sich aber nicht um einen nahen Verwandten des Menschen, sondern um einen den Dryopitheken verwandten basalen Hominoiden. Aber gerade dies zeigt, dass die Evolution der menschlichen Linie durch parallele oder konvergente Evolution vernebelt ist.

2.2.2 Australopitheken

Australopitheken waren üblicherweise klein (120–140 cm), mit kleinem Hirnvolumen (430–530 cm3), vollkommen biped (wenngleich auf eine Art, die sich von der Bipedie des modernen Menschen wahrscheinlich unterschieden hat) (Abb. 2.5). Sie waren überwiegend herbivor, teilweise arborikol und ausgeprägt sexuell dimorph, zumindest ausgeprägter als Schimpansen und moderne Menschen. Wir sollten uns bewusst sein, dass aus der Tatsache, dass jemand in die menschliche Linie gehört (und nicht in die der Schimpansen), nicht automatisch folgt, dass er dem Menschen ähnlicher ist als einem Schimpansen.


Abb. 2.5: Körpergröße einiger Hominiden im Vergleich.

2.2.2.1 Australopithecus

Die gegenwärtige Literatur kennt sechs Arten von Australopithecus, die äthiopischen Arten A.anamensis (3,9–4,2 mya), A.afarensis (2,9–3,9 mya, unter anderem die berühmte „Lucy“) und A.garhi (2,6 mya), weiterhin A.bahrelghazali (3,6 mya) aus dem Tschad, und die südafrikanische Arten A.africanus (2–2,9 mya) und A.sediba (1,9–2 mya) (Abb. 2.6).


Abb. 2.6: Schädel von Australopithecus afarensis. Der Schädel war niedrig, robust, mit ausgeprägten Überaugenwülsten, breiten Jochbögen und mächtigem Unterkiefer ohne Kinn.

Phylogenetisch gelten wohl A.anamensis und A.afarensis als basale Vertreter der Menschenlinie, die sich gleich nach dem Ardipithecus abgespalten haben, wobei A.anamensis eher der Vorfahr oder die Schwesterart von A.africanus ist. A.africanus ist bereits näher mit den Gattungen Paranthropus und Homo verwandt, während A.sediba unmittelbar mit der Gattung Homo verwandt sein könnte (vielleicht sogar mehr als der klassische „Urmensch“ H.habilis). Die Stellung der Arten A.garhi und A.bahrelghazali ist unsicher. (A.garhi steht vielleicht näher bei Paranthropus; A.bahrelghazali ist möglicherweise nah verwandt zu A.afarensis.)

Eine rätselhafte Art bleibt Kenyanthropus platyops (Kenia, 3,2–3,5 mya), welche nur anhand eines sehr beschädigten Schädels beschrieben wurde und phylogenetisch wohl zwischen den Gattungen Australopithecus (wahrscheinlich wieder A.afarensis) und Homo einzuordnen ist.

2.2.2.2 Paranthropus

Die zweite Gruppe von Australopithen, die sogenannten robusten Australopitheken, werden heute üblicherweise in die selbständige Gattung Paranthropus eingeordnet. Hierzu zählen drei Arten, P.aethiopicus (Kenia und Äthiopien, 2,7–2,5 mya), P.boisei (Kenia und Tansania, 2,6–1,2 mya) und P.robustus (Südafrika, 1,2–2 mya), möglicherweise auch die fragliche Art A.garhi. Alle repräsentieren einen besonderen und sehr abgeleiteten Nebenast der menschlichen Phylogenese. Sie illustrieren die Tatsache, dass die „Menschwerdung“ in der Evolution der Hominina kein allgemeiner Trend war.

Paranthropen waren relativ große bipede Herbivoren, die vielleicht zumindest teilweise auf harte pflanzliche Nahrung (Knollen, Wurzeln, Samen, Gräser usw.) spezialisiert waren. Sie wiesen einen ausgeprägten Geschlechtsdimorphismus auf, der eine „gorilla-artige“ Haremslebensweise indiziert. Trotz ihrer Abweichung vom „Weg zum modernen Menschen“ waren es erfolgreiche Arten, die erst relativ spät ausgestorben sind. P.robustus und P.boisei koexistierten zweifellos noch mit H.ergaster.

2.3 Basale Arten der Gattung Homo

Im folgenden Text werden wir von einem Konzept mehrerer Arten ausgehen. Dies ist auch aus praktischen Gründen sinnvoll: Es ist besser, wenn man Formen klar benennen kann, die spezifische evolutionäre Trends zeigen und bestimmte geografische und stratigrafische Verbreitungsmuster sowie eine unterschiedlich nahe Verwandtschaft mit dem modernen Mensch aufweisen (Box 2.4 und 2.5).

Box 2.4

Die Anzahl der Arten von fossilen Menschen: traditionelle Sicht

Die Anzahl der Arten, die die Gattung Homo bilden, ist unklar und langfristig instabil. Sie schwankt, je nach wissenschaftlicher Meinung, zwischen zwei (H.erectus und H.sapiens) und 10–15 (Abb. 2.4). Auf ein allgemein gültiges Artkonzept konnten sich die Biologen bis heute nicht einigen; (siehe Box 1.2); in der Paläontologie ist das Problem besonders ausgeprägt, denn über die Populationsbeziehungen unter ausgestorbenen Organismen wissen wir – bis auf wenige Ausnahmen – nichts. Und in der Paläoanthropologie ist es am schlimmsten, weil das Thema auch ideologischen Zündstoff enthält. Die Anzahl fossiler Menschenarten, die gegenwärtig in der paläoanthropologischen Literatur diskutiert wird, liegt etwas höher als die Artenzahl in anderen Gruppen von Säugetieren mit vergleichbarer Körpergröße. Es könnte sich dabei um ein taxonomisches Artefakt handeln, sozusagen um eine anthropozentrische Fehleinschätzung. Denn die Unterschiede zwischen Menschenpopulationen erscheinen uns, den Menschen, wahrscheinlich augenfälliger und damit „bedeutender“ als Unterschiede zwischen Populationen von, z.B. Kängurus. Die große Zahl fossiler Menschen könnte jedoch auch tatsächlich vorhandene spezielle evolutionäre Prozesse widerspiegeln (z.B. eine erhöhte Tendenz zur Artbildung aufgrund sexueller Selektion). Dies kann natürlich nicht entschieden werden. Es ist nichtsdestoweniger wichtig zu verstehen, dass die Evolution des Menschen (genauso wie die Evolution von was auch immer) die Form eines Baumes mit parallelen und langfristig koexistierenden Zweigen hat, nicht die Form einer Leiter.

Eine unmittelbare lineare Abfolge von Ahnen und Nachkommen, wie wir sie aus den Lehrbüchern kennen („Australopithecus-habilis-erectus-sapiens“), existierte nie. Im Gegenteil, während der gesamten menschlichen Evolution koexistierten mehrere sympatrische Arten, z.B. Ardipithecus + Australopithecus afarensis (3,4 mya), P.aethiopicus + H.habilis + H.rudolfensis (2,5–2 mya), P.boisei + H.habilis + H.ergaster (2–1,5 mya), Australopithecus sediba + H.habilis (2–1,75 mya), P.boisei + H.ergaster (1,5–1 mya) (Abb. 2.4). Dieser Sachverhalt setzte sich auch später noch fort, als verschiedene Arten der Gattung Homo gleichzeitig lebten. Er endete erst vor wenigen Zehntausend Jahren. Die gegenwärtige isolierte Existenz einer einzigen Art, H.sapiens, ist also erst unlängst entstanden und etwas durchaus Besonderes, das es so in der Vergangenheit nie gegeben hat. Es lässt sich nur noch darüber spekulieren, wie sehr unsere Art das Aussterben ihrer nächsten Verwandten förderte, während sie ihre eigene globale Dominanz aufbaute.