Unverfroren

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INES PAPERT THOMAS SENF







TEXT: LISA LINDNER









UNVERFROREN







INES PAPERT ALS ERSTER MENSCH AUF DEM LIKHU CHULI 1





DELIUS KLASING VERLAG





Abbildungsnachweis:

Titelfoto: Thomas Senf | visualimpact.ch

Hans Hornberger: Seiten 4/5, 87 (u.), 72, 97, 102/103, 105 (o.), 106 (2), 113, 130, 137,

146, 147 (u.), 148/149, 150/151 und 161 (o.)

Archiv Ines Papert: Seiten 17, 24, 35, 58, 79 und 115

Cory Richards | visualimpact.ch: Seiten 33, 34, 54, 56, 60/61, 62, 63, 64/65, 66/67,

119, 122 (3), 124/125, 142/143, 144/145 und 153

Thomas Senf | visualimpact.ch: Seiten 6, 7, 9, 12, 21, 28/29, 37, 39, 40, 42 (3), 44/45

(5), 46, 48/49, 50, 52, 53, 68, 70, 71, 74, 75, 77 (2), 80/81, 83 (2), 85 (3), 86, 87 (o.), 91

(2), 92, 94/95, 99, 105 (M./u.), 109, 110/111 (4), 112, 116, 118, 127, (o.), 128, 134/135,

136, 140, 147 (o.), 155, 156, 157, 158, 162, 164, 165, 166, 167 und 168/169

Karte: Archiv Ines Papert: Seite 127 (u.)



1. Auflage

© Delius Klasing & Co. KG, Bielefeld



Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:

ISBN 978-3-667-10153-2 (Print)

ISBN 978-3-667-10221-8 (E-Book)

ISBN 978-3-667-10222-5 (E-Pub)



Text: Lisa Lindner

Lektorat: Niko Schmidt

Einbandgestaltung: Felix Kempf,

www.fx68.de

 Layout: Axel Gerber



Datenkonventierung E-Book: HGV Hanseatische Gesellschaft für

Verlagsservice, München



Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis

des Verlages darf das Werk, auch Teile daraus,

nicht vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.





www.delius-klasing.de





Dieses Buch entstand mit der freundlichen Unterstützung der

LOWA Sportschuhe GmbH














Danke an die Texterin Lisa Lindner!



Die Autorin, Jahrgang 1989, lebt in Fürth, Bayern. Sie absolvierte in Erlangen einen Bachelor der Germanistik und Nordischen Philologie, daran anknüpfend studiert sie derzeit Literaturstudien im Masterstudiengang. Seit ihrer Jugend verfasst Lisa Lindner Prosatexte sowie kleinere journalistische Beiträge und war u. a. Stipendiatin der Bayerischen Akademie des Schreibens. Mit Unverfroren legt sie ihre erste Publikation vor.




Inhalt





Einleitung







Neue Herausforderungen







Nepal hat uns wieder







Von Freundschaft und Teamgeist







Den Gleitschirm im Gepäck







Auf dem Weg nach oben







Am Limit







Durch Thomas’ Augen







6719 Meter







Neuland













Einleitung



Die Nacht war bitterkalt, doch ein Ende noch längst nicht in Sicht. Wir hatten es aufgegeben, hoffnungsvoll auf unsere Uhren zu blicken, um dann beim Anblick der Zeiger erneute Enttäuschung zu verspüren. Das erste Licht der Morgendämmerung würde noch Stunden auf sich warten lassen. Zusammengekauert und frierend warteten wir auf unserem schmalen Vorsprung aus Eis, dass endlich ein neuer, noch unbekannter Tag anbrechen würde.








Nur knappe fünf Meter unter dem Ausstieg der Nordwand hatten wir endgültig aufgegeben. Jegliche Versuche, gegen den nicht greifbaren Pulverschnee anzukommen, waren gescheitert. Die Euphorie, einen Platz zu erreichen, wo wir unser Nachtlager hätten aufstellen können, war der Erschöpfung und einer Müdigkeit gewichen, die sich bis in alle Knochen ausgebreitet hatte. Die Dunkelheit hatte unseren Kampf, diese wenigen Meter zu überwinden, letztendlich unmöglich gemacht.



Nun sitzen wir zitternd und dehydriert auf dieser schmalen Stufe in der Wand, die wir uns mühsam mit den Eisgeräten geschlagen haben. Der Platz ist zu schmal, als dass man sich in eine halbwegs bequeme Position bringen oder geschweige denn ein Zelt aufstellen könnte. Nur fünf letzte Meter! Thomas, der sonst stets einen Scherz auf den Lippen hat, sagt schon lange nichts mehr. Er sitzt zusammengekauert neben mir und versucht mit zitternden Fingern seinen eiskalten Zehen durch reibende Bewegungen wieder Leben einzuhauchen. Wir müssen nicht reden, ich weiß auch so, wie Thomas sich fühlt, denn es geht mir genauso. So bleiben wir still mit unseren Gedanken für uns, um die Stimmung nicht noch mehr zu drücken. Es liegt weder ihm noch mir in der Natur, sich lautstark zu beschweren oder vor sich hin zu leiden. Dennoch ist jeder froh, in einer solch trostlosen Situation nicht allein zu sein.



Um dem eisigen Wind und der Kälte zu entkommen, haben wir die Zelthülle notdürftig über unsere Körper gestülpt, die Beine stecken in den Schlafsäcken, doch von Wärme ist trotzdem nichts zu spüren. Die Isomatte unter unseren Körpern schützt nur notdürftig vor der Kälte des Eises. Der Kopf sitzt schwer auf meinen Schultern. Hätten wir uns nicht in diese scheinbar aussichtslose Lage hinein manövriert, könnte man eine solch sternenklare Nacht mitten im Himalaya vielleicht als etwas Wunderbares betrachten. Doch mein Gefühl verrät mir, dass die Temperaturen längst unter minus 30 Grad gefallen sind, und meine Knochen schmerzen bei jedem Versuch, mich in eine bequemere Position zu rücken. Thomas’ Schuhe verschwinden in der Zelthülle unter uns und beschweren sie so zusätzlich, die Öffnung drückt gegen unsere Köpfe. Das Seilgeländer, an dem wir uns eingehängt und die für unser Überleben so wertvollen Eisgeräte befestigt haben, gibt mir das nötige Stück Sicherheit, in dieser Höhe zu verweilen und Stunde um Stunde, Minute um Minute, Sekunde um Sekunde zu zählen und auszuharren.



Ich denke an die Wechte fünf Meter über mir, über der wir bequem hätten biwakieren können, die verdiente Belohnung für einen anstrengenden Kampf an der senkrechten Wand. So hat nur die fade Nudelsuppe, die wir uns mit geschmolzenem Schnee zubereitet haben, etwas Trost und Energie gespendet. Ein Abstieg erscheint mir ebenso unmöglich wie der verbleibende Teil des Aufstiegs. Aus Gewichtsgründen haben wir uns nur für ein Seil entschieden, auch da wir nicht unnötig lang am Berg verweilen wollten. Es waren nur wenige Übernachtungen eingeplant, denn je länger wir uns hier oben aufhalten würden, desto höher erschien uns auch das Risiko, in diesen spätherbstlichen Tagen in eine Schlechtwetterfront zu geraten. Unser Gepäck war auf das Nötigste reduziert, das Abseilen mit nur einem Seil würde uns daher extrem viel Freiklettern und eine hohe Risikobereitschaft abverlangen.










Nach eisiger Biwaknacht in der fast senkrechten Wand auf 6600 Meter.





Irgendwie mussten wir diese fünf Meter am nächsten Tag überwinden! Erst auf der anderen Seite wäre ein Absteigen weitestgehend risikofrei möglich. Angst fühle ich dennoch keine. Auch wenn Thomas kein Wort spricht, gibt er mir doch ein gutes Gefühl. Ein Gefühl der Sicherheit und des Verständnisses, das keiner Worte bedarf. Es ist gut, in dieser Situation einen Freund wie Thomas an meiner Seite zu wissen. Ich schließe die Augen, das Gefühl der Müdigkeit übermannt mich jetzt doch, nur ein Sekundenschlaf, noch immer ist es bitterkalt.



Ein kurzer Ruck beschleunigt meinen Puls, dann fallen wir in die Tiefe! Der Sturz fühlt sich endlos an, Adrenalin schießt durch meine Venen, ehe wir in das Sicherungsseil krachen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich den heutigen Tag noch einmal rückwärts an mir vorbeiziehen: der mühsame Aufstieg, der Kampf an der senkrechten Wand, der Wind, die Kälte und das Gefühl, nun tatsächlich für diesen ersten Tag aufgeben zu müssen. Nur langsam wird aus der Vermutung Gewissheit, dass die Sicherung uns aufgefangen hat. Das Schlimmste scheint überstanden zu sein, dennoch kann sich mein Körper kaum beruhigen. In der Senkrechten versuchen wir uns mühsam aus der Zelthülle zu befreien. Unsere Füße finden keinerlei Halt in der eisigen Wand. Wir sind nur wenige Meter abgerutscht, doch der Schock sitzt tief. Die rettenden Steigeisen hängen drei Meter über uns am Seilgeländer. Thomas’ Schuhe liegen unter uns in der Zelthülle. Ohne die Eisen wird es uns unmöglich sein, mit den Füßen die eisige Wand zu unserer Stufe hinaufzuklettern.



Mir bleibt nichts anderes übrig, als die wärmenden Handschuhe abzulegen und mich Stück für Stück am dünnen Seil hinaufzuziehen, um wieder zu unserer alten Position zu gelangen. Bei dem Versuch keuche ich vor Anstrengung, mein warmer Atem bildet kleine Rauchwölkchen in der eisklaren Nacht. Die Finger werden schnell klamm, sie sind nun vollkommen schutzlos den Minusgraden ausgesetzt. Dennoch beiße ich eisern die Zähne zusammen. Ich muss die rettende Stufe erreichen! Irgendwann will es gelingen. Mein Herz klopft noch immer wie verrückt, als Thomas und ich uns laut atmend auf die Kante fallen lassen. Dann sehen wir zum ersten Mal, was wirklich passiert ist: Durch die Wärme unter unseren Körpern ist das Eis langsam geschmolzen, bis wir von der abgerundeten Kante abgerutscht sind. Angst und Schrecken sitzen noch immer tief. Die Ungewissheiten des Tages sind erschöpfend gewesen, der Aufstieg hierher war ein Kampf. Noch immer plagen mich Zweifel, ob der Ausstieg bei Tageslicht wirklich gelingen wird. Ich habe kaum noch Energie, um über weitere Optionen nachzudenken.

 



Nun, da wir uns wieder in Sicherheit fühlen, kehren Müdigkeit und Erschöpfung zurück. Das Seil fixieren wir nun kürzer und hoffen, somit einen zweiten Sturz in die Tiefe zu verhindern. Wir kriechen zurück in unsere Hülle und kauern uns zusammen, in meinen eiskalten Fingern habe ich kaum noch ein Gefühl. Unsere Augen sind geschlossen, wir dösen vor uns hin, während die Stunden endlos dahin kriechen. Mit tauben Fingern und steifem Nacken verharre ich in meiner unbequemen Position. Irgendwann kündigt das erste Sonnenlicht endlich einen neuen Tag an.










Die Nordwand des formschönsten Berges des Lumding Himal, dem Tengkampoche (6487 Meter).








 Neue

Herausforderungen



W

ährend einer Expedition im Jahre 2008 konnte ich erstmalig die Luft Nepals schnuppern. Land und Kultur schlugen mich von Anfang an in ihren Bann, besonders jedoch faszinierten mich die majestätischen Berge, welche über allem thronten und eine Vielzahl an Möglichkeiten für eine Bergsteigerin wie mich ergab. Schon damals zog ein Berg im Khumbu Valley fast alle meine Aufmerksamkeit auf sich – der Tengkampoche. Schon beim ersten Anblick dieses Berges schoss mir ein Gedanke durch den Kopf, der über die Jahre zur Idee reifte: Es gab eine schwierige Linie an der Nordwand des Berges, die einen undefinierbaren Reiz auf mich ausübte, einen Reiz, von dem mein guter Freundes Thomas Senf gleichzeitig erfasst wurde.



Thomas und ich waren im Winter 2012 zum Eisklettern nach Norwegen gefahren, hoch in den Norden, knapp unter dem Polarkreis, nach Senja Island. Wir waren ein eingespieltes Team und saßen abends gern zusammen, um zu plaudern. Nähert sich eine Reise oder eine Expedition dem Ende, kommt man zunehmend ins Fantasieren, Spekulieren, Reflektieren. Unsere Seilschaft hatte sich schon mehr als ein Mal als ideal erwiesen, ich vertraute Thomas in der Wand. Und er mir, das war wichtig. In Norwegen beratschlagten wir gemeinsam über neue Ziele und Träume. Damals erzählte ich Thomas von dem Berg, von meinem Berg, und ich teilte ihm mit, welch großen Reiz er auf mich ausübte. Auch ihm war der Tengkampoche bei einer seiner früheren Expeditionen ins Auge gefallen, also bastelten wir zusammen nun an einer Idee.





Etwas Neues, Unbekanntes zu versuchen, meinen eigenen Weg zu beschreiten, ist mir stets wichtig.



Etwas Neues, Unbekanntes zu versuchen, meinen eigenen Weg zu beschreiten, ist mir stets wichtig. Das macht ein anvisiertes Ziel für mich noch attraktiver. Dabei geht es nicht krampfhaft um Superlative oder um einen namhaften Berg. Doch etwas Neues aus eigener Kraft heraus zu meistern, erfüllte mich schon immer mit größerer Zufriedenheit, als etwas bereits Dagewesenes zu wiederholen. Es gibt viele Routen in die Berge der Welt, doch viele Expeditionen nehmen immer wieder die gleichen zum Ziel. Mich haben schon immer vor allem die Berge angesprochen, die nur von wenigen – oder im Idealfall von keinem – Menschen besucht und bestiegen worden waren. Solche Routen in einem kleinen Team zu beschreiten, das war genau das, was mich glücklich machte.



Thomas legt eine ähnliche Einstellung an den Tag, das bestärkt uns als Seilschaft umso mehr. Seine Idee, den Tengkampoche gemeinsam ins Auge zu fassen, gefiel mir, zumal der Berg eine ideale Ausgangslage bot. Er war nicht zu weit von jeglicher Zivilisation entfernt, sodass man nicht viele Tage oder gar Wochen unterwegs sein musste, um ihn zu erreichen. Auf der anderen Seite war er jedoch so weit von allem, dass man dort ungestört unterwegs sein zu konnte. Schon an diesem Abend in Norwegen war uns klar, dass uns die Idee »Expedition Tengkampoche« nicht mehr loslassen würde. Mit Sicherheit würden wir eines Tages daraus ein konkretes Vorhaben entwickeln.



Den entscheidenden Anstoß zu dieser Expedition gab ein Ereignis, das sich für mich beinahe zur persönlichen Katastrophe entwickelt hätte. Im Frühjahr 2013 war ich mit einer kleinen Gruppe in Marokko unterwegs. Mit meinen Kletterpartnern Lisi Steurer und Patrik Aufdenblatten wollte ich mich in der Taghia-Schlucht an einer neuen Route versuchen. Ich war in jenem Jahr zuvor bereits viel unterwegs gewesen, für meinen Körper war das alles womöglich zu viel, denn auf dieser Reise zog er die Notbremse.



Während dieser Erstbegehung schlug das Wetter um, und die schlechten Bedingungen zwangen uns schließlich an einem Tag sogar zur Umkehr. Auf dem Weg von der kleinen Ortschaft Taghia zurück zur Wand kraxelte ich in einem mit Steinen durchzogenen Bachbett. Was bei gutem Wetter die reine Freude gewesen wäre, entwickelte sich bei den schlechten Wetterbedingungen zu einer rutschigen Angelegenheit. Als ich mich mit meinem schweren Rucksack durch einen Körperkamin im Fels stemmen wollte, verloren meine Füße auf dem feuchten Fels den Halt und ich rutschte. Der Sturz aus einem knappen halben Meter Höhe war nicht weiter schlimm, da ich mich gut abfedern konnte. Doch ein stechender Schmerz in meiner rechten Schulter ließ meine Alarmglocken läuten. Hier war doch etwas im Argen! Ausgerechnet ganz am Anfang unserer Expedition. Ich wollte doch nicht der Grund für eine vorzeitige Abreise sein! Das Klettern war aber noch möglich, mit zusammengebissenen Zähnen zwar, aber eben möglich. Also versuchte ich den Schmerz zu ignorieren.



Als wir nach beendeter Expedition wieder nach Hause zurückkehrten, hatte ich immer noch Beschwerden in der Schulter und wurde mit einer erschütternden Diagnose konfrontiert: Die Bänder in meiner rechten Schulter waren angerissen. Doch das Schlimmste sollte erst noch kommen, denn eine befreundete Ärztin und Schulterspezialistin sprach die Befürchtung aus, dass eine Operation notwendig sei. Würde ich mich dieser OP nicht stellen, könnte es zu schlimmen Spätfolgen kommen. Und wenn sich das bewahrheiten würde, könnten diese das Klettern auf gewohnt hohem Niveau dauerhaft unmöglich machen. Also entschied mich für einen Eingriff, auch wenn ich eine lange Rehabilitierungsphase in Kauf nehmen musste.



Für mich brach eine Welt zusammen. Einen Alltag ohne Klettern konnte und wollte ich mir gar nicht vorstellen. Wie sollte ich ohne das auskommen können, was mir so viel bedeutet, was mein Leben ausmacht? Gedanken dieser Art wollte ich partout nicht zulassen. Erfahrungen aus einer früheren Verletzungsphase beruhigten mich wiederum. Damals hatte ich gelernt, dass nicht eine ärztliche Diagnoseausschließlich darüber entscheidet, ob man wieder einen Fuß in eine Wand setzt. Letztlich hat man es immer selbst in der Hand. Ich musste nur mental und physisch stark genug sein. Würde ich genug trainieren und den entsprechenden Willen aufbringen, dann käme ich eines Tages sicher wieder auf das Niveau, auf dem ich mich schon so oft bewiesen hatte.



Während meiner Genesung hatte ich viel Zeit, um nachzudenken: Welche Ziele sollte ich mir für die kommende Zeit stecken, was wollte ich wirklich erreichen? Meine Schulterverletzung machte das Klettern schwerer Routen unmöglich, doch Bergsteigen auf höherem Niveau traute ich mir durchaus zu. Für mich stand ziemlich schnell fest, dass ich bald auch wieder meine Eisgeräte würde halten können. Ich müsste nur entsprechend trainieren. Eine Sache blieb fraglich: Würde ich mit meiner Narbe die Last eines Rucksacks auf dem Rücken stemmen können?



Dennoch begann ich zwischen Ärztebesuchen und Physiotherapie mit den ersten konkreten Planungen für eine zweite Nepal-Expedition und versuchte stets, meinen Optimismus zu bewahren. Ein Leben ohne Klettern? Unvorstellbar! Auch wenn eine vollständige Genesung zu diesem Zeitpunkt durchaus fragwürdig blieb. Meine Freunde sprachen mir Mut zu, und ich versuchte, aus ihren aufbauenden Worten zusätzlich Kraft zu schöpfen. Doch in meinem Hinterkopf spukten Schauermärchen herum: Ich musste an Geschichten von Betroffenen denken, die ebenfalls mit Schulterverletzungen zu kämpfen hatten und nicht deswegen ihre Karriere begraben mussten. Fälle dieser und ähnlicher Art kannte ich nur zu gut. Ich musste akzeptieren, dass mir eine schwere Zeit ohne meinen geliebten Sport bevorstand. Also klammerte ich mich an jeden kleinen Strohhalm. Mein persönlicher Strohhalm war die Idee der »Expedition Tengkampoche«.










Unsere geplante Aufstiegsroute durch die Tengkampoche-Nordost-Wand.





Meine Recherchen hatten ergeben, dass dort in der frühwinterlichen Zeit die besten Bedingungen herrschten, also planten Thomas und ich eine Besteigung der Nordwand für November. Denn im Gegensatz zum Frühjahr, im Vormonsun, hatte man in dieser Jahreszeit mit nur sehr wenigen Niederschlägen zu rechnen. Auch die Temperaturen würden zu Winteranfang sehr niedrig sein, was für die Eisbildung von Vorteil war. Einzig die hohen Windgeschwindigkeiten, die zu dieser Jahreszeit herrschten, könnten das Bergsteigen erschweren. Der Meteorologe Karl Gabl, zu dem ich Kontakt aufgenommen hatte, bestätigte meine Nachforschungen und bot mir im selben Atemzug seine Hilfe an. Karl ist eine Seele von Mensch. Viele Bergsteiger profitierten schon von seinem Expertenwissen. In seinem Fach halte ich ihn für den Besten, und auch nach seiner Pensionierung ist er für uns Freiluftgänger Tag und Nacht zu erreichen. Er betrachtet es nach wie vor als seine Lebensaufgabe, die Bergsteiger dieser Welt zu unterstützen. Auf Expeditionen führen wir stets ein Satellitentelefon mit uns, nicht zuletzt aus dem Grund, dass wir damit Karl jederzeit erreichen können.



Je konkreter meine Pläne wurden, desto optimistischer wurde ich. Die Unsicherheit über meine Genesungsfortschritte schlug allmählich in Euphorie um. Zwei Monate nach meiner Operation stand für mich fest: Ich musste wieder in die Wand!



Ich machte mir keine Illusionen, schweres Klettern war in diesem Jahr kein Thema mehr, ein Fels im 10. Grad geradezu utopisch. Noch immer hegte ich die Angst, dass mein Arm nicht mehr in seine alte Form zurückfinden würde. Trotz Wassertherapie, Osteopathie und Krankengymnastik konnte ich ihn wochenlang nur bis in die Waagrechte anheben. Tagtäglich wurde mir Geduld gepredigt, und zwei Monate lang betrachtete ich meine Reha als Vollzeitjob. Innerlich trieb mich die Unruhe und Ungewissheit geradewegs in den Wahnsinn, jede Minute beobachtete ich meinen Körper, suchte nach Verbesserungen und fürchtete Verschlechterungen oder Stagnation.



Als mir damals Thomas Huber aus eigener Erfahrung heraus prophezeit hatte, dass ich das Jahr 2013 klettertechnisch gesehen abhaken könne, brach für mich eine kleine Welt zusammen. Stunde um Stunde tagtäglich mit meinen Ängsten konfrontiert, wollte ich dennoch einen solchen Gedanken nicht zulassen.



Schließlich begann ich damit, wieder auf einfachem Niveau zu klettern. Zunächst nur ganz leicht. Als ich merkte, dass meine Schulter Route für Route kontinuierlich besser wurde, wusste ich, dass ich meine richtige Therapiemethode in der Wand gefunden hatte. Zurückblickend kann ich heute über diese intensive Zeit schmunzeln. Ich glaube fest daran, dass man mit viel Ehrgeiz und eisernem Willen seine Ziele erreichen kann.



Tengkampoche jedoch war gesetzt. Doch meine Vorfreude erhielt noch einen weiteren Dämpfer. Thomas und ich hatten uns nun endgültig darauf geeinigt, die Besteigung der Nordwand im Spätherbst wagen zu wollen. Bevor wir jedoch Flüge buchen oder konkretere Schritte in Angriff nehmen konnten, erkrankte Thomas’ Mutter sehr schwer an Krebs. Thomas hatte zu seiner Mutter stets eine sehr innige Beziehung. Für ein Krebsleiden war sie in meinen Augen noch viel zu jung, eine tragische Situation. Natürlich wollte Thomas seiner Mutter in dieser schweren Zeit eine Stütze sein. Ich fühlte mit ihm und verstand seine Entscheidung nur zu gut.

 



Thomas durch einen anderen Kletterpartner auszutauschen, kam für mich nicht infrage. Wir hatten uns gemeinsam für diese Expedition entschieden, also würden wir sie auch nur gemeinsam angehen. Wir hatten uns darauf verständigt, eines Tages gemeinsam nach Nepal zu fliegen, um uns dieser Wand zu stellen. Das war ausgemacht und unumstößlich! Wenn es in diesem Herbst nicht losgehen konnte, dann vielleicht im Herbst des darauffolgenden Jahres. Ich stand voll und ganz hinter ihm und seiner Entscheidung. Es war richtig, dass er seine Mutter unter diesen Umständen nicht verließ.



Wäre Thomas mit einem plagenden Gewissen gegangen, nicht aus freien Stücken oder mit der Angst im Kopf, seine Mutter könne in der Zeit seiner Abwesenheit sterben, dann wäre er für diese gewaltige Aufgabe nicht bereit gewesen. Klettern bedeutet, frei zu sein im Kopf! Die große Kunst bei diesem Sport liegt darin, den unbändigen Willen aufzubringen, der notwendig ist, um ein Ziel zu erreichen. Der Wunsch, den Gipfel erreichen zu wollen, muss dabei stets über allem anderen stehen. Wenn du in die Wand einsteigst, musst du Schwierigkeiten in anderen Lebensbereichen ausblenden können. Wenn du von anderen Problemen abgelenkt wirst, kannst du dein Ziel unmöglich verwirklichen. Dann wird deine Kraft nicht ausreichen. Deswegen war ich froh und erleichtert darüber, dass Thomas mir gegenüber so ehrlich war.



Zudem ist Thomas – wie ich auch – selbstständig tätig. Als Fotograf und begeisterter Bergsteiger verbindet er seine Leidenschaft mit seinem Beruf, und das tut er sehr erfolgreich. Unsere geplante Expedition hätte ihm auch gewisse finanzielle Einkünfte garantiert.. Als selbstständig Tätiger bist du dein ganzes Berufsleben über einem gewissen äußeren Druck ausgesetzt. Die Kunst ist es, diesen Druck zu spüren, ihn aber dennoch nicht an sich heran zu lassen. Man muss die Balance finden, sein Tun mit Leidenschaft zu verfolgen und zugleich davon leben zu können. Fühlst du dich von deiner Außenwelt gedrängt, wirst du niemals auf hohem Niveau an deiner Leistungsgrenze unterwegs sein können. Nur wer sich von den äußeren Erwartungshaltungen frei machen kann, wird sich selbst entfalten können.



Mir selbst haben Zukunftsängste nie große Sorgen bereitet, ich fühle mich relativ frei von solchen Gefühlen und bestärke mich selbst in meinem Tun und Schaffen. Dennoch beugen sich einige meiner Kollegen genau diesem äußeren Druck und treten Expeditionen an, zu denen sie sich von außen gedrängt, sich von innen heraus jedoch nicht bereit fühlen. Thomas hielt diesem Druck stand. Ich bin dankbar für diese offene Freundschaft, wie wir sie pflegen, in der jeder seine Ängste und Bedenken äußern kann und darf. Erst wenn du deinem Kletterpartner das Gefühl gibst, offen über alles sprechen zu können, wirst du auch am Seil Vertrauen erfahren.



Unsere Expedition lag aufgrund der Erkrankung von Thomas’ Mutter erst einmal sprichwörtlich auf Eis. Dennoch hielt ich mir den anvisierten Zeitraum offen und nahm weder Vorträge noch größere Projekte an. Denn natürlich hoffte ich, dass sich der Gesundheitszustand von Thomas’ Mutter stabilisieren würde und Thomas bedenkenlos für einige Wochen ziehen könnte.



Die Planung habe ich unabhängig davon weiter vorangetrieben. Das war ein wichtiger Bestandteil der mentalen Komponente im Rahmen meiner Genesung. Ich brauchte diese Gedanken an die bevorstehende Expedition, ich nutzte sie zur Stabilisierung und Motivation. Ich benötigte einfach ein Ziel vor Augen.










Diese Postkarte schickten wir an Freunde und Verwandte. Es gibt zwei Schreibweisen: Tengkangpoche und Tengkampoche.





Es gab noch einen weiteren Anker, welcher mir über diese schwierige, unsichere Zeit hinweggeholfen hat. Drei Jahre zuvor hatte ich meine Lizenz im Gleitschirmfliegen erworben, und während meiner Genesung verbrachte ich viel Zeit in der Luft, auch um mich konditionell fit zu halten. Ich merkte schnell, dass ich meine Schulter bei diesem Sport ohne Sorge einsetzen konnte. Das war meine Rettung! Vor meiner Haustür in Bayerisch Gmain liegen drei wunderbare Berge, die nur darauf warten, von mir bestiegen zu werden: der Predigtstuhl, die Zwieselalm und der Mittelstaufen. Schon zwei Monate nach meiner Operation konnte ich den Schirm wieder rückwärts aufziehen, starten und auch die Bremsleinen problemlos bedienen. Das Gleitschirmfliegen half mir über meine kletterlose Zeit hinweg. Noch kurz zuvor dachte ich, dass ich ohne Klettern in ein tiefes Loch fallen würde, nun gewann ich diesen neuen Sport lieb und nutzte ihn zugleich für ein intensives Ausdauertraining. Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Also nutzte ich jede sich bietende Gelegenheit, um mit dem Gleitschirm im Rucksack – je nach Windlage – auf einen der drei heimatlichen Berge zu steigen. Den Flug ins Tal genoss ich als Ausgleich und Belohnung für die körperliche Betätigung.



Thomas hatte ich mit meiner Begeisterung für das Fliegen angesteckt, und so war uns beiden schnell klar, dass wir den Gleitschirm auf unsere Nepal-Reise mitnehmen wollten. Das leichte Zusatzgepäck nahmen wir in Kauf, auch wenn die Chancen, sich damit in Nepal in die Lüfte erheben zu können, wegen des winterlichen Windes nicht allzu groß waren. Sollte es uns am Ende doch gelingen, wäre es die Anstrengung allemal wert. Einmal von einem hohen Himalaya-Gipfel zu fliegen – das war mein großer Traum!



Bergsteigen und Gleitschirmfliegen lassen sich großartig miteinander kombinieren. Während meiner Reha konnte ich mich damit auch gut auf meine großen Pläne vorbereiten. Ich trainierte viel, um in der Luft sicherer zu werden, vor allem bei starkem Wind und mit großem Rucksack. Die knapp vier Kilo schwere Ausrüstung trug ich gern und oft auf einen nahe gelegenen Gipfel. Die anschließenden Flüge bis vor meine Haustür in Bayerisch Gmain genoss ich sehr. Besonders fand ich gefallen daran, Schirm und Gurt mit eigener Kraft und ohne Seilbahn zum Ausgangspunkt zu schaffen. Schließlich müssten wir auch in Nepal die Flugausrüstung selbst tragen. Dafür würden wir auch auf zusätzlichen Komfort verzichten. Zwar könnten wir deswegen weniger Lebensmittel oder Trinken mitnehmen, aber auch das würden wir in Kauf nehmen. Sollte unser Vorhaben gelingen, dann würde der mühsame »Abstieg« schließlich nur wenige Minuten dauern. Der Gleitschirm im Gepäck war daher eine gute Investition.



Einige Wochen vor der geplanten Abreise erreichte mich dann die traurige Nachricht, dass Thomas’ Mutter verstorben war – der Krebs hatte sie letztendlich besiegt. Thomas war von dieser schweren Zeit nervlich sehr mitgenommen, er verspürte jedoch auch Erleichterung, dass seine Mutter nach ihrem langen Leidensweg endlich erlöst wurde. Schnell traf er die Entscheidung, dass er trotz des Schicksalsschlages die Reise nach Nepal antreten wolle. Nach intensiven sechs Monaten wollte er dem alltäglichen Umfeld entfliehen und wieder eigene Ziele verfolgen. Für intensives Training hatte er jedoch keine Zeit mehr. In den Wochen bis zur Abreise war Thomas mit der Wohnungsauflösung seiner Mutter und bürokratischen Angelegenheiten voll ausgelastet, sodass ein tägliches mehrstündiges Training für ihn unmöglich war. Ich blieb dennoch optimistisch gestimmt, denn ich kannte Thomas und seine Grundfitness gut. Wir einigten uns darauf, uns während der Höhenanpassung in Nepal mehr Zeit zu lassen. Ich glaubte daran, dass Thomas der Aufgabe am Berg dank seiner guten Grundkonstitution gewachsen war. Ich spürte eine enorme Vorfreude in mir aufkommen. Bis zur Abreise nach Nepal waren es nur noch wenige Wochen, nun konnte ich endlich damit anfangen, konkrete Vorbereitungen zu treffen.



Ein äußerst wichtiger Teil meiner Vorbereitungen auf eine Expedition besteht für mich darin, meinen Sohn Emanuel während der Zeit meiner Abwesenheit in guten Händen zu wissen. So hatte ich bereits abgeklärt, ob Manus Oma Christa, die Großmutter väterlicherseits, bereit wäre, in dieser Zeit in unserem Haus auf meinen Sohn aufzupassen. Nun saß sie praktisch auf gepackten Koffern und wartete nur auf das Startsignal von mir. Christa gibt mir generell das Gefühl, dass Manu gut bei ihr aufgehoben ist. Das hatten wir schon viele Male so gehalten, wenn es mich wieder einmal in die Ferne gezogen hat. Bei ihr weiß ich meinen Sohn sicher, dadurch kann ich das Kapitel Heimat während meiner Arbeit an der Wand bedenkenlos ausblenden. Christa reist meistens schon zwei Tage vor meiner Abreise an und ist mir bei den let

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