Existenzielle Psychotherapie

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Existenzielle Psychotherapie
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Edition Humanistische Psychologie

Hg. Anna und Milan Sreckovic

Der Autor

Irvin D. Yalom ist Emeritus für Psychiatrie an der School of Medicine der Stanford University. Er wurde unter anderem 1974 mit dem Edward-Strecker-Prize für psychiatrische Versorgung und Behandlung und 1979 mit dem Foundation’s Fund Prize in Psychiatry der American Psychiatric Association for Research ausgezeichnet. Von seinen Monographien und Aufsätzen sind zahlreiche auch ins Deutsche übersetzt worden. Neben seinen fachwissenschaftlichen Büchern hat er sehr erfolgreich in zahlreichen Sprachen belletristische Texte über Psychotherapie veröffentlicht, die ihn auch als Bestsellerautor einem breiten Publikum auf der ganzen Welt bekannt gemacht haben (›Commonwealth Club of California Gold Medal for best fiction 1993‹ für den Roman When Nietzsche Wept). Er wurde vor kurzem in den USA zu einem der drei wichtigsten lebenden Psychotherapeuten gewählt und ist Träger des Internationalen Sigmund-Freud-Preises für Psychotherapie 2009 des World Council for Psychotherapy (WCP).


© 1989, 2010 EHP – Verlag Andreas Kohlhage, Bergisch Gladbach www.ehp.biz

© 2003 Ulfried Geuter für das Interview mit Irvin Yalom

© 1980 Yalom Family Trust

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel ›Existential Psychotherapy‹ bei Basic Books, Inc., Publ., New York

Die Übersetzung aus dem Amerikanischen von Martina Gremmler-Fuhr und Reinhard Fuhr (†) wurde für die 5., korrigierte Auflage überarbeitet.

Für hilfreiche Unterstützung danken wir Sigrid Pape.

Übersetzung des Vorworts zur 4. verm. Aufl.: Irmgard Hölscher

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

5. korr. Auflage 2010

Umschlagentwurf: Gerd Struwe, Uwe Giese

– unter Verwendung eines Bildes von Dieter Teusch –

Satz: MarktTransparenz Uwe Giese

Gedruckt in der EU

Alle Rechte vorbehalten

All rights reserved. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photo-copying, recording or by any information storage and retrieval system, without permission in writing from the publisher.

Print-ISBN 978-3-926176-19-6

E-Book-ISBN 978-3-89797-606-1

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Inhalt

Danksagung

Vorwort des Autors: 25 Jahre Existenzielle Psychotherapie

1. Kapitel: Einführung

Existenzielle Therapie: Eine dynamische Psychotherapie

Die existenzielle Orientierung: Fremd, aber seltsam vertraut

Das Feld existenzieller Psychotherapie

Existenzielle Therapie und die akademische Gemeinschaft

I. Teil: TOD

2. Kapitel: Leben, Tod und Angst

Die Interdependenz von Leben und Tod

Tod und Angst

Die Unaufmerksamkeit gegenüber dem Tod in der Theorie und Praxis der Psychotherapie

Freud: Angst ohne den Tod

3. Kapitel: Der Todesbegriff bei Kindern

Das verbreitete Interesse von Kindern am Tod

Der Todesbegriff: Entwicklungsstufen

Todesangst und die Entwicklung der Psychopathologie

Die Todeserziehung von Kindern

4. Kapitel: Tod und Psychopathologie

Todesangst: Ein Paradigma der Psychopathologie

Besonderheit

Der letzte Retter

Auf dem Weg zu einer integrierten Sicht der Psychopathologie

Schizophrenie und die Furcht vor dem Tod

Ein existenzielles Paradigma der Psychopathologie: Forschungsbefunde

5. Kapitel: Tod und Psychotherapie

Der Tod als Grenzsituation

Der Tod als ursprüngliche Quelle der Angst

Probleme der Psychotherapie

Lebensbefriedigung und Todesangst: Eine therapeutische Stütze

Todes-Desensibilisierung

II. Teil: FREIHEIT

6. Kapitel: Verantwortung

Verantwortung als eine existenzielle Angelegenheit

Vermeidung der Verantwortung: Klinische Erscheinungsformen

Übernahme von Verantwortung und Psychotherapie

Verantwortungsbewusstheit nach amerikanischer Art – oder: Wie man sich um sein eigenes Leben kümmert, selbst Regie führt, zuerst an sich denkt und es schafft

Verantwortung und Psychotherapie: Forschungsbefunde

Grenzen der Verantwortung

Verantwortung und existenzielle Schuld

7. Kapitel: Wollen

Verantwortung, Wollen und Handlung

Zum klinischen Verständnis des Willens: Rank, Farber, May

Der Wille und klinische Praxis

Wunsch

Entscheidung – Wahl

Vergangenheit versus Zukunft in der Psychotherapie

III. Teil: ISOLATION

8. Kapitel: Existenzielle Isolation

Was ist existenzielle Isolation?

Isolation und Beziehung

Existenzielle Isolation und interpersonale Psychopathologie

9. Kapitel: Existenzielle Isolation und Psychotherapie

Eine Anleitung zum Verständnis zwischenmenschlicher Beziehungen

Den Patienten mit der Isolation konfrontieren

Isolation und die Begegnung zwischen Patient und Therapeut

IV. Teil: SINNLOSIGKEIT

 

10.Kapitel: Sinnlosigkeit

Das Problem des Sinns

Der Sinn des Lebens

Sinnverlust: Klinische Implikationen

Klinische Forschung

11. Kapitel: Sinnlosigkeit und Psychotherapie

Warum brauchen wir Sinn ?

Psychotherapeutische Strategien

EPILOG

Sich berühren lassen. Der Romanautor und Psychotherapeut Irvin Yalom im Gespräch mit Ulfried Geuter

Anmerkungen

Personen- und Sachregister

Für Marilyn – aus jedem erdenklichen Grund

Für Marilyn – aus jedem erdenklichen Grund

Danksagung

Viele haben mir bei meiner Arbeit geholfen, und ich bin nicht in der Lage, ihnen allen zu danken. An diesem Buch habe ich mehrere Jahre geschrieben, und meine Schuldigkeit geht über die Grenzen meines Gedächtnisses hinaus. Rollo May und Dagfinn Follesdal waren außergewöhnlich wichtige Lehrer und Führer für mich. Viele Kollegen lasen und kritisierten das ganze Manuskript oder Teile davon: Jerome Frank, Julius Heuscher, Kent Bach, David Spiegel, Alex Comfort, James Bugental, Marguerite Lederberg, Michael Bratman, Mitchell Hall, Alberta Siegel, Alvin Rosenfeld, Herbert Leidermann, Michael Norden und viele Psychiatriepatienten von Stanford. Ihnen allen gilt mein Dank.

Ich bin Gardner Lindzey und dem Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences gegenüber verpflichtet, weil sie mir bei meinen Studien während meines Stipendienjahres von 1977-1978 ideale Bedingungen gewährten. Ich bin der Universität von Stanford sehr dankbar, die mir während meiner gesamten Karriere die Möglichkeiten akademischen Lebens großzügig zur Verfügung gestellt hat: intellektuelle Freiheit, materielle Unterstützung und hoch qualifizierte professionelle Kollegen. Ich bin auch Thomas Gonda, dem Vorsitzenden der Abteilung für Psychiatrie, sehr dankbar dafür, dass er administrative Aufgaben weitgehend von mir fern hielt; und Marjorie Crosby für ihre Unterstützung und Ermutigung. Phoebe Hoss gewährte ausgezeichnete redaktionelle Hilfe. Dies ist ein langes Buch, und jedes Wort von jedem Entwurf – angefangen von den ersten Skizzen bis zum fertigen Manuskript – wurde von meiner Sekretärin Bea Mitchell getippt, deren Geduld, Engagement und Fleiß kaum je während der vielen Jahre, in denen wir zusammen arbeiteten, nachließen. Meine Frau Marilyn bestärkte mich nicht nur ununterbrochen, sondern beriet mich, wie bei all meinen früheren Büchern, in inhaltlichen und schriftstellerischen Fragen auf unschätzbare Weise.

Vorwort zur vierten deutschen Auflage: »25 Jahre Existenzielle Psychotherapie«1

Wenn mich Leser fragen, welches meiner Bücher mir am liebsten ist, fällt mir die Antwort nicht leicht. Wie die meisten Autoren bin ich meist in das Buch verliebt, das ich gerade schreibe. Aber wenn ich wüsste, dass ich meine Feder für immer niederlegen müsste, würde ich wohl antworten, dass ich besonders stolz auf das Buch Existenzielle Psychotherapie bin. Es war am schwersten zu schreiben; ich habe jahrelang lesen müssen, bis ich in der Lage war, es zu Papier zu bringen – übrigens im Wortsinn: Ich habe es nämlich mit Bleistift auf gelbes, blau liniertes Papier geschrieben – das war kurz vor der Einführung der Textverarbeitung, und tippen konnte ich auch nicht.

Ich weiß noch genau, wie ich mich bei meinem alten Freund Alex Comfort, dem Schriftsteller, beklagte, ich könne einfach den Anfang nicht finden. Ich erzählte, dass ich jahrelang unaufhörlich gelesen und viele Philosophie-Seminare an der Universität Stanford besucht hätte und trotzdem blockiert sei. Alex Comfort kannte sich mit den Problemen des Schreibens aus; er hat neben Joy of Sex, das ihn berühmt gemacht hat, über fünfzig weitere Bücher geschrieben – medizinische und geriatrische Abhandlungen, Romane und auch einige Gedichtbände. Er hörte geduldig zu und sagte dann: »Dein Thema ist so groß, dass du mit dem Lesen nie fertig wirst. Ich mache dir einen Vorschlag: Hör auf zu lesen und fang an zu schreiben! Morgen!« Diesen Rat habe ich befolgt und gleich am nächsten Morgen mit dem Schreiben angefangen – und dann jeden weiteren Morgen, dreieinhalb Jahre lang.

Existenzielle Psychotherapie war ein Wendepunkt in meiner Laufbahn als Autor. Vorher hatte ich über eine Reihe von Themen geschrieben, die nachfolgenden Bücher dagegen waren fast ausschließlich Variationen verschiedener Motive aus diesem Buch. Was ich dort geschrieben und skizziert habe, bildet den Fokus aller weiteren Bücher, aber die Form hat sich verändert. Nachdem Existenzielle Psychotherapie erschienen war, wurde mir klar, dass sich die subjektiven Reaktionen auf die Wechselfälle des Lebens in fachlicher Prosa nur unzureichend beschreiben lassen, und ich habe mich wie viele existenzielle Denker vor mir entschieden, die Konfrontation mit den existenziellen Fakten des Lebens in einer anschaulicheren literarischen Form zu beschreiben.

Existenzielle Psychotherapie ist also die Quelle, sozusagen die Mutter all der Romane, Geschichten und Leitfäden für Kliniker, die ich seit 1980 geschrieben habe, und aus diesem Buch sind andere entstanden wie Die Liebe und ihr Henker, Die Reise mit Paula, Die rote Couch, Und Nietzsche weinte, Die Schopenhauer-Kur.

Von Zeit zu Zeit habe ich darüber nachgedacht, Existenzielle Psychotherapie zu überarbeiten, aber dann schien es mir absurd, Material zu bearbeiten, das sich mit den zeitlosen Quellen des Leidens beschäftigt – Leiden, das die Menschen seit dem Entstehen der Selbstbewusstheit erleben. Doch so zeitlos das Thema auch sein mag, der Autor ist es nicht. Wenn ich den Text überarbeiten sollte, dann würde ich das mit aufnehmen, was ich in den Jahren seit der Veröffentlichung gelernt habe: weitere Einzelheiten aus der psychotherapeutischen Praxis und über die großen Leistungen von Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche, zwei Philosophen, die für mich sehr wichtig geworden sind.

Die Fragen und Kommentare der Leser, die mich im Lauf der Jahre erreicht haben, haben mich bewogen, bestimmte Aspekte aus der Praxis der existenziellen Psychotherapie deutlicher zu machen, die ich im Text nur angerissen und nicht ausgeführt habe. Besonders häufig werde ich gefragt: Wo gibt es die besten Ausbildungsprogramme für existenzielle Psychotherapie? Mir ist bei dieser Frage nicht wohl: ich benutze heute den Begriff »existenzielle Psychotherapeuten« nur sehr selten und spreche lieber von »existenziell sensiblen«, »existenziell orientierten« oder »existenziell gestimmten« Therapeuten. Ich glaube nicht, dass existenzielle Therapie eine eigenständige, unabhängige ideologische Schule sein kann. Man kann angehende Therapeuten nicht von Anfang an zu existenziellen Therapeuten ausbilden, sondern sollte ein volles, abgerundetes psychotherapeutisches Ausbildungsprogramm durch existenzielle Sensibilität quasi veredeln.

Dafür ein anschauliches Beispiel: Vor kurzem kam Felix, ein fünfzigjähriger Zahnarzt, zu mir in Behandlung, der nach dem Tod eines nahen Freundes unter anhaltender chronischer Todesangst litt. Er wurde fast jede Nacht von Todesängsten überschwemmt und hatte viele Aktivitäten (wie Autofahren, Skifahren und Schwimmen) aufgegeben, weil sie ihm zu gefährlich schienen. Bei der Exploration von Todesängsten, so habe ich festgestellt, sind Nietzsches Bemerkungen über die Vollendung des eigenen Lebens und den richtigen Zeitpunkt des Sterbens ausgesprochen nützlich. Ich glaube, dass es zwischen Todesangst und erfülltem Leben einen Zusammenhang gibt: je größer das ungelebte Leben, desto größer die Verzweiflung. Also fragte ich Felix, ob er das Gefühl habe, sein Leben ganz gelebt zu haben, oder ob er ungelebtes Lebens in sich spüre.

Felix ging auf diese Frage ein und sprach lange über seine brachliegende Kreativität. Obwohl er ein begabter Maler war, hatte er seit Jahren nichts mehr gemalt. Auf die Frage nach dem Grund für diese Vernachlässigung seines kreativen Selbst antwortete er: »Zu viel zu tun, zu beschäftigt mit Geld verdienen!« Doch wie ich bald erfuhr, verdiente er mehr Geld, als er brauchte. Die weitere Exploration ergab, dass die Triebkraft dahinter eine implizite Konkurrenz mit seiner Frau – ebenfalls Zahnärztin – war, die sich um die Frage drehte, wer mehr verdiente.

»Was würden Sie über diesen Lebensplan denken, wenn Ihr Leben jetzt zu Ende wäre?« fragte ich.

»Verheerend«, antwortete er, »ein weggeworfenes Leben«.

Die nächste Phase unserer Arbeit konzentrierte sich auf seine Ehe, auf die anhaltenden Auseinandersetzungen und die Unzufriedenheit mit seiner Frau und mit anderen wichtigen Frauen aus seiner Vergangenheit und Gegenwart. Danach untersuchten wir seine tiefe Neigung, über andere zu ›richten‹ – über mich, über alle Menschen in seiner Umgebung. Diese Untersuchung führte zurück zu der Unfähigkeit zu malen – er schien Angst vor Kritik zu haben und nicht bereit zu sein, die Grenzen seiner Kreativität auszuloten, sondern wollte die Vorstellung potenzieller Größe bewahren.

Was ich damit sagen will, ist, dass bei diesem Patienten wie bei fast allen anderen die therapeutische Exploration einer existenziellen Angst den Weg zu einer Reihe interpersonaler und innerpsychischer Bereiche gebahnt hat. Der Therapeut muss in der Lage sein, den Patienten dorthin zu begleiten, wo der Weg hinführt.

Noch ein paar Worte über die Alltagspraxis einer existenziell gestimmten Therapie: Obwohl ich das Buch für ein Fachpublikum geschrieben habe, haben viele Patienten, die es gelesen haben (meist solche mit einer tödlichen Erkrankung), gesagt, sie hätten von dem existenziellen Ansatz profitiert. Aber zur Psychotherapie gehört in der Regel mehr als nur die Vermittlung von Inhalten.

Wie sieht existenzielle Psychotherapie in der Praxis wirklich aus? Will man diese Frage beantworten, muss man auf den »Inhalt« und auf den »Prozess« achten, also auf die beiden wichtigen Aspekte des therapeutischen Diskurses. »Inhalt« heißt genau das – die exakten Worte, die gesprochen, die wesentlichen Themen, die angesprochen werden. »Prozess« bezieht sich auf eine ganz andere und ungeheuer wichtige Dimension: auf die interpersonale Beziehungzwischen Patient und Therapeut. Wenn wir nach dem »Prozess« einer Interaktion fragen, meinen wir: Was sagen die Worte (und das nonverbale Verhalten) über das Wesen der Beziehung zwischen den an der Interaktion beteiligten Parteien aus?

Wenn wir also meine Therapiesitzung beobachten, welchen Inhalt und welchen Prozess können wir dann erkennen? Betrachten wir zunächst den Inhalt: Hier wird der Beobachter oft vergeblich auf ausführliche, explizite Diskussionen über Tod, Freiheit, Sinn oder existenzielle Einsamkeit warten. Ein solcher existenzieller Inhalt wird nur für einige (aber nicht alle) Patienten in einigen (aber nicht in allen) Phasen der Therapie wichtig sein. Ein effektiver Therapeut sollte nie versuchen, Diskussionen über einzelne inhaltliche Bereiche zu erzwingen: Therapie darf nicht theorie-, sondern muss beziehungsgeleitet sein.

Betrachten wir jetzt den Prozess. Achtet man in denselben Sitzungen auf einen charakteristischen, aus einer existenziellen Orientierung abgeleiteten Prozess, wird man etwas ganz anderes erkennen: Eine erhöhte Sensibilität für existenzielle Fragen hat großen Einfluss auf das Wesen der Beziehung von Therapeut und Patient und berührt jede einzelne Therapiesitzung. Denn Therapeut und Patient sind mit denselben Lebenstatsachen konfrontiert und müssen beide die Angst bewältigen, die aus den vier existenziellen Fragen entsteht, die in diesem Buch beschrieben werden. Es gibt hier kein wir (die Therapeuten) und sie (die Leidenden). Es ist uns gemeinsam, wir sind Reisegefährten – oder, wie Schopenhauer sagt: Leidensgefährten –, und die Grundlagen effektiver Therapie sind tiefe Fürsorge und Empathie für unsere Patienten und die Schaffung einer echten Begegnung.

 

Denken Sie daran: In der existenziell sensiblen Therapie gibt es eine dynamische adaptive Spiralbewegung zwischen Inhalt und Prozess. Das alte Sprichwort: Es ist die Beziehung, die heilt, gilt für den existenziellen genauso wie für jeden anderen psychotherapeutischen Ansatz. Aber die existenziellen Fakten des Lebens sind eine Richtschnur für eine tiefere, reichere Beziehung zu denen, die unsere Hilfe suchen. Und wenn eine solche Beziehung erst einmal da ist, kann der Patient nicht nur die Basis seines persönlichen Lebens – seine Geschichte und seinen Alltag – tiefer erkunden, sondern auch die Basis seiner Existenz.

Irvin D. Yalom, 2005

1. Kapitel: Einführung

Vor vielen Jahren meldeten sich einige Freunde und ich zu einem Kochkurs an, der von einer armenischen Matrone und ihrem betagten Diener gegeben wurde. Da sie kein Englisch sprach und wir kein Armenisch, war die Unterhaltung nicht einfach. Sie lehrte durch Demonstration; wir schauten zu (und versuchten fleißig, ihre Rezepte eins zu eins zu verstehen), während sie eine Reihe wunderbarer Auberginen- und Lammgerichte zubereitete. Aber unsere Rezepte waren unvollkommen, und so sehr wir uns auch bemühten, wir konnten ihre Gerichte nicht nachahmen. »Was war es«, fragte ich mich, »das ihrer Kochkunst dieses besondere Etwas gab?« Die Antwort entzog sich mir, bis ich eines Tages, als ich besonders aufmerksam beobachtete, was in der Küche vor sich ging, unsere Lehrerin mit großer Würde und Überlegtheit ein Mahl zubereiten sah. Sie übergab es ihrem Diener, der es wortlos in die Küche zum Ofen trug und ohne zu zögern eine Handvoll ausgewählter Gewürze und Zutaten nach der anderen hineinwarf. Ich bin überzeugt, dass jene heimlichen »Zugaben« den ganzen Unterschied ausmachten.

An diesen Kochkurs erinnere ich mich, wenn ich über Psychotherapie nachdenke, besonders wenn ich an die entscheidenden Zutaten erfolgreicher Therapie denke. Formale Texte, Zeitschriftenaufsätze und Vorlesungen beschreiben Therapie als exakt und systematisch, mit sich sorgfältig abzeichnenden Stadien, strategisch technischen Interventionen, methodischer Entwicklung und Wiederauflösung von Übertragung, Analyse der Objektbeziehungen und als ein sorgfältiges rationales Programm von Interpretationen, die Einsichten ermöglichen. Aber ich glaube wirklich, dass der Therapeut das »Eigentliche« hineinwirft, wenn niemand zuschaut.

Aber welches sind diese »Zugaben«, diese flüchtigen, außerplanmäßigen Extras? Sie existieren außerhalb der formalen Theorie, über sie wird nicht geschrieben, sie werden nicht ausdrücklich gelehrt. Die Therapeuten sind sich ihrer oft nicht bewusst; aber jeder Therapeut weiß, dass er oder sie es nicht erklären kann, warum viele Patienten Fortschritte machen. Die entscheidenden Zutaten sind schwer zu beschreiben, noch schwerer zu definieren. Ist es überhaupt möglich, solche Qualitäten wie Mitgefühl, »Präsenz«, Fürsorge, sich selbst öffnen, den Patienten auf einer tiefen Ebene berühren oder diese flüchtigste Qualität von allen – Weisheit – zu definieren und zu lehren?

Einer der ersten aufgezeichneten Fälle moderner Psychotherapie zeigt sehr anschaulich, wie Therapeuten diese Extras selektiv außer Acht lassen.1 (Spätere Beschreibungen von Therapien sind weniger brauchbar in dieser Hinsicht, weil sie so besessen von der richtigen Durchführung der Therapie waren, dass die außerplanmäßigen Manöver in den Fallberichten ausgelassen wurden.) 1892 behandelte Sigmund Freud erfolgreich ein Fräulein Elisabeth von R., eine junge Frau, die an psychogenen Gehschwierigkeiten litt. Freud erklärte diesen therapeutischen Erfolg ausschließlich mit seiner Technik der Abreaktion, der Aufhebung der Verdrängung bestimmter schädlicher Wünsche und Gedanken. Aber wenn man Freuds Aufzeichnungen studiert, ist man erstaunt von der Vielfalt seiner anderen therapeutischen Handlungen. Zum Beispiel beauftragte er Elisabeth, das Grab ihrer Schwester zu besuchen und bei einem jungen Mann vorbeizuschauen, den sie attraktiv fand. Um ihr Leiden zu erleichtern, »bekümmerte« er sich »freundschaftlich um gegenwärtige Verhältnisse«2 der Patientin und »suchte in solcher Absicht« Kontakt zu ihrer Familie: Er befragte die Mutter der Patientin und »bat sie inständig«, eine Möglichkeit der Kommunikation mit der Patientin zu eröffnen und ihr von Zeit zu Zeit zu erlauben, ihren Kummer auszusprechen. Er erfuhr von der Mutter, dass Elisabeth keine Chance hatte, den Mann ihrer verstorbenen Schwester zu heiraten, und teilte dies seiner Patientin mit. Er half dabei, das finanzielle Durcheinander der Familie zu klären. Ein anderes Mal drängte Freud Elisabeth, mit ruhiger Gelassenheit der Tatsache ins Auge zu sehen, dass die Zukunft für jeden unvermeidlicherweise unsicher ist. Er tröstete sie wiederholt, indem er ihr versicherte, dass sie nicht für unerwünschte Gefühle verantwortlich sei und dass der Grad an Schuld und Reue, die sie für diese Gefühle empfand, ein überzeugender Beweis ihres hochmoralischen Charakters sei. Als Freud schließlich nach Beendigung der Therapie hörte, dass Elisabeth zu einem privaten Tanzvergnügen gehen würde, verschaffte er sich eine Einladung, so dass er sie »in einem lebhaften Tanz vorbei wirbeln« sehen konnte. Man muss sich wirklich fragen, welches von Freuds Extras, die zweifellos wirkungsvolle Interventionen darstellten, Fräulein von R. halfen; sie aus der Theorie auszuklammern heißt, dem Irrtum Tür und Tor zu öffnen.

Es ist meine Absicht, in diesem Buch einen Zugang zur Psychotherapie vorzuschlagen und zu erläutern – eine theoretische Struktur und eine Reihe von Techniken, die aus dieser Struktur hervorgehen – der einen Rahmen für viele der Extras in der Therapie bereitstellt. Das Etikett für diesen Zugang, »existenzielle Psychotherapie«, widersetzt sich einer prägnanten Definition, denn die Grundlagen der existenziellen Orientierung sind nicht empirisch, sondern zutiefst intuitiv.

Ich werde zuerst eine formale Definition anbieten, und dann werde ich im gesamten übrigen Buch diese Definition erläutern:

Existenzielle Psychotherapie ist ein dynamischer Zugang zur Therapie, der sich auf die Gegebenheiten konzentriert, welche in der Existenz des Individuums verwurzelt sind.

Ich bin überzeugt davon, dass die große Mehrheit der erfahrenen Therapeuten, ganz gleich, ob sie einer anderen ideologischen Ausrichtung anhängen, viele der existenziellen Einsichten verwenden, die ich beschreiben werde. Die Mehrheit der Therapeuten ist sich beispielsweise der Tatsache bewusst, dass das Verständnis von unserer Endlichkeit oft eine bedeutende innere Verschiebung der Perspektive auslösen kann; dass es die Beziehung ist, die heilt; dass die Patienten von Entscheidungssituationen gequält werden; dass ein Therapeut Katalysator für den »Willen« des Patienten zum Handeln ist; und ebenso, dass die Mehrzahl der Patienten an Sinnverlust in ihrem Leben leidet.

Aber der existenzielle Ansatz ist mehr als ein subtiler Akzent oder eine implizite Perspektive, die die Therapeuten unwissentlich verwenden. Während meiner Vorlesungen für Therapeuten über verschiedene Themen fragte ich immer wieder: »Wer von Ihnen betrachtet sich als existenziell ausgerichtet?« Ein hoher Anteil der Zuhörerschaft, gewöhnlich mehr als fünfzig Prozent, antwortete zustimmend. Aber wenn diese Therapeuten gefragt wurden, »Was ist der existenzielle Ansatz?«, fanden sie es schwierig zu antworten. Die Sprache, die von Therapeuten verwendet wird, um irgendeinen therapeutischen Ansatz zu beschreiben, war nie berühmt für ihre Griffigkeit oder schlichte Klarheit; aber keine von all den therapeutischen Ausdrucksweisen kann mit der existenziellen in ihrer Vagheit und Verwirrung konkurrieren. Die Therapeuten assoziieren den existenziellen Ansatz mit solchen in sich unpräzisen und offensichtlich beziehungslosen Begriffen wie »Authentizität«, »Begegnung«, »Verantwortung«, »Wahl«, »humanistisch«, »Selbstaktualisierung«, »sich zentrieren«, »im Sinne Sartres« und »im Sinne Heideggers«; und viele Experten für geistige Gesundheit haben ihn lange Zeit für eine verworrene, »sanfte«, irrationale und romantische Orientierung gehalten, die, statt ein »Ansatz« zu sein, einen Freibrief für Improvisation gibt, damit undisziplinierte und ungenaue Therapeuten »ihr eigenes Ding machen können«. Ich hoffe, zeigen zu können, dass solche Schlussfolgerungen ungerechtfertigt sind, dass der existenzielle Ansatz ein wertvolles, effektives psychotherapeutisches Paradigma ist, das ebenso rational, in sich schlüssig und systematisch ist wie irgendein anderes.