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Loe raamatut: «Aufzeichnungen eines Jägers», lehekülg 17

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Die Sänger

Das kleine Dorf Kolotowka, das einst einer Gutsbesitzerin gehört hatte, die man wegen ihres Mutes und ihrer Schlagfertigkeit in der ganzen Umgegend die Kratzbürste nannte (ihr wahrer Name blieb unbekannt), und das jetzt irgendeinem Petersburger Deutschen gehört, liegt am Abhang eines kahlen Hügels, der von oben bis unten durch eine schauerliche Kluft gespalten ist, welche, wie ein Abgrund gähnend, aufgewühlt und ausgespült, sich mitten durch die Straße schlängelt und weit gründlicher als ein Fluß – über einen Fluß kann man wenigstens eine Brücke schlagen – die beiden Hälften des armen Dörfchens voneinander trennt. Einige magere Bachweiden lassen sich ängstlich an ihren sandigen Abhängen herab, und auf dem Grund, der trocken und gelb wie Messing ist, liegen ungeheure flache Platten lehmigen Gesteins. Ein unerfreuliches Bild, das muß man schon sagen, und doch ist der Weg nach Kolotowka allen Bewohnern der Umgegend bekannt: Sie fahren oft und gern hin.

Ganz am Kopf der Kluft, einige Schritt von dem Punkt, wo sie als schmaler Spalt beginnt, steht ein kleines, viereckiges Häuschen; es steht einsam, abseits von den andern. Es ist mit Stroh gedeckt und hat einen Schornstein; ein Fenster ist wie ein wachsames Auge der Kluft zugewandt; es ist an Winterabenden, von innen erleuchtet, im trüben Frostnebel weit sichtbar und leuchtet gar manchem vorbeifahrenden Bauern als Leitstern. Über der Tür des Häuschens ist ein blaues Brettchen angenagelt: Dieses Häuschen ist eine Schenke mit dem Namen Pritynnyj.Pritynnyj heißt ein Ort, wo man gerne zusammenkommt, jeder angenehme Aufenthaltsort. (Anmerkung Turgenjews) In dieser Schenke wird der Schnaps wohl nicht billiger als zum vorgeschriebenen Preis verkauft, sie wird aber doch viel fleißiger besucht als alle ähnlichen Anstalten in der ganzen Umgegend. Der Grund dafür ist der Schenkwirt Nikolai Iwanytsch.

Nikolai Iwanytsch, einst ein schlanker, lockiger und rotbackiger Bursche, jetzt aber ein ungewöhnlich dicker, schon ergrauter Mann mit fettem, aufgedunsenem Gesicht, listig gutmütigen Äuglein und einer fleischigen Stirne, die von Runzeln wie von Fäden durchzogen ist, lebt schon länger als zwanzig Jahre in Kolotowka. Nikolai Iwanytsch ist, wie die meisten Schenkwirte, ein rühriger und kluger Mann. Ohne sich durch besondere Liebenswürdigkeit oder Gesprächigkeit auszuzeichnen, hat er die Gabe, die Gäste anzuziehen und festzuhalten, und diesen ist es irgendwie angenehm, vor seinem Schenktisch, unter dem ruhigen und freundlichen, wenn auch scharfen Blick des phlegmatischen Wirtes zu sitzen. Er hat viel gesunden Menschenverstand; er kennt gut die Lebensverhältnisse der Gutsbesitzer, auch der Bauern und der Kleinbürger; in schwierigen Fällen könnte er wohl einen gar nicht dummen Rat geben, aber als vorsichtiger Egoist zieht er es doch vor, sich in nichts einzumischen und nur durch entfernte, gleichsam ohne jede Absicht hingeworfene Andeutungen seine Gäste – und zwar nur die von ihm bevorzugten – auf den richtigen Weg zu leiten. Er versteht sich auf alles, was einem Russen wichtig oder interessant ist: auf Pferde und Vieh, auf Wald, Ziegelsteine und Geschirr, auf Leder- und Schnittwaren, auf Gesang und Tanz. Wenn er keinen Besuch hat, sitzt er gewöhnlich wie ein Sack auf der Erde vor der Tür seines Hauses, die dünnen Beinchen untergeschlagen, und wechselt mit allen Vorübergehenden freundliche Worte. Vieles hat er in seinem Leben gesehen und manches Dutzend kleiner Edelleute überlebt, die sich von ihm ›gereinigten‹ Branntwein holten; er weiß alles, was hundert Werst im Umkreis geschieht, verplaudert sich aber nie und zeigt nicht einmal die Miene, daß ihm manches bekannt ist, was selbst der scharfsichtigste Polizeibeamte nicht vermutet. Er schweigt nur, lächelt und hantiert mit seinen Schnapsgläsern. Die Nachbarn achten ihn: Der Zivilgeneral Schtscherepetenko, der im Range am höchsten stehende Gutsbesitzer des Kreises, grüßt ihn herablassend, sooft er an seinem Häuschen vorüberfährt. Nikolai Iwanytsch ist ein einflußreicher Mann; einmal zwang er einen bekannten Pferdedieb, ein Pferd zurückzugeben, das jener aus dem Hof eines seiner Bekannten gestohlen hatte; ein anderes Mal brachte er die Bauern eines Nachbargutes, die einen neuen Verwalter nicht aufnehmen wollten, zur Vernunft usw. Übrigens glaube man ja nicht, daß er es aus Liebe für die Gerechtigkeit, aus Eifer für seine Nächsten getan habe, nein! Er bemühte sich einfach, alles zu verhüten, was irgendwie seine Ruhe stören konnte. Nikolai Iwanytsch ist verheiratet und hat Kinder. Seine Frau, eine flinke Kleinbürgerin mit spitzer Nase und lebhaften Augen, ist in der letzten Zeit gleich ihrem Manne etwas zu dick geworden. Er verläßt sich auf sie in allen Dingen, und sie hat das Geld in Verwahrung. Die lärmenden Betrunkenen fürchten sie; sie mag sie nicht; sie bringen wenig ein, machen aber viel Geschrei; die Schweigsamen und Düsteren sind mehr nach ihrem Geschmack. Die Kinder Nikolai Iwanytschs sind noch klein; die ersten waren früh gestorben, die übriggebliebenen aber den Eltern nachgeartet, es ist ein Vergnügen, die klugen Gesichter dieser gesunden Kinder anzuschauen.

Es war ein unerträglich heißer Julitag, als ich, langsam die Beine bewegend, mit meinem Hund an der Kluft von Kolotowka entlang zu der Pritynnyj-Schenke hinaufging. Die Sonne brannte am Himmel wie wütend, es war drückend schwül, und die Luft war von glühendem Staub erfüllt. Die glänzenden Krähen und Dohlen blickten die Vorbeigehenden mit offenen Schnäbeln an, als flehten sie um Teilnahme; die Spatzen allein jammerten nicht und zwitscherten mit gesträubten Federn noch lauter als zuvor; sie kämpften an den Zäunen, flogen haufenweise von der staubigen Straße auf und schwebten als graue Wolken über den grünen Hanffeldern. Mich quälte der Durst. In der Nähe gab es kein Wasser; in Kolotowka, wie in den meisten Steppendörfern, trinken die Bauern in Ermangelung von Quellen und Brunnen einen flüssigen Schmutz aus dem Teich . . . Wer wird aber dieses ekelhafte Getränk Wasser nennen? Ich wollte mir von Nikolai Iwanytsch ein Glas Bier oder Kwaß geben lassen.

Aufrichtig gesagt, bietet Kolotowka zu gar keiner Jahreszeit einen erfreulichen Anblick; einen besonders traurigen Eindruck macht aber das Dorf, wenn die grelle Julisonne mit ihren erbarmungslosen Strahlen die braunen, halbzerfallenen Hausdächer übergießt, diese tiefe Kluft, die verbrannte, staubige Viehweide, auf der hoffnungslos einige magere, langbeinige Hühner herumirren, das graue Gehäuse aus Espenbalken mit Löchern statt Fenster – den von Brennesseln, Steppengras und Wermut überwucherten Überrest des einstigen Herrenhauses, den mit Gänseflaum bedeckten, schwarzen, gleichsam glühenden Teich mit seinem Saum aus halbeingetrocknetem Schmutz und seinem Damm, der sich auf die Seite geneigt hat und neben dem auf der feinzerstampften, aschgrauen Erde sich die Schafe, vor Hitze niesend und kaum atmend, traurig aneinanderdrängen und die Köpfe geduldig so tief wie möglich senken, als ob sie warteten, daß diese unerträgliche Hitze endlich aufhöre. Mit müden Schritten näherte ich mich der Behausung Nikolai Iwanytschs und erregte durch mein Erscheinen, wie gewöhnlich, bei den Kindern ein Erstaunen, das an gespanntes, sinnloses Starren grenzte, und bei den Hunden eine Entrüstung, die sich in einem dermaßen heiseren und bösen Gebell äußerte, daß man den Eindruck hatte, als rissen sie sich alle ihre Eingeweide heraus, und daß sie selbst dann husteten und um Atem rangen, als plötzlich auf der Schwelle der Schenke ein Mann von hohem Wuchs erschien, ohne Mütze, in einem Friesmantel, der tief unten von einem blauen Gürtel zusammengehalten war. Dem Aussehen nach mochte er dem leibeigenen Hofgesinde angehören; das dichte graue Haar erhob sich unordentlich über dem trockenen, runzligen Gesicht.

Er rief jemandem, indem er schnell mit den Armen winkte – wobei er augenscheinlich viel weiter ausholte, als er es selbst wollte. Es war ihm anzusehen, daß er schon etwas getrunken hatte.

»Komm doch, komm!« lallte er, mit Mühe seine dichten Brauen hebend. »Komm; Morgatsch, komm! Wie schleppst du dich bloß, Bruder! Das ist nicht schön, Bruder. Man wartet hier auf dich, und du schleppst dich so . . . Komm!«

»Nun, ich komme, ich komme«, erklang eine zitternde Stimme, und rechts hinter dem Haus erschien ein kleiner dicker und hinkender Mann. Er trug eine ziemlich saubere Tuchjoppe, die auf einem Ärmel angezogen war; die hohe, spitze Mütze, die ihm dicht über den Brauen saß, verlieh seinem runden und gedunsenen Gesicht einen listigen und spöttischen Ausdruck. Seine kleinen gelben Augen schweiften umher, die feinen Lippen umspielte ein gespanntes, gezwungenes Lächeln, und die spitze, lange Nase ragte frech wie ein Steuerruder aus seinem Gesicht. »Ich komme, Liebster«, fuhr er fort, indem er auf die Schenke zuhumpelte. »Warum rufst du mich . . .? Wer wartet auf mich?«

»Warum ich dich rufe?« sagte vorwurfsvoll der Mann in dem Friesmantel. »Was bist du für ein merkwürdiger Mensch, Morgatsch; man ruft dich in die Schenke, und du fragst, wozu. Auf dich warten aber lauter gute Menschen: Jaschka, der Türke, der Wilde Herr, und der Bauführer aus Schisdra. Jaschka und der Bauführer haben miteinander gewettet um ein Achtel Bier: wer den anderen besiegt, das heißt, wer besser singt . . . verstehst du?«

»Wird Jaschka singen?« fragte der Mann, den man Morgatsch nannte, lebhaft. »Lügst du auch nicht, Obaldui?«

»Ich lüge nicht«, antwortete Obaldui mit Würde. »Aber du fragst darum. Er wird wohl singen, wenn er gewettet hat, du Marienkäferchen, du Spitzbube, Morgatsch!«

»Also gehen wir, Narr«, entgegnete Morgatsch.

»Küß mich wenigstens, meine liebe Seele«, lallte Obaldui, seine Arme öffnend.

»Sieh mal an, du zärtlicher Äsop«, antwortete Morgatsch verächtlich, indem er ihn mit dem Ellenbogen zurückstieß, und beide traten gebückt in die niedere Tür.

Das Gespräch, das ich hörte, erregte lebhaft meine Neugier. Schon mehr als einmal hatte ich von Jaschka dem Türken als dem besten Sänger im ganzen Kreis gehört, und plötzlich bot sich mir die Gelegenheit, ihn im Wettstreit mit einem anderen Meister zu hören. Ich verdoppelte meine Schritte und trat in die Schenke.

Es haben wohl nur wenige von meinen Lesern die Gelegenheit gehabt, einen Blick in eine Dorfschenke zu werfen; aber unsereins, der Jäger – wo kommt er nicht überall hin! Die Einrichtung so einer Schenke ist außerordentlich einfach. Sie besteht gewöhnlich aus einem dunklen Flur und einer besseren Stube, die durch einen Verschlag in zwei Teile geteilt ist; niemand von den Besuchern darf hinter diesen Verschlag treten. In diesen Verschlag ist über einem breiten, eichenen Tisch eine große breite Öffnung eingeschnitten. Auf diesem Tisch wird der Branntwein ausgeschenkt. Versiegelte Branntweinflaschen verschiedener Größe stehen nebeneinander auf Borden, der Öffnung gegenüber. In der vorderen Hälfte der Stube, die für die Gäste bestimmt ist, befinden sich Bänke, zwei oder drei leere Fässer und ein Ecktisch. Die Dorfschenken sind meistens ziemlich dunkel, und man wird an den aus Balken gezimmerten Wänden nie irgendwelche bunt ausgemalten Bilderbogen finden, die sonst kaum in einem Bauernhaus fehlen.

Als ich in die Pritynnyj-Schenke trat, befand sich da schon eine ziemlich große Gesellschaft.

Hinter dem Schenktisch stand, die ganze Breite der Öffnung einnehmend, Nikolai Iwanytsch in einem bunten Kattunhemd und schenkte mit einem trägen Lächeln auf den dicken Wangen mit seiner vollen, weißen Hand zwei Glas Branntwein, für die eintretenden Freunde Morgatsch und Obaldui ein; hinter ihm am Fenster in der Ecke sah man seine Frau mit ihren lebhaften Augen. In der Mitte der Stube stand Jaschka der Türke, ein hagerer, schlanker Mann von dreiundzwanzig Jahren, bekleidet mit einem Kaftan aus blauem Nanking. Er sah wie ein fixer Fabrikarbeiter aus und schien sich keiner hervorragenden Gesundheit rühmen zu können. Seine eingefallenen Wangen, seine großen, unruhigen grauen Augen, die gerade Nase mit den feinen, beweglichen Flügeln, die weiße, abschüssige Stirn mit den zurückgeworfenen hellblonden Locken, die dicken, aber schönen und ausdrucksvollen Lippen – sein ganzes Gesicht zeugte von einem leicht erregbaren und leidenschaftlichen Temperament. Er war in großer Aufregung: Er zwinkerte mit den Augen, atmete unregelmäßig, seine Hände zitterten wie im Fieber – und er hatte auch wirklich Fieber, jenes plötzliche Fieber der Unruhe, das allen Menschen, die vor einer Versammlung sprechen oder singen, so gut bekannt ist. Neben ihm stand ein etwa vierzigjähriger Mann mit breiten Schultern und breiten Backenknochen, einer niederen Stirn, tatarischen Schlitzaugen, einer kurzen, flachen Nase, einem viereckigen Kinn und schwarzen, glänzenden, borstenähnlichen Haaren. Den Ausdruck seines dunklen Gesichts mit dem bleigrauen Schimmer, besonders seiner bleichen Lippen, könnte man grausam nennen, wenn er dabei nicht so ruhig und versonnen wäre. Er bewegte sich fast nicht und blickte nur langsam um sich wie ein Stier unter dem Joch. Er trug irgendeinen alten Rock mit glatten Messingknöpfen; ein altes schwarzes Seidentuch umschlang seinen starken Hals. Man nannte ihn den Wilden Herrn. Ihm gerade gegenüber saß auf der Bank unter den Heiligenbildern Jaschkas Gegner, der Bauführer aus Schisdra; dieser war ein Mann von etwa dreißig Jahren, pockennarbig und kraushaarig, mit einer aufgeworfenen, stumpfen Nase, lebhaften braunen Augen und einem dünnen Bärtchen. Er blickte verwegen um sich, hatte die Hände unter sich gesteckt und baumelte und klopfte sorglos mit seinen Füßen, die in eleganten, mit Band besetzten Stiefeln staken. Er trug einen neuen Kittel aus feinem grauem Tuch mit einem Plüschkragen, von dem sich der Saum des roten Hemdes, das am Halse fest zugeknöpft war, scharf abhob. In der Ecke gegenüber, rechts von der Tür, saß am Tisch ein Bäuerlein in einem engen, abgetragenen Kittel mit einem Riesenloch auf der Schulter; Das Sonnenlicht drang als ein flüssiger gelblicher Strom durch die verstaubten Scheiben der beiden kleinen Fenster und schien die gewohnte Dunkelheit des Zimmers nicht besiegen zu können: Alle Gegenstände waren spärlich, fleckenweise beleuchtet; dafür war es in der Stube fast kühl, und das Gefühl der Schwüle und Hitze fiel mir wie eine schwere Last von den Schultern, sobald ich über die Schwelle trat.

Mein Erscheinen – das konnte ich merken – brachte die Gäste Nikolai Iwanytschs anfangs in einige Verlegenheit; als sie aber sahen, daß er mich wie einen Bekannten begrüßte, beruhigten sie sich und schenkten mir keine weitere Aufmerksamkeit. Ich ließ mir Bier geben und setzte mich in die Ecke neben das Bäuerlein im zerrissenen Kittel. »Na«, schrie plötzlich Obaldui auf, nachdem er ein Glas Branntwein auf einen Zug geleert hatte, und begleitete diesen Ausruf mit jenem sonderbaren Fuchteln mit den Händen, ohne das er anscheinend kein einziges Wort zu sprechen pflegte, »was sollen wir noch warten? Wenn wir anfangen wollen, so müssen wir anfangen. Nun, Jaschka . . .?«

»Anfangen, anfangen«, fiel ihm Nikolai Iwanytsch zustimmend ins Wort.

»Gut, fangen wir meinetwegen an«, versetzte der Bauführer kaltblütig mit einem selbstbewußten Lächeln. »Ich bin fertig.«

»Auch ich bin fertig«, sagte Jakow aufgeregt.

»Nun, fangt doch an, Kinderchen, fangt an«, piepste Morgatsch.

Aber trotz des einstimmig geäußerten Wunsches fing niemand an; der Bauführer erhob sich nicht einmal von seiner Bank – alle schienen noch auf etwas zu warten.

»Fang an!« sagte scharf und düster der Wilde Herr.

Jakow fuhr zusammen. Der Bauführer erhob sich, schob seinen Gürtel hinunter und räusperte sich.

»Wer soll aber anfangen?« fragte er mit leicht veränderter Stimme den Wilden Herrn, der immer noch unbeweglich mitten in der Stube stand, die dicken Beine breit auseinandergespreizt und die mächtigen Hände fast bis an die Ellenbogen in die Hosentaschen vergraben.

»Du, du, Bauführer«, lallte Obaldui, »du, Bruder!«

Der Wilde Herr sah ihn finster an. Obaldui gab einen leisen, piepsenden Ton von sich, wurde verlegen, blickte auf einen Punkt an der Decke, zuckte die Achseln und verstummte.

»Man werfe ein Los«, sagte der Wilde Herr gedehnt, »und das Achtel Bier auf den Schenktisch!«

Nikolai Iwanytsch bückte sich, hob ächzend das Achtel vom Boden und stellte es auf den Tisch.

Der Wilde Herr sah Jakow an und sagte: »Nun!«

Jakow wühlte in seinen Taschen, holte einen Kupfergroschen hervor und machte mit dem Zahn ein Zeichen darauf. Der Bauführer holte unter dem Schoß seines Kaftans einen neuen Lederbeutel hervor, band ohne Übereilung die Schnur auf, schüttete einen Haufen Kleingeld auf die Hand und suchte einen neuen Groschen heraus. Obaldui hielt seine abgetragene Mütze mit dem gebrochenen und abstehenden Schirm hin; Jakow warf seinen Groschen hinein, und der Bauführer seinen.

»Du hast zu ziehen«, sagte der Wilde Herr zu Morgatsch.

Morgatsch lächelte selbstzufrieden, nahm die Mütze in die beiden Hände und begann sie zu schütteln.

Augenblicklich trat eine tiefe Stille ein: die Groschen klirrten, aneinanderschlagend, leise. Ich sah mich aufmerksam um: Alle Gesichter drückten eine gespannte Erwartung aus; der Wilde Herr selbst kniff die Augen zusammen; sogar mein Nachbar, der Bauer im zerrissenen Kittel, reckte neugierig den Hals. Morgatsch steckte die Hand in die Mütze und holte den Groschen des Bauführers hervor; alle atmeten auf. Jakow errötete, und der Bauführer strich sich mit der Hand das Haar.

»Ich hab’ doch gesagt, daß du anfangen sollst«, rief Obaldui, »ich hab’ es dir doch gesagt!«

»Nun, nun, krächze nicht!« bemerkte verächtlich der Wilde Herr. »Fang an«, fuhr er fort, mit dem Kopf dem Bauführer zunickend.

»Was für ein Lied soll ich denn singen?« fragte der Bauführer, in Erregung geratend.

»Welches du willst«, antwortete Morgatsch. »Was für ein Lied dir einfällt, das sing.«

»Natürlich, welches du willst«, fügte Nikolai Iwanytsch hinzu, die Hände langsam auf der Brust faltend. »Das kann dir niemand vorschreiben. Sing ein Lied, das du willst; sing aber gut; wir werden nachher nach unserem Gewissen entscheiden.«

»Natürlich, nach unserem Gewissen«, fiel Obaldui ein und leckte am Rande seines leeren Glases.

»Brüder, laßt mir noch etwas Zeit, daß ich mich räuspere«, sagte der Bauführer, mit den Händen am Kragen seines Kaftans nestelnd.

»Nun, nun, mach keine langen Geschichten, fang an!« entschied der Wilde Herr und senkte den Kopf.

Der Bauführer dachte eine Weile nach, schüttelte die Haare und trat vor, Jakow heftete auf ihn seine Augen . . .

Bevor ich aber mit der Beschreibung des Wettstreites beginne, halte ich es nicht für überflüssig, einige Worte von jeder der handelnden Personen meiner Erzählung zu sagen. Das Leben einiger von ihnen war mir schon bekannt, als ich sie in der Pritynnyj-Schenke traf; über die anderen zog ich erst später Erkundigungen ein.

Wollen wir mit Obaldui anfangen. Dieser Mensch hieß eigentlich Jewgraf Iwanow, aber im ganzen Kreis nannte ihn niemand anders als Obaldui,7 und auch er selbst titulierte sich mit diesem Spitznamen, so gut paßte er zu ihm. Und in der Tat, er stand gut zu seinen nichtssagenden, immer aufgeregten Gesichtszügen. Er war ein verbummelter, unverheirateter Leibeigener aus dem Hausgesinde, den seine eigene Herrschaft schon längst aufgegeben hatte und der, ohne irgendein Amt zu versehen und ohne einen Groschen Gehalt zu beziehen, dennoch Mittel fand, jeden Tag auf fremde Rechnung zu bummeln. Er hatte eine Menge Bekannte, die ihn mit Branntwein und Tee traktierten, ohne selbst zu wissen, warum; denn er war in Gesellschaft nicht nur nicht unterhaltend, sondern langweilte alle mit seinem albernen Geschwätz, mit seiner unerträglichen Zudringlichkeit, seinen fieberhaften Gebärden und dem unaufhörlichen, unnatürlichen Lachen. Er verstand weder zu singen noch zu tanzen. Zeit seines Lebens hatte er kein einziges kluges, nicht einmal ein halbwegs vernünftiges Wort gesprochen, er faselte nur und log das Blaue vom Himmel herunter – ein wirklicher Obaldui. Und doch konnte vierzig Werst im Umkreis kein einziges Trinkgelage stattfinden, ohne daß sich seine lange, hagere Gestalt unter den Gästen bewegte – so sehr hatte man sich an ihn gewöhnt und ertrug seine Gegenwart wie ein unvermeidliches Übel. Allerdings behandelte man ihn mit Verachtung, aber seine sinnlosen Ausfälle zu bändigen verstand nur der Wilde Herr.

Morgatsch glich in keiner Weise dem Obaldui. Auch ihm stand sein Spitzname Morgatsch8 gut, obwohl er mit den Augen nicht mehr zwinkerte als alle anderen Menschen; das russische Volk ist bekanntlich ein Meister im Erfinden von Spitznamen. Trotz meiner Bemühungen, die Vergangenheit dieses Menschen genauer zu erforschen, blieben für mich – wahrscheinlich auch für viele andere – in seinem Leben viele dunkle Punkte, oder, wie sich die Büchermenschen ausdrücken, in undurchdringliche Finsternis gehüllte Stellen. Ich hatte nur erfahren, daß er früher einmal Kutscher bei einer alten, kinderlosen Dame gewesen und mit der ihm anvertrauten Troika durchgebrannt war; nachdem er ein ganzes Jahr verschollen war und sich wohl durch Erfahrung von den Schattenseiten und dem Elend des Vagabundenlebens überzeugt hatte, kehrte er von selbst, jedoch lahm zurück, warf sich seiner Herrin zu Füßen, machte durch sein musterhaftes Betragen während einiger Jahre sein Verbrechen wieder gut und erwarb ihre Gunst und ihr volles Vertrauen, so daß er Verwalter wurde und sich nach dem Tode seiner Herrin, man weiß nicht recht auf welche Weise, als Freigelassener auswies; er ließ sich als Kleinbürger einschreiben, fing an, von den Nachbarn Gurkenfelder zu pachten, wurde reich und lebte nun ohne Sorgen. Er war ein erfahrener, vorsichtiger Mann, weder gut noch böse, eher berechnend; ein geriebener Kerl, der die Menschen kennt und sie auszunützen versteht. Er ist vorsichtig und zugleich unternehmungslustig wie ein Fuchs, geschwätzig wie ein altes Weib, verplaudert sich aber nie, sondern läßt jeden andern sich verplaudern. Übrigens spielt er nicht den Dummen, wie es manche Schlauköpfe seiner Art tun; ich habe noch nie im Leben durchdringendere und klügere Augen gesehen als seine winzigen, listigen ›Gucklöcher‹. Sie blickten niemals einfach vor sich hin, sondern schauten immer aus und lauerten. Morgatsch überlegt sich manchmal wochenlang ein scheinbar ganz einfaches Unternehmen, läßt sich dann plötzlich auf eine verzweifelt riskante Sache ein, bei der er sich wohl den Hals brechen müßte . . . aber eh man sich’s versieht, gelingt ihm alles, und alles geht wie geschmiert. Er ist glücklich und glaubt an sein Glück, er glaubt auch an allerlei Vorbedeutungen. Er ist überhaupt sehr abergläubisch. Man liebt ihn nicht, da er sich selbst um niemand kümmert, man hat aber vor ihm Respekt. Seine ganze Familie besteht aus einem einzigen Söhnchen, das er abgöttisch liebt und das, von einem solchen Vater erzogen, gewiß weit kommen wird. »Der kleine Morgatsch ist ganz seinem Vater nachgeraten«, sagen schon jetzt die alten Leute leise von ihm, wenn sie an Sommerabenden auf den Bänken sitzen und miteinander reden; alle verstehen, was das bedeutet und fügen kein Wort mehr hinzu.

Über Jakow den Türken und den Bauführer brauche ich mich nicht zu verbreiten. Jakow, der Türke genannt wird, weil er tatsächlich von einer gefangenen Türkin abstammt, ist innerlich ein Künstler in jedem Sinne, seinem Beruf nach aber ein Büttgesell in der Papierfabrik eines Kaufmanns; was den Bauführer angeht, dessen Schicksal mir, offen gestanden, unbekannt blieb, so erschien er mir als ein schlauer und rühriger städtischer Kleinbürger. Aber über den Wilden Herrn lohnt es sich wohl, etwas ausführlicher zu sprechen.

Der erste Eindruck, den der Anblick dieses Menschen macht, ist der einer rohen, schweren, aber unüberwindlichen Kraft. Er ist vierschrötig gebaut, atmet eine unerschütterliche Gesundheit, und seine Bärengestalt entbehrt seltsamerweise nicht einer eigenartigen Grazie, die vielleicht auf seinem vollkommen ruhigen Vertrauen auf die eigene Macht beruht. Es war schwer, auf den ersten Blick zu bestimmen, welchem Stand dieser Herkules angehörte; er glich weder einem Leibeigenen noch einem Kleinbürger, noch einem verarmten verabschiedeten Schreiber, noch einem ruinierten kleinen Edelmann, einem Hundenarren und Raufbold; er war etwas ganz für sich. Niemand wußte, woher er in unseren Landkreis hereingeschneit war; man erzählte sich, er stamme von Einhöfern ab und habe früher einmal irgendwo gedient; aber man wußte nichts Bestimmtes darüber; man konnte es ja auch von niemandem erfahren, jedenfalls nicht von ihm selbst; es gab keinen schweigsameren und düstereren Menschen auf der Welt. Ebenso konnte niemand etwas Bestimmtes darüber sagen, wovon er lebte; er trieb kein Handwerk, fuhr zu niemandem hin und verkehrte fast mit niemandem; und doch hatte er Geld, wenn auch nicht viel, aber immerhin etwas. Er benahm sich nicht gerade bescheiden – Bescheidenheit war ihm überhaupt fremd –, aber ruhig; er lebte, als wenn er niemanden um sich herum bemerkte und absolut keines Menschen bedurfte. Der Wilde Herr (das war sein Spitzname, eigentlich hieß er Perewljessow) hatte einen großen Einfluß im ganzen Landkreis; man gehorchte ihm sofort und gern, obwohl er nicht nur nicht das geringste Recht hatte, jemand zu befehlen, sondern auch gar keinen Anspruch auf den Gehorsam der Menschen erhob, mit denen er zufällig zusammentraf. Er sprach, und man gehorchte ihm – die Kraft behauptet sich immer. Er trank fast niemals Branntwein, gab sich nicht mit Weibern ab und liebte leidenschaftlich den Gesang. In diesem Menschen war viel Rätselhaftes; irgendwelche Riesenkräfte schienen in ihm düster zu schlummern, als wüßten sie, daß sie, wenn sie einmal befreit zum Ausbruch kämen, ihn selbst und alles, was sie berührten, zermalmen würden; ich müßte mich grausam irren, wenn im Leben dieses Menschen nicht schon ein solcher Ausbruch stattgefunden hat und er, durch Erfahrung belehrt und mit Mühe dem Untergang entronnen, sich jetzt nicht selbst unerbittlich in eisernem Zaum hielt. Besonders wunderte mich an ihm das Gemisch einer angeborenen natürlichen Grausamkeit und einer ebenso angeborenen Großherzigkeit – ein Gemisch, wie ich es noch bei keinem Menschen wahrgenommen habe.

Der Bauführer trat also vor, schloß halb die Augen und begann im allerhöchsten Falsett. Seine Stimme war recht angenehm und süß, wenn auch etwas heiser; er ließ diese Stimme wie einen Kreisel spielen, stieg unaufhörlich in die Höhe und in die Tiefe und kehrte unaufhörlich zu den höchsten Noten zurück, die er mit besonderer Sorgfalt anhielt und dehnte; dann verstummte er und ergriff plötzlich die frühere Melodie mit einer herausfordernden, zügellosen Bravour. Seine Passagen waren zuweilen ziemlich kühn, zuweilen recht amüsant; einem Kenner würden sie viel Vergnügen machen, ein Deutscher würde sich über sie entrüsten. Es war ein russischer Tenore di grazia, ténor léger. Er sang ein lustiges Tanzlied, dessen Worte, soviel ich durch die fortwährenden Ausschmückungen, durch die hinzugefügten Konsonanten und Ausrufe erkennen konnte, wie folgt, lauteten:

 
Werde pflügen, junge Dirne,
meinen Acker gut –
werde säen, junge Dirne,
Blumen rot wie Blut . . .
 

Er sang; alle hörten ihm mit großer Aufmerksamkeit zu. Er fühlte offenbar, daß er es mit Kennern zu tun hatte, und fuhr deshalb, wie man so sagt, aus der Haut. In unserer Gegend versteht man sich in der Tat auf den Gesang, und nicht umsonst ist das Kirchdorf Sergijewskoje an der großen Orjolschen Landstraße in ganz Rußland wegen seines angenehmen und harmonischen Gesanges berühmt. Lange sang der Bauführer, ohne jedoch in seinen Hörern ein besonders starkes Mitgefühl zu wecken. Ihm fehlte die Unterstützung eines Chores; aber bei einer besonders gelungenen Passage, die selbst den Wilden Herrn zum Lächeln brachte, konnte sich Obaldui nicht länger beherrschen und schrie vor Vergnügen auf. Alle wurden lebendig. Obaldui und Morgatsch fingen an, halblaut mitzusingen und zu schreien: »Gut . . . Höher, du Schelm! Noch höher, halte den Ton, du Schlange! Halte den Ton! Noch, noch, du Hund . . .! Möge Herodes deine Seele zugrunde richten!« usw. Nikolai Iwanytsch wiegte hinter seinem Schenktisch den Kopf zustimmend nach rechts und nach links. Obaldui begann schließlich mit den Füßen zu stampfen und zu tänzeln und mit der Achsel zu zucken; Jakows Augen glühten aber wie die Kohlen, er zitterte am ganzen Leib wie ein Espenblatt und lächelte wie verstört. Nur der Wilde Herr allein veränderte seinen Gesichtsausdruck nicht und rührte sich nach wie vor nicht von der Stelle; aber sein auf den Bauführer gerichteter Blick wurde etwas milder, obwohl der Ausdruck der Lippen verächtlich blieb. Ermutigt durch die Zeichen allgemeiner Zufriedenheit, geriet der Bauführer in Ekstase und begann solche Kunststücke zu machen, so mit der Zunge zu schnalzen und zu trommeln, so wahnsinnig mit der Gurgel zu spielen, daß, als er schließlich müde, bleich und in heißen Schweiß gebadet sich mit dem ganzen Körper vorbeugte und den letzten ersterbenden Ton losließ, ein allgemeiner einstimmiger Schrei ihm zujubelte. Obaldui warf sich ihm an den Hals und begann ihn mit seinen langen, knochigen Armen zu würgen; auf dem fleischigen Gesicht Nikolai Iwanytschs zeigte sich eine Röte, und er schien auf einmal jünger; Jakow schrie wie verrückt: »Braver Kerl!« Sogar mein Nachbar, der Bauer im zerrissenen Kittel, hielt es nicht länger aus; er schlug mit der Faust auf den Tisch, rief: »Ah! Gut, hol’ dich der Teufel, gut!« und spuckte entschieden auf die Seite.

»Na, Bruder, du hast uns erfreut!« schrie Obaldui, ohne den erschöpften Bauführer aus seinen Armen zu lassen. »Du hast uns erfreut, das muß man sagen! Du hast gewonnen, Bruder, du hast gewonnen! Ich gratuliere, das Achtel ist dein! Jaschka reicht an dich nicht heran . . . Ich sage es dir, er reicht gar nicht heran . . . Glaub es mir!« Und er drückte den Bauführer an seine Brust.

»Laß ihn doch los, laß ihn doch los, du Klette . . .«, sagte geärgert Morgatsch. »Laß ihn sich auf die Bank setzen, siehst, er ist müde . . .! Was bist du für ein Schafskopf, Bruder! Was klebst du an ihm wie ein Birkenblatt vom Badebesen?«

7.der Lümmel (Anm. d. Ü.)
8.der mit den Augen Zwinkernde (Anm. d. Ü.)