Loe raamatut: «Väter und Söhne», lehekülg 6
Elftes Kapitel
Eine halbe Stunde später trat Kirsanoff in den Garten und lenkte seine Schritte nach seinem Lieblingsboskett. Traurige Gedanken bedrängten ihn. Zum ersten Male hatte er die Kluft ermessen, die ihn von seinem Sohne trennte; ihm ahnte, daß sie sich mit jedem Tage erweitern werde. Umsonst also hatte er in Petersburg zwei Winter hindurch ganze Nächte mit der Lektüre der neuen Werke verbracht; umsonst hatte er den Unterhaltungen der jungen Leute aufmerksam gelauscht; der Eifer, mit dem er sich in ihre lebhaften Erörterungen gemischt hatte, war unnütz gewesen. »Mein Bruder behauptet, daß wir recht haben,« dachte er, und, alle Eigenliebe beiseite, scheint mirs selber auch, daß sie der Wahrheit ferner sind als wir. Und doch fühle ich, daß sie etwas haben, was wir nicht haben, eine gewisse Überlegenheit … Ist das die Jugend? Nein, sie ist es nicht allein. Sollte diese Überlegenheit nicht darin bestehen, daß ihnen weniger als uns die Herrengewohnheiten aufgeprägt sind?
»Aber die Poesie verachten?« sprach er bald nachher zu sich, »nichts für die Kunst, nichts für die Natur fühlen? …«
Er blickte ringsumher, als ob er zu begreifen suchte, wie's möglich sei, die Natur nicht zu lieben … Der Tag neigte sich rasch zu Ende. Die Sonne hatte sich hinter einem Espenwäldchen versteckt, das, auf einer halben Werst vom Garten entfernt, einen endlosen Schatten über die stillen Felder warf. Ein Bauer trabte auf einem Schimmel den schmalen Pfad am Waldsaum entlang; obgleich er im Schatten war, zeigte sich doch seine ganze Gestalt deutlich dem Blick, und man konnte sogar einen Flicken auf der Achsel seines Rocks unterscheiden; die Füße des Pferdes bewegten sich mit einer dem Auge wohltuenden Regelmäßigkeit und Zierlichkeit. Die Sonnenstrahlen drangen durch Busch und Baum und färbten die Espenstämme mit einem warmen Ton, der ihnen den Anschein von Tannenstämmen gab, während sich über den bläulichen Blättern der blasse, von der Abenddämmerung leicht gerötete Himmel wölbte. Die Schwalben flogen sehr hoch, der Wind hatte sich fast ganz gelegt; verspätete Bienen summten schwach und halbverschlafen in den Blüten des Fliedergebüsches, und ein Mückenschwarm tanzte über einem einzeln in die Luft ragenden Zweige. »Mein Gott, wie schön!« dachte Kirsanoff, und Verse, die er vor sich hin zu sagen liebte, wollten ihm über die Lippen treten, als er an Arkad und an »Kraft und Stoff« dachte und – schwieg. Doch blieb er sitzen und überließ sich dem süßen, traurigen Genuß einsamen Träumens. Das Landleben hatte ihm Geschmack dafür beigebracht; es war noch nicht lange her, als er wie heute im Hof jenes Wirtshauses saß und seinen Sohn erwartete, aber welch eine Veränderung war seitdem vor sich gegangen! Sein damals noch ungewisses Verhältnis zu Arkad war jetzt bestimmt ausgesprochen … und wie? Das Bild seiner verstorbenen Frau trat ihm vor die Seele, nicht wie er sie in den letzten Jahren gekannt hatte, nicht als die gute, heitere, freundliche Hausfrau, sondern als junges, schlankes Mädchen mit schuldlosem, fragendem Blick, das Haar in dichten Flechten über dem kindlichen Nacken, mit einem Wort so, wie er sie zum ersten Male sah, zu der Zeit, da er die Vorlesungen an der Universität besuchte. Als er ihr auf der Treppe des Hauses, das er damals bewohnte, begegnete, stieß er sie aus Versehen an und entschuldigte sich in seiner Verlegenheit mit den Worten: »Verzeihen Sie, mein Herr!« Sie senkte das Köpfchen, lächelte und fing, wie plötzlich erschreckt, zu laufen an; auf dem Treppenabsatz aber warf sie ihm einen raschen Blick zu, nahm eine ernsthafte Miene an und errötete. Darauf die ersten schüchternen Besuche, die halben Worte und das halbe Lächeln, die Stunden des Zweifels und der Betrübnis, und wieder das Entzücken der Leidenschaft, und endlich die Trunkenheit des Glücks … Was war aus all dem geworden? Wohl war er später in der Ehe so glücklich gewesen wie möglich … »Aber doch«, mußte er sich sagen, »gleicht nichts jenen ersten süßen Augenblicken der Glückseligkeit; ach, warum können sie nicht ewig dauern und nur mit dem Leben erlöschen!«
Er versuchte es nicht, diese Gedanken weiter zu verfolgen; aber jene glückliche Zeit hätte er festhalten mögen durch eine mächtigere Kraft als das Gedächtnis; er hätte wieder an der Seite seiner geliebten Marie sein, ihre weiche Wange streicheln, ihren warmen Atem fühlen mögen, und schon schien es ihm, als ob über seinem Haupte …
»Nikolaus Petrowitsch,« fragte dicht neben dem Gebüsch Fenitschka, »wo sind Sie?«
Er erbebte. Nicht als ob er ein Gefühl von Reue oder Scham empfunden hätte … Es war ihm nie eingefallen, den mindesten Vergleich zwischen seiner Frau und Fenitschka anzustellen; aber es schmerzte ihn, daß diese ihn in diesem Augenblick überraschte. Ihre Stimme rief ihm augenblicklich seine grauen Haare, sein frühzeitiges Alter, seine gegenwärtige Lage ins Gedächtnis zurück … Die feenhafte Welt, in deren Räume er sich aufgeschwungen, diese Welt, die sich bereits auf den verschwommenen Nebeln der Vergangenheit abhob, erblaßte und verschwand.
»Hier bin ich,« antwortete er; »ich komme gleich; geh nur.« – »Das,« sagte er sich fast im gleichen Moment, »sind wieder die Herrengewohnheiten, deren ich soeben noch gedachte.«
Fenitschka warf einen Blick in das Gebüsch und entfernte sich still. Jetzt erst bemerkte er zu seinem großen Erstaunen, daß die Nacht ihn in seinen Träumereien überrascht hatte. Rings um ihn her wars dunkel und still, und Fenitschkas Antlitz war ihm in den wenigen Sekunden, da sie vor der Laube erschien, so bleich und zart vorgekommen. Er stand auf, um in sein Zimmer zu gehen; aber sein gerührtes Herz hatte sich noch nicht wieder beruhigt, und er ging langsam im Garten auf und ab, die Augen bald niedergeschlagen, bald zum Himmel erhoben, der schon voller Sterne glühte. Lange, fast bis zur Ermüdung, war er so gegangen, und doch wollten sich Aufregung und Unruhe in seiner Brust nicht legen. Wie hätte sich Bazaroff über ihn lustig gemacht, wenn er von diesem Zustand Kenntnis gehabt hätte! Arkad sogar hätte ihn getadelt. Seine Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, mit Tränen, die ohne Grund quollen; für einen Vierziger, einen Hausherrn und Ökonomen war das noch tausendmal schlimmer als Violoncellspielen. Kirsanoff setzte seinen Spaziergang fort und konnte sich nicht entschließen, in sein friedliches Nest zu gehen, in das Haus, das mit seinen erleuchteten Fenstern so freundlich einlud; er fühlte den Mut nicht, den Garten und die Dunkelheit zu verlassen, der frischen Luft, die ihm die Stirne kühlte, dieser Trauer, dieser Aufregung zu entsagen …
Da trat ihm Paul bei einer Wendung des Weges entgegen.
»Was hast du denn?« fragte ihn dieser; »du siehst bleich aus wie ein Gespenst. Bist du krank? Du tätest wohl daran, zu Bett zu gehen.«
Kirsanoff erklärte ihm mit einigen Worten seine Empfindungen und ging ins Haus. Paul lief bis ans Ende des Gartens; auch er fing an, nachzudenken und die Augen zum Himmel aufzuschlagen. Aber seine schönen Augen spiegelten nur den Sternenschein wider. Er war kein Romantiker, und die Träumerei paßte nicht zu seinem leidenschaftlichen Wesen; er war ein prosaischer Mensch, wenn auch zärtlichen Gefühlen nicht unzugänglich, ein Menschenfeind französischer Art.
»Höre!« sagte am gleichen Abend Bazaroff zu seinem Freund, »ich habe einen prächtigen Einfall. Dein Vater sagte uns heute, daß er von dem großen Hans, eurem Vetter, eine Einladung erhalten habe. Er will nicht hingehen; wie wärs, wenn wir eine Tour nach X… machten? Du bist in die Einladung dieses Herrn mitinbegriffen. Du siehst, was hier für ein Wind weht; die Reise wird uns gut tun, wir sehen die Stadt. Es kostet uns höchstens fünf oder sechs Tage.«
»Und du kehrst mit mir hierher zurück?«
»Nein, ich muß zu meinem Vater. Du weißt, daß er höchstens 20 Werst von X… entfernt wohnt. Ich hab sie lange nicht gesehen, ihn und meine Mutter; ich muß ihnen die Freude machen. Es sind brave Leute, und mein Vater ist dabei ein drolliger Kauz. Zudem haben sie nur mich, ich bin ihr einziges Kind.«
»Bleibst du lange?«
»Ich glaube nicht. Vermutlich werde ich mich dort langweilen.«
»Aber du besuchst uns auf dem Rückwege?«
»Je nachdem; ich weiß es noch nicht. Nun? einverstanden? reisen wir?«
»Sei's,« antwortete Arkad gleichgültig.
Im Grunde war er mit dem Vorschlag seines Freundes sehr zufrieden; er hielt es aber für nötig, sichs nicht merken zu lassen; so schickte sichs für einen echten Nihilisten.
Am nächsten Morgen reiste er mit Bazaroff nach X… Die Jugend von Marino bedauerte ihre Abreise; Duniascha vergoß sogar einige Tränen … Paul aber und sein Bruder, »die Alten«, wie Bazaroff sagte, atmeten wieder freier.
Zwölftes Kapitel
Der Stadt X…, wohin sich die beiden Freunde begaben, stand als Gouverneur ein noch junger Mann vor, der, wie man es oft in Rußland findet, Fortschrittsmann und Despot zugleich war. Schon im ersten Jahr seines Dienstantritts war er so geschickt gewesen, sich nicht nur mit dem Adelsmarschall, einem pensionierten Generalstabsoffizier, großem Pferdezüchter und nebenbei sehr gastfreundlichem Mann, sondern auch mit seinen eigenen Beamten zu überwerfen. Die Differenzen, die daraus hervorgingen, hatten in dem Maße zugenommen, daß der Minister sich veranlaßt sah, einen Vertrauensmann an Ort und Stelle zu senden, um die Dinge wieder ins Geleis zu bringen. Diese Sendung war Matthias Ilitsch Koliazin, dem Sohn des Koliazin übertragen, der ehemals Vormund der Brüder Kirsanoff gewesen war. Er war gleichfalls ein Beamter von der jungen Schule, obwohl er die Vierziger schon überschritten hatte; er hatte sich jedoch vorgenommen, ein Staatsmann zu werden, und trug auch bereits zwei Sterne auf der Brust. Einer derselben war übrigens nur ein ausländischer, wenig geschätzter Orden. Gleich dem Gouverneur, über den er zu urteilen kam, galt er für einen Fortschrittsmann, und so einflußreich er auch war, unterschied er sich doch wesentlich von andern Beamten seines Rangs. Er hatte allerdings eine sehr hohe Meinung von sich und eine grenzenlose Eitelkeit, doch waren seine Formen einfach, und in seinem Blick lag etwas Ermunterndes; er hörte mit Wohlwollen zu und lachte so natürlich, daß man ihn beim ersten Begegnen für einen »guten Kerl« hätte halten können. Übrigens war er ganz der Mann, wenn es die Umstände erforderten, rücksichtslose Strenge walten zu lassen.
»Energie ist unerläßlich,« sagte er, »sie ist die vornehmste Eigenschaft eines Staatsmanns.« Trotz dieser stolzen Sprache aber ward er fast immer düpiert, und jeder nur etwas erfahrene Beamte führte ihn an der Nase herum. Matthias Ilitsch machte viel Aufhebens von Guizot und bemühte sich, jeden, der ihn anhören wollte, zu überzeugen, daß er keiner von jenen zurückgebliebenen Beamten sei, von jenen Männern der Routine, wie man so viele findet; daß seiner Wahrnehmung keine der großen Erscheinungen des sozialen Lebens entgehe … Derartige Schlagwörter waren ihm durchaus vertraut. Auch den literarischen Bewegungen folgte er; aber er gefiel sich darin, es mit einer majestätischen Herablassung zu tun, ungefähr wie ein Mann von reiferem Alter manchmal auf ein paar Augenblicke einem Auflauf von Straßenjungen nachgeht. In der Tat hatte Matthias Ilitsch die Staatsmänner aus der Regierungszeit Alexanders I. nicht sehr überholt, welche damals in Petersburg, wenn sie sich auf eine Soiree bei Madama Swetschine vorbereiteten, morgens ein Kapitel aus Condillac lasen; nur seine Formen waren etwas zeitgemäßer. Er war ein gewandter Höfling, ein höchst seiner Mann, nichts weiter; er hatte keinen Begriff von Geschäften und dabei Mangel an Geist; aber sein eigenes Interesse verstand er sehr gut. Darüber konnte ihn niemand täuschen, und dies ist ein Talent, dem man sein Verdienst nicht abstreiten kann.
Matthias Ilitsch empfing Arkad mit dem einem aufgeklärten Beamten eigenen Wohlwollen, wir möchten fast sagen mit Heiterkeit. Doch ward er bei der Nachricht etwas verstimmt, daß die übrigen Eingeladenen auf dem Lande zurückgeblieben seien. »Dein Papa war immer ein Original,« sagte er zu Arkad und ließ die Quasten seines prächtigen Samtschlafrocks durch die Finger gleiten; dann wandte er sich rasch zu einem jungen Beamten in streng zugeknöpfter Interimsuniform und herrschte ihn mit Amtsmiene an: »Nun, und Sie?« Der junge Mann, dem langes Schweigen die Lippen versiegelt hatte, richtete sich auf und betrachtete seinen Vorgesetzten mit dem Ausdruck der Überraschung. Matthias Ilitsch aber, nachdem er ihn so verblüfft hatte, schenkte ihm nicht die geringste Beachtung mehr. Unsere Oberbeamten lieben es insgemein, ihre Untergebenen zu verblüffen; die Mittel aber, deren sie sich dazu bedienen, sind ziemlich verschieden. Eins zum Beispiel unter andern ist sehr beliebt, »is quite a favourite«, wie die Engländer sagen. Der Oberbeamte versteht plötzlich die einfachsten Worte nicht mehr, als ob er von Taubheit befallen wäre. Er fragt z.B. nach dem Wochentag. Man antwortet ihm untertänigst:
»Freitag, Euer Exzellenz.«
»He? Was? Was ist – Was sagen Sie?« versetzt darauf der Oberbeamte gedehnt.
»Es ist heute Freitag, Euer Exzellenz.«
»Wie, was, was ist mit dem Freitag, was für ein Freitag?«
»Freitag, Euer Exzellenz, ein Wochentag.«
»Wie, du nimmst dir heraus, mich belehren zu wollen?«
Ein Oberbeamter dieses Schlags war Matthias Ilitsch, trotz all seinem Liberalismus.
»Ich rate dir, mein Lieber,« sagte er zu Arkad, »dem Gouverneur deinen Besuch zu machen. Du verstehst mich; wenn ich dir diesen Rat gebe, so darfst du darum nicht denken, ich halte noch an der alten Regel, daß man den Autoritäten den Hof machen muß; ich rate dirs, weil der Gouverneur ganz einfach ein Mann comme il faut ist; überdies hast du doch wohl die Absicht, unsere Gesellschaft zu besuchen. Ich hoffe, du bist kein Bär? Der Gouverneur gibt übermorgen einen großen Ball.«
»Werden Sie demselben auch beiwohnen?« fragte Arkad.
»Er gibt ihn ja meinetwegen,« sagte Matthias Ilitsch fast mitleidig. »Du tanzest doch?«
»Ja, aber ziemlich schlecht.«
»Um so schlimmer, es kommen einige hübsche Frauen, und zudem ist es für einen jungen Mann eine Schande, nicht tanzen zu können. Ich wiederhole dir, ich sage dies nicht aus Anhänglichkeit an den alten Brauch, ich meine durchaus nicht, der Geist stecke in den Beinen, aber den Byronismus finde ich lächerlich, er hat sich überlebt.«
»Glauben Sie denn, lieber Onkel, daß der Byronismus …«
»Ich werde dich mit unsern Damen bekannt machen. Ich nehme dich unter meine Fittiche,« erwiderte Matthias Ilitsch mit wohlgefälligem Lächeln. »Da wirst du warm sitzen! He?«
Ein Bedienter trat ein und meldete den Präsidenten der Finanzkammer, einen Greis mit honigsüßem Blick und eingekniffenen Lippen, der für die Natur schwärmte, zumal im Sommer, wenn, wie er sagte, die fleißige Biene aus jeder Blume ihr Schöppchen zapft.
Arkad zog sich zurück.
Er fand Bazaroff in dem Gasthaus, in dem sie abgestiegen waren, und es gelang seinem Zureden, daß dieser einwilligte, mit zum Gouverneur zu gehen.
»Meinetwegen,« sagte er, »wenn man den kleinen Finger gegeben hat, so muß man auch die Hand reichen. Wir sind gekommen, um die Herren Gutsbesitzer kennen zu lernen. Also lernen wir sie kennen.«
Der Gouverneur empfing die jungen Leute freundlich, aber er lud sie nicht ein, zu sitzen, und blieb selbst auch stehen. Er hatte immer eine Amtsmiene; kaum aufgestanden, steckte er sich in seine große Uniform, legte eine enganschließende Krawatte an und ließ sich die Zeit nicht, sein Frühstück in Ruhe zu nehmen, um ja nichts von seinen Geschäften zu versäumen. Er hatte im Gouvernement den Spitznamen »Bourdaloue«, keineswegs mit Anspielung auf den berühmten französischen Prediger, sondern auf das Wort »Bourde«, was bekanntlich »Flause« bezeichnet. Er lud Arkad Kirsanoff und Bazaroff zu seinem Balle ein und wiederholte diese Einladung nach ein paar Minuten, wobei er sie für zwei Brüder nahm und ihnen den Namen Kaisarof gab.
Als sie das Haus des Gouverneurs verließen, begegneten sie einer Droschke, die plötzlich stillhielt; ein junger Mann mittlerer Größe, in einem polnischen Schnurrock nach der Mode der Slawophilen, sprang heraus und lief mit dem Rufe: »Eugen Wassiliewitsch!« auf Bazaroff zu.
»Ah, Sie sinds, Herr Sitnikoff,« sagte Bazaroff, ohne stehenzubleiben. »Was führt Sie hierher?«
»Stellen Sie sich vor, ich bin ganz zufällig hier,« erwiderte dieser, wandte sich nach der Droschke, winkte fünf-, sechsmal mit der Hand und rief: »Fahr nach, fahr nach! Mein Vater«, fuhr er fort, indem er über die Gosse sprang, »hat ein Geschäft hier und hat mich ersucht … Ich habe heute erfahren, daß Sie auch hier sind, und komme eben von Ihnen her. (In der Tat fanden die Freunde bei ihrer Rückkunft in den Gasthof eine umgebogene Karte vor, welche auf der einen Seite den Namen Sitnikoff mit lateinischen, auf der andern mit slawischen Lettern trug.) Ich hoffe doch, Sie sind nicht beim Gouverneur gewesen?«
»Hoffen Sie nicht? Wir kommen von ihm her.«
»Ah, dann gehe ich auch hin. Eugen Wassilitsch, stellen Sie mich doch Ihrem Herrn … diesem Herrn vor.«
»Sitnikoff – Kirsanoff,« murmelte Bazaroff, ohne anzuhalten.
»Es freut mich sehr,« hob Sitnikoff, gegen Arkad gewendet, mit anmutigem Lächeln an, während er seine Handschuhe, die von der ausgezeichnetsten Eleganz waren, rasch auszog. »Ich habe schon viel von Ihnen reden hören. Ich bin ein alter Bekannter von Eugen Wassilitsch und darf mich sogar seinen Schüler nennen. Ich verdanke ihm meine Umwandlung.«
Arkad warf die Augen auf den umgewandelten Schüler Bazaroffs; sein kleines, glattes Gesicht und seine regelmäßigen Züge hatten einen unruhigen, gespannten, aber beschränkten Ausdruck; seine Augen blickten stier und unstet zugleich, sein Lachen sogar, kurz und trocken, hatte etwas Wirres.
»Sie werden mir kaum glauben,« fuhr er fort; »als Eugen Wassilitsch mir zum erstenmal erklärte, man brauche keine Autorität anzuerkennen, empfand ich eine solche Freude … ich fühlte mich wie neugeboren! Endlich doch einmal ein Mann! sagte ich mir. Apropos, Eugen Wassilitsch, Sie müssen notwendig eine hiesige Dame besuchen, die ganz auf Ihrer Höhe steht, und für die Ihr Besuch ein wahres Fest sein wird; Sie müssen schon von ihr gehört haben.«
»Wer ists?« fragte Bazaroff gelangweilt.
»Eudoxia Nikitischna Kukschin. Das ist eine merkwürdige Natur, emanzipiert im vollsten Sinne des Wortes, ein wahrhaft fortgeschrittenes Weib, müssen Sie wissen! Laßt uns jetzt gleich alle drei zu ihr gehen, sie wohnt zwei Schritt von hier. Wir frühstücken da … ihr habt doch noch nicht gefrühstückt?«
»Nein.«
»Vortrefflich! Sie lebt natürlich getrennt von ihrem Mann und ist unabhängig …«
»Ist sie hübsch?« fragte Bazaroff.
»Nein, das kann ich nicht sagen.«
»Warum zum Teufel sollen wir sie dann besuchen?«
»Scherz beiseite, sie wird uns eine Flasche Champagner auftischen.«
»Wahrhaftig! Der praktische Mann verrät sich bald. Apropos, macht Ihr Vater immer noch in Branntwein?«
»Ja,« erwiderte Sitnikoff rasch mit erzwungenem Lächeln. »Nun, kommen Sie mit?«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Du wolltest ja Beobachtungen anstellen,« sagte Arkad halblaut.
»Und Sie, Herr Kirsanoff,« fügte Sitnikoff hinzu, »Sie kommen doch auch? Wir gehen nicht ohne Sie.«
»Wir können doch nicht alle drei nur so ins Haus fallen …«
»Das tut nichts. Die Kukschin ist ein gutes Ding.«
»Sie wird uns also eine Flasche Champagner auftischen?« wiederholte Bazaroff.
»Drei,« rief Sitnikoff, »ich stehe dafür.«
»Womit?«
»Mit meinem Kopf.«
»Des Papas Beutel wäre ein besseres Pfand gewesen. Aber gleichviel, gehen wir hin!«
Dreizehntes Kapitel
Das kleine Haus in moskowitischem Geschmack, welches Eudoxia Nikitischna Kukschin bewohnte, lag in einer Straße, welche erst kürzlich abgebrannt war; bekanntlich brennen unsere Landstädtchen alle fünf Jahre ab. An der Eingangstüre neben einer schief angenagelten Visitenkarte hing ein Glockenzug; eine Frau in einem Häubchen, ein Mittelding zwischen Dienerin und Gesellschaftsdame, kam den Besuchern im Vorzimmer entgegen. Lauter Zeichen, daß die Herrin des Hauses eine Freundin des Fortschritts war. Sitnikoff fragte nach Eudoxia Nikitischna.
»Ah, Sie sinds, Viktor!« rief eine Fistelstimme aus dem Nebenzimmer; »nur herein!« Sofort verschwand die Frau im Häubchen.
»Ich bin nicht allein,« sagte Sitnikoff und warf einen Blick voll Zuversicht auf seine beiden Freunde, während er ungeniert seinen polnischen Überrock ablegte, unter dem eine Art englischen Sackpaletots zum Vorschein kam.
»Das tut nichts,« erwiderte Eudoxia Nikitischna, »nur herein!«
Die jungen Leute gehorchten. Das Zimmer, in das sie eintraten, glich mehr einem Arbeitskabinett als einem Salon. Papier, Briefe, russische Revuen, deren Blätter größtenteils unaufgeschnitten waren, lagen auf den staubigen Tischen; überall waren halbgerauchte Zigarren umhergeworfen. Die Herrin des Hauses lag nachlässig auf einem Ledersofa; sie war noch jung, hatte blonde Haare und ein Spitzentuch um den Kopf geschlungen; ihre kurzfingerigen Hände waren mit schweren Brasseletten geschmückt. Sie stand auf, zog eine mit vergilbtem Hermelin gefütterte Samtmantille nachlässig über die Schultern, sagte mit schmachtender Stimme zu Sitnikoff: »Guten Tag, Viktor,« und drückte ihm die Hand.
»Bazaroff – Kirsanoff,« sagte dieser kurz, indem er Bazaroffs Art, vorzustellen, nachäffte.
»Willkommen, meine Herren,« sagte Madame Kukschin; und die runden Augen, zwischen denen ein armes, winziges rotes Stülpnäschen hervorstand, auf Bazaroff heftend, setzte sie hinzu: »Ich kenne Sie,« und drückte ihm gleichfalls die Hand.
Bazaroff machte eine leichte Grimasse. Das unbedeutende Gesichtchen der Emanzipierten hatte gerade nichts allzu Häßliches, aber der Ausdruck ihrer Züge war unangenehm. Man hätte sie fragen mögen: »Was ist dir? Hast du Hunger oder Langeweile? Fürchtest du dich vor irgend etwas? Wozu all dieses Mühen?« Auch sie hatte, wie Sitnikoff, das Gefühl, als ob ihr fortwährend etwas die Seele zernagte. Ihre Bewegungen und ihre Sprache waren rasch und plump zugleich; sie selbst hielt sich ohne Zweifel für ein gutes und einfaches Geschöpf, und doch, was sie auch tun mochte, immer hatte es den Anschein, als beabsichtige sie, etwas anderes zu tun.
»Ja ja, ich kenne Sie, Bazaroff,« wiederholte sie. (Nach einem den Provinzbewohnerinnen und selbst einigen Frauen Moskaus eigenen Brauch nannte sie die Männer, welche sie zum erstenmal sah, beim Familiennamen.) »Rauchen Sie eine Zigarre?«
»Eine Zigarre, wohl!« sagte Sitnikoff, der sich inzwischen, das eine Bein über sein Knie gelegt, in einem Lehnstuhle zurechtgesetzt hatte; »aber Sie müssen uns auch ein Frühstück geben. Wir sterben vor Hunger; lassen Sie auch gleich eine Flasche Champagner bringen.«
»Sybarit!« erwiderte Eudoxia mit Lachen. (Wenn sie lachte, sah man ihr oberes Zahnfleisch.) »Ists nicht wahr, Bazaroff, daß er ein Sybarit ist?«
»Ich liebe den Komfort,« sagte Sitnikoff würdevoll; »das hindert mich aber nicht, liberal zu sein.«
»Doch! doch!« rief Eudoxia und befahl ihrem Kammermädchen, ein Frühstück zu besorgen und Champagner zu bringen. »Was halten Sie davon?« fragte sie Bazaroff; »ich weiß gewiß, Sie sind meiner Ansicht.«
»Da täuschen Sie sich,« erwiderte Bazaroff, »ein Stück Fleisch ist besser als ein Stück Brot, selbst vom Standpunkt der chemischen Analyse.«
»Ah, Sie beschäftigen sich mit Chemie; das ist meine Passion. Ich habe sogar einen Kitt erfunden.«
»Einen Kitt? Sie?«
»Ja, ich, und wissen Sie wozu? Zu Puppen, zu Puppenköpfen; sie sind dauerhafter. Ich bin eine praktische Frau, ich. Aber ich bin noch nicht ganz damit im reinen. Ich muß Liebig konsultieren. Apropos, haben Sie in der ›Moskauer Zeitung‹ Kisliakoffs Artikel ›Über die Frauenarbeit‹ gelesen? Lesen Sie ihn, ich beschwöre Sie. Sie interessieren sich ja wohl für die Frauenfrage? Und für die Schulen ebenfalls? Was treibt Ihr Freund? wie heißt er?«
Madame Kukschin warf diese Fragen eine nach der andern mit einer verzärtelten Nonchalance hin, ohne eine Antwort abzuwarten; verwöhnte Kinder sprechen so mit ihren Bonnen.
»Ich heiße Arkad Nikolaitsch Kirsanoff,« sagte Arkad, »und treibe nichts.«
Eudoxia lachte.
»Das ist allerliebst! Rauchen Sie nicht? Viktor, Sie wissen, daß ich Ihnen böse bin!«
»Warum?«
»Sie fangen, wie ich höre, wieder an, für George Sand zu schwärmen. Das ist eine hinter der Zeit zurückgebliebene Frau und weiter nichts. Wie kann man wagen, sie mit Emerson zu vergleichen? Sie hat keine Idee weder von Erziehung noch von Physiologie noch von sonst etwas. Ich bin überzeugt, sie hat nie von Embryologie sprechen hören, und wie wollen Sie diese Wissenschaft heutzutage entbehren? (Eudoxia streckte die Arme aus, während sie dies sagte.) Ach, welch herrlichen Artikel hat Elisewitsch über diesen Gegenstand geschrieben! Das ist einmal ein Genie, dieser Herr! (Eudoxia sagte immer ›Herr‹ statt ›Mann‹) Bazaroff, setzen Sie sich zu mir auf das Sofa. Sie wissen vielleicht nicht, daß ich mich schrecklich vor Ihnen fürchte.«
»Warum das? da bin ich doch neugierig.«
»Sie sind ein sehr gefährlicher Herr. Sie kritisieren alles in der Welt. Aber mein Gott! ich spreche wie eine echte Landpomeranze. Im Grund bin ich wirklich eine Landpomeranze. Ich verwalte mein Gut selbst, und denken Sie, mein Starost Erofei ist ein wahres Original; er erinnert mich an Coopers ›Pfadfinder‹. Ich finde, daß er so etwas Waldursprüngliches hat. Da bin ich nun für immer hieher gebannt, welch unerträgliche Stadt! Nicht wahr? Aber was tun?«
»Es ist eine Stadt, wie jede andere auch,« sagte Bazaroff trocken.
»Man beschäftigt sich hier nur mit den kleinlichsten Interessen, das ist gräßlich. Sonst brachte ich den ganzen Winter in Moskau zu … aber der verehrungswürdige Herr Kukschin hat sich jetzt dort niedergelassen. Zudem ist Moskau jetzt … ich weiß nicht … es ist gegenwärtig alles anders. Ich möchte reisen; voriges Jahr war ich auch schon im Begriff, mich auf den Weg zu machen.«
»Nach Paris, ohne Zweifel?« fragte Bazaroff.
»Nach Paris und nach Heidelberg.«
»Heidelberg, wozu?«
»Wie! weil Bunsen dort wohnt.«
Bazaroff fand auf diesen Ausruf keine Antwort.
»Peter Sapojnikoff … Sie kennen ihn ja.«
»Nein, durchaus nicht.«
»Ists möglich! Peter Sapojnikoff … er ist ja beständig bei Lydie Chostatoff.«
»Ich kenne auch die nicht.«
»Nun, Sapojnikoff hat mir seine Begleitung angeboten. Ich bin allein, Gott sei Dank! ich habe keine Kinder … Was habe ich da gesagt: ›Gott sei Dank?‹ … Übrigens ists einerlei.« Eudoxia drehte eine Zigarette zwischen ihren vom Tabak gelb gefärbten Fingern, zog sie über die Zungenspitze, steckte sie in den Mund und fing an zu rauchen.
Die Dienerin trat mit dem Teebrett ein.
»Ah, da ist das Frühstück! Wollen Sie einen Bissen essen? Viktor, ziehn Sie die Flasche auf. Sie sollten sich darauf verstehen.«
»Mich darauf verstehen! mich darauf verstehen!« murmelte Sitnikoff.
»Gibt es hier ein paar hübsche Frauen?« fragte Bazaroff, im Begriff sein drittes Glas zu leeren.
»Ja,« erwiderte Eudoxia, »aber sie sind höchst unbedeutend. Meine Freundin Odinzoff zum Beispiel ist nicht übel. Nur steht sie im Ruf, ein wenig … Das wäre übrigens kein großes Unglück; aber da ist von Erhabenheit der Ideen, von Fülle von all dem … keine Spur. Unser Erziehungssystem sollte eben geändert werden. Ich habe schon daran gedacht; unsere Frauen sind sehr schlecht erzogen.«
»Sie werden sie nicht besser machen,« sagte Sitnikoff. »Man muß sie verachten, und ich verachte sie gründlich. (Sitnikoff liebte es, zu verachten und diesem Gefühl Ausdruck zu geben; er fiel besonders über ›das Geschlecht‹ her, ohne zu ahnen, daß es ihm bestimmt war, einige Monate später vor seiner Frau zu kriechen, einzig und allein deshalb, weil sie eine geborene Fürstin war.) Da ist nicht eine, die sich zur Höhe unserer Unterhaltung erheben könnte, nicht eine, die es verdiente, daß sich ernsthafte Männer wie wir mit ihr abgeben.«
»Ich sehe nicht ein, warum sie nötig haben sollten, unsere Unterhaltung zu verstehen,« sagte Bazaroff.
»Von wem sprechen Sie?« fragte Eudoxia.
»Von den hübschen Frauen.«
»Wie, Sie teilen also die Ideen Proudhons?«
Bazaroff richtete sich mit verächtlicher Miene auf.
»Ich teile niemandes Ideen; ich habe meine eigenen Ansichten.«
»Nieder mit den Autoritäten!« rief Sitnikoff, glücklich, eine Gelegenheit zu haben, sich in Gegenwart eines Mannes, dessen gehorsamster Diener er war, energisch auszusprechen.
»Aber Macaulay selbst,« sagte Madame Kukschin …
»Nieder mit Macaulay!« rief Sitnikoff mit Donnerstimme; »Sie nehmen Partei für diese frivolen Weibsbilder.«
»Ich kämpfe keineswegs für die frivolen Weibsbilder, sondern für die Rechte des Weibes, die ich bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen geschworen habe.«
»Nieder mit …« Sitnikoff endigte seine Phrase nicht. »Ich greife sie ja durchaus nicht an,« setzte er hinzu.
»Doch, ich sehe, daß Sie ein Slawophile sind.«
»Durchaus nicht, ich bin kein Slawophile, obschon sicherlich …«
»Doch! Doch! Sie sind ein Slawophile. Sie sind ein Anhänger des Domostroi. Es fehlt nur noch, daß Sie eine Peitsche für die Frauen in die Hand nehmen.«
»Es ist was Schönes um eine Peitsche,« fiel Bazaroff ein; »aber da sind wir beim letzten Tropfen angekommen …«
»Von was?« fragte Eudoxia lebhaft.
»Vom Champagner, verehrte Eudoxia Nikitischna, nicht von Ihrem Blut.«
»Ich kann nicht gleichgültig bleiben, wenn man die Frauen angreift,« fuhr Eudoxia fort; »das ist abscheulich! abscheulich! Statt sie anzugreifen, lesen Sie Michelets Buch ›Über die Liebe‹, das ist wunderbar schön! Meine Herren, sprechen wir von der Liebe,« fügte sie hinzu und ließ ihre Hand schmachtend auf das zerdrückte Kissen des Ruhebettes zurücksinken.
Ein plötzliches Schweigen folgte dieser Aufforderung.
»Warum von Liebe sprechen?« sagte Bazaroff, »beschäftigen wir uns lieber mit Madame Odinzoff. So heißt sie ja wohl, nicht wahr? Wer ist diese Dame?«
»Sie ist göttlich! göttlich!« rief Sitnikoff. »Ich werde euch ihr vorstellen. Sie ist sehr klug, sehr vermögend und Witwe. Unglücklicherweise ist sie geistig noch nicht genug entwickelt, sie sollte sich unserer Eudoxia mehr nähern. Ich trinke auf Ihre Gesundheit, Eudoxia! Stoßet an! Kling, kling, kling! Gluck, gluck, gluck!«