Loe raamatut: «Gedichte in Prosa», lehekülg 5

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Die Kohlsuppe

Einer alten Witwe war ihr einziger, zwanzigjähriger Sohn gestorben, der beste Arbeiter im Dorfe. Die Gutsherrin, die Besitzerin dieses Dorfes, hörte vom Kummer der alten Frau und machte sich am Tage der Beerdigung auf, um sie zu besuchen.

Sie fand sie zu Hause.

Mitten in der Stube vor dem Tische stehend, schöpfte sie mit langsamer, mechanischer Bewegung mit der rechten Hand (die linke hing schlaff herab) dünne Kohlsuppe aus einem rauchgeschwärzten Topfe und schluckte einen Löffel nach dem andern davon hinunter.

Das Gesicht der Alten war abgehärmt und trübe; die Augen rot und verschwollen … aber sie hielt sich gerade und aufrecht, wie in der Kirche.

Herr des Himmels! dachte die gnädige Frau bei sich, in solchem Augenblick bekommt die es fertig zu essen … was haben doch all diese Leute für ein rohes Gefühl!

Und hierbei erinnerte sich die gnädige Frau, wie sie selbst vor einigen Jahren nach dem Verlust eines neun Monate alten Töchterchens vor lauter Kummer darauf verzichtet hatte, ein prächtiges Landhaus in der Nähe von Petersburg zu mieten – und den ganzen Sommer in der Stadt zugebracht hatte! – Die Alte dagegen löffelte weiter an ihrer Kohlsuppe.

Endlich verlor die gnädige Frau die Geduld. – »Tatjana!« rief sie aus … »Das ist unerhört! – Ich fasse es nicht! Hast du denn deinen Sohn gar nicht geliebt? Hast du denn nicht einmal den Appetit verloren? – Wie kannst du bloß jetzt diese Kohlsuppe essen!«

»Mein Wassja ist tot,« erwiderte leise die Alte – und von neuem rollten bittere Tränen über ihre eingefallenen Wangen. »Nun ist es auch mit mir bald zu Ende: bei lebendigem Leibe hat man mir den Kopf abgerissen. Darum kann ich aber doch die Kohlsuppe nicht umkommen lassen: sie ist ja gesalzen.«

Die gnädige Frau zuckte bloß mit den Achseln und entfernte sich. Für sie war das Salz billig.

Die Gefilde der Seligen

O Gefilde der Seligen! O Gefilde der Himmelsbläue, des Lichtes, der Jugend und des Glücks! Ich habe euch geschaut … im Traume.

Wir saßen zu mehreren in einem schönen, reichgeschmückten Nachen. Einer Schwanenbrust gleich schwoll das weiße Segel unter den spielenden Wimpeln.

Ich wußte nicht, wer meine Gefährten waren; allein, ich fühlte mit ganzem Herzen, daß sie ebenso jung, so froh und glücklich seien wie ich!

Ja, ich beachtete sie kaum. Ich sah rings nur ein uferloses, azurblaues Meer, dessen zitternder Spiegel wie mit goldigen Schuppen bedeckt war – und zu Häupten ein gleiches uferloses, gleich azurblaues Meer, – und darüberhin zog im Triumphe und gleichsam lächelnd die freundliche, heitere Sonne.

Von Zeit zu Zeit erscholl aus unserer Mitte ein lautes, fröhliches Lachen – wie das Lachen der Götter!

Dann auf einmal ertönten aus jemandes Munde Worte, Verse von wunderbarer Schönheit und begeisternder Kraft … es schien, als ob der Himmel selber deren Echo widerhalle und rings das Meer mitempfindend erzittere … Und dann wieder herrschte selige Stille.

Leicht in die weichen Wellen tauchend, glitt unser Nachen rasch dahin. Kein Lufthauch trieb ihn; ihn lenkten unsere eigenen freudig pochenden Herzen. Wohin wir begehrten, dahin schwamm er, folgsam, gleich als wäre er beseelt.

Inseln, zauberische, halbdurchsichtige Inseln, im Schimmer von kostbaren Edelsteinen, Rubinen und Smaragden, zogen an uns vorüber. Aus den sanft geschwungenen Ufern strömten berauschende Wohlgerüche; einzelne dieser Inseln überschütteten uns mit einem Blütenregen weißer Rosen und Maiglöckchen; von anderen flogen unvermutet regenbogenfarbige, langgefiederte Vögel empor. Und die Vögel kreisten hoch über uns, die Maiglöckchen und Rosen zertauten in den Schaumperlen, die längs der glatten Wandung unseres Nachens dahinschwammen. Zugleich mit den Blumen und den Vögeln schwebten süße, süße Töne herüber … Mädchenstimmen schienen darein verwoben … Und alles ringsumher: der Himmel, das Meer, das Rauschen des Segels über uns, das Gemurmel der Strömung hinter dem Nachen – alles redete von Liebe, von seliger Liebe!

Und sie, die ein jeder von Herzen liebte – sie war da … unsichtbar, doch nahe. Einen Augenblick nur – und ihre Augen erglänzen, es strahlt ihr Lächeln … Ihre Hand schließt sich in deine Hand und zieht dich mit sich in ein unverwelkliches Paradies!

O Gefilde der Seligen! Ich habe euch im Traume geschaut.

Zwei Reiche

Wenn man in meinem Beisein das Lob des reichen Rothschild singt, weil er ganze Tausende seines ungeheuren Einkommens für Erziehung von Kindern, für Heilung von Kranken und Unterhalt von Greisen spendet – dann erregt dies meinen Beifall und rührt mich.

Indessen vermag ich bei allem Beifall und aller Rührung doch die Erinnerung an eine arme Bauernfamilie nicht zu unterdrücken, welche eine kleine verwaiste Nichte unter ihr elendes Dach aufnahm.

»Nehmen wir Katja zu uns,« meinte die alte Frau, »dann geht unser letzter Groschen drauf – dann langts nicht mehr zum Salz für die Suppe …«

»Nun … dann essen wir sie eben ungesalzen,« gab ihr der Bauer, ihr Mann, zur Antwort.

Ein weiter Weg von Rothschild bis zu diesem Bauern!

Der Greis

Trübe, schwere Tage sind gekommen …

Eigene Leiden, Siechtum deiner Freunde, Kälte und Finsternis des Alters. Alles, was du geliebt, woran du mit ganzem Herzen gehangen – welkt und schwindet dahin. Der Pfad senkt sich bergab.

Was nun? Sollst du wehklagen? Dich härmen? Nein, damit dienst du weder dir selbst, noch den anderen … Wohl wird das Laub auf dem verdorrenden, sich krümmenden Baume immer dürftiger und seltener, – aber grün ist auch dieses noch.

So verschließe denn auch du dich in dein eigenes Selbst, weile bei deinen Erinnerungen, und dort, tief, tief unten auf dem Grunde deiner innersten Seele, wird dein vergangenes, dir allein zugängliches Leben in all seinem duftigen, immer noch frischen Grün und seiner quellenden Frühlingspracht vor dir erglänzen.

Aber hüte dich … schaue nicht vor dich, armer Greis!

Der Berichterstatter

Zwei Freunde sitzen am Tisch und trinken Tee. Mit einemmal erhebt sich auf der Straße ein großer Lärm. Man hört klägliches Stöhnen, zornige Verwünschungen und schadenfrohe Lachsalven.

»Da prügeln sie jemand,« sagte einer der Freunde, indem er zum Fenster hinausblickte.

»Wohl einen Verbrecher? Einen Mörder?« fragte der andere. »Höre mal, wer es auch sein mag, wir dürfen solch willkürliches Rechtsverfahren nicht zulassen. Komm, wir wollen ihm beistehen.«

»Ein Mörder ist’s aber nicht, den sie da prügeln.«

»Kein Mörder? Also ein Dieb? Das bleibt sich gleich, komm, wir wollen ihn dem Pöbelhaufen entreißen.«

»Es ist auch kein Dieb.«

»Kein Dieb? Dann also ein Kassierer, ein Eisenbahnunternehmer, ein Armeelieferant, ein russischer Mäzen, ein Advokat, ein gesinnungstüchtiger Redakteur, ein öffentlicher Wohltäter?.. Gleichviel, komm und laß uns ihm helfen!«

»Weit gefehlt … sie prügeln einen Berichterstatter.«

»Einen Berichterstatter? – Na, weißt du was: dann wollen wir erst ruhig unsern Tee austrinken.«

Zwei Brüder

Ich hatte eine Vision …

Es erschienen vor mir zwei Engel … zwei Genien. Ich sage: Engel … Genien – weil kein Gewand ihren nackten Körper verhüllte und beide an den Schultern mächtige, lange Flügel besaßen.

Beide waren Jünglinge. Der eine hatte einen üppigen Wuchs, eine zarte Haut und schwarzlockiges Haar. Seine Augen waren braun, feurig und von dichten Wimpern beschattet; sein Blick einschmeichelnd, heiter und verlangend. Bezaubernd und verführerisch war sein Antlitz, mit einem Anflug von Verwegenheit und Tücke. Ein leises Zucken spielte um die vollen, rosigen Lippen. Der Jüngling lächelte, wie im Gefühl überlegener Macht – selbstbewußt und doch nachlässig; ein herrlicher Blumenkranz schmiegte sich sanft um seine glänzenden Locken, so daß er die sammetgleichen Brauen fast berührte. Ein scheckiges Leopardenfell, von einem goldenen Pfeil zusammengehalten, hing leicht von der rundlichen Schulter bis auf die schwellende Hüfte herab. Das Gefieder seiner Schwingen spielte in den Farben der Rose; ihre Spitzen waren leuchtend rot, gleich als wären sie in purpurnes, frisches Blut getaucht. Von Zeit zu Zeit durchflog sie ein leichtes Zittern, begleitet von einem angenehmen, silberhellen Rauschen, dem Rauschen eines Frühlingsregens.

Der andere Jüngling war hager und von gelblicher Hautfarbe. Bei jedem Atemzug wurden seine Rippen in leichten Umrissen sichtbar. Sein Haar war fahl, dünn und schlicht; die Augen übergroß, rund und blaßgrau … der unheimlich glänzende Blick verriet Unruhe. Alle Gesichtszüge hatten etwas Scharfes; der kleine, halbgeöffnete Mund wies Fischzähne auf; die Adlernase war schmal, das Kinn vorspringend und mit weißlichem Flaum bedeckt. Über diese welken Lippen ist noch nie, niemals ein Lächeln geflogen. Das war ein starres, furchtbares, mitleidsloses Antlitz! (Auch das Antlitz jenes anderen, schönen Jünglings – obwohl liebreizend und sanft – war ohne jeden Zug von Mitleid.) Um das Haupt dieses zweiten schlangen sich einige taube, zerknickte Ähren, von einem verwelkten Hälmchen durchflochten. Ein grober grauer Schurz wand sich um seine Lenden; die Flügel auf seinem Rücken, tiefblau und glanzlos, bewegten sich langsam und drohend.

Beide Jünglinge schienen unzertrennliche Gefährten zu sein.

Sie lehnten sich Schulter an Schulter. Die kleine weiche Hand des ersten ruhte wie eine Weintraube auf der mageren Achsel des anderen; die schmale Hand dieses anderen wand sich mit ihren langen, dürren Fingern wie eine Schlange um die fast weibliche Brust des ersten.

Und ich vernahm eine Stimme. Sie sprach also:

»Vor dir stehen Liebe und Hunger – zwei leibliche Brüder, die zwei Grundpfeiler allen Lebens.

»Alles, was da lebt, regt sich, um sich zu nähren, nährt sich, um sich fortzupflanzen.

»Liebe und Hunger – ihr Ziel ist das gleiche: zu wirken, damit das Leben nicht versiege – das eigene wie das fremde, – ja, das gesamte Leben.«

Dem Andenken an Fräulein J. P. Wrewskaja

Im Schmutz, auf übelriechendem, fauligem Stroh, unter dem Dach eines baufälligen Schuppens, der in notdürftiger Hast inmitten eines verwüsteten bulgarischen Dörfchens zu einem Feldlazarett hergerichtet worden war – erlag sie in zwei langen Wochen dem Typhus. Sie war völlig bewußtlos – und nicht ein einziger Arzt sah nach ihr; die kranken Soldaten, die sie gepflegt hatte, solange sie sich auf den Füßen hatte halten können – erhoben sich der Reihe nach von ihrer verseuchten Lagerstatt, um in der Scherbe eines zerschlagenen Kruges einige Tropfen Wasser an ihre brennenden Lippen zu bringen.

Sie war jung und schön; die vornehme Welt stand ihr offen; selbst die höchsten Würdenträger wandten ihr ihre Aufmerksamkeit zu. Die Frauen beneideten sie, die Männer machten ihr den Hof … zwei oder drei von diesen waren in geheimer, tiefer Liebe zu ihr entbrannt. Das Leben lächelte ihr; doch es gibt ein Lächeln, das schlimmer ist als Tränen.

Sie hatte ein Herz voll Sanftheit und Güte … dabei aber von einer Kraft, einer Opferfreudigkeit! – Den Bedrängten Hilfe zu leisten … ein anderes Glück kannte sie nicht … kannte sie nicht – und lernte sie nicht kennen. Alles andere Glück ging an ihr vorüber. Doch darein hatte sie sich längst ergeben – und mit dem heiligen Feuer unerschütterlichen Glaubens weihte sie sich dem Dienste ihrer Mitmenschen. Welche unvergänglichen Schätze sie dort im geheimsten, tiefsten Grunde ihrer Seele bewahrte, das hat niemand je gewußt – und kann jetzt freilich niemand mehr erfahren.

Wozu auch? Das Opfer ist gebracht … das Werk ist vollendet.

Allein, es ist schmerzlich, denken zu müssen, daß niemand wenigstens ihrer sterblichen Hülle Dank sagte, obschon sie selbst in edler Scham sich jeder Dankesbezeugung entzog.

Möge ihr teurer Schatten mir nicht zürnen, wenn ich dieses kleine, verspätete Blümlein auf ihr Grab zu legen wage!

Der Egoist

Er besaß alle erforderlichen Eigenschaften, um die Geißel seiner Familie zu werden.

Von klein auf gesund und reich – und gesund und reich sein ganzes langes Leben hindurch, beging er nie einen einzigen Fehltritt, verfiel nie in einen Irrtum, versprach und versah sich nicht ein einziges Mal.

Er war ein tadelloser Ehrenmann!.. Und stolz im Bewußtsein seiner Ehrenhaftigkeit, knechtete er damit alle seine Angehörigen, seine Freunde, seine Bekannten. Seine Ehrenhaftigkeit war ihm ein Kapital … und er nahm Wucherzinsen davon.

Seine Ehrenhaftigkeit gab ihm das Recht, erbarmungslos zu sein und nie aus freien Stücken Gutes zu tun; – und darum war er erbarmungslos – und tat nie Gutes … denn das Gute auf Befehl – ist nicht das Gute. Niemals kümmerte er sich um jemand anders als um seine eigene, so überaus musterhafte Person und war innerlich empört, wenn die anderen sich nicht ebenso eifrig um diese bekümmerten.

Und bei alledem hielt er sich nicht für einen Egoisten – und verurteilte und verfolgte am allerschärfsten die Egoisten und den Egoismus! – Das wäre auch! Fremder Egoismus behinderte ja seinen eigenen!

Für seine Person sich nicht der geringsten Schwäche bewußt, begriff und duldete er solche auch nicht bei anderen. Er begriff überhaupt niemanden und nichts, denn überall, von allen Seiten, unten und oben, hinten und vorn war er von seinem eigenen Selbst eingeschlossen.

Er begriff nicht einmal, was Vergeben heißt. Sich selbst etwas zu vergeben, dazu bot sich ihm nie ein Anlaß … Aus welchem Grunde sollte er dann den anderen vergeben?

Vor dem Richterstuhl seines eigenen Gewissens, vor dem Angesicht seiner eigenen Gottheit – da pflegte er, dieses Wunderwesen, dieser Ausbund von Tugend, die Augen gen Himmel zu erheben und mit fester und klarer Stimme auszusprechen: »Ja, ich bin ein würdiger, ein moralischer Mensch!«

Noch auf seinem Sterbelager wird er diese Worte wiederholen – und selbst dann wird nichts sich regen in seinem steinernen Herzen – in diesem Herzen ohne Makel und Fehl.

O Scheusal der selbstzufriedenen, unbeugsamen, wohlfeilen Tugend – schwerlich kannst du überboten werden von dem nackten Scheusal des Lasters!