Man beachtete Rivera kaum, als er in den Ring trat. Er wurde nur mit vereinzeltem, mattem Händeklatschen begrüßt. Die Zuschauer glaubten nicht an ihn. Er war das Lamm, das von dem mächtigen Danny zur Schlachtbank geführt wurde. Zudem waren die Zuschauer enttäuscht. Sie hatten einen stürmischen Kampf zwischen Danny Ward und Billy Carthey erwartet, und jetzt sollten sie sich mit diesem elenden kleinen Anfänger begnügen. Das Publikum hatte seine Missbilligung über die Veranstaltung auch dadurch gezeigt, dass es zwei, ja sogar drei zu eins auf Danny hielt. Und das Herz eines wettenden Publikums ist immer auf der Seite seines Geldes.
Der junge Mexikaner saß in seiner Ecke und wartete. Die Minuten schlichen dahin. Danny ließ ihn warten. Das war ein alter Kniff, der aber stets auf die Anfänger wirkte. Sie wurden aufgeregt, wenn sie so dasaßen und warteten, von bangen Ahnungen erfüllt und Angesicht zu Angesicht mit einem gefühllosen, rauchenden Publikum. Diesmal aber wirkte der Kniff nicht. Roberts hatte richtig gesehen: Rivera hatte keinen schwachen Punkt. Er, der zarter war und empfindlicher und feinere Nerven hatte als sie alle, war nicht nervös. Die Atmosphäre einer im voraus sicheren Niederlage, die seine Umgebung bedrückte, übte keinen Eindruck auf ihn aus. Seine Sekundanten waren Gringos und Fremde: Auswurf, schmutziger Abfall des Boxsports, ohne Ehrgefühl und Kraft. Und überdies lähmte sie das Gefühl, dass sie auf der Seite des Verlierenden standen.
»Sei nur vorsichtig«, warnte ihn Spider Hagerthy. Spider war sein erster Sekundant. »Zieh es nach Möglichkeit in die Länge – das hat Kelly mir eingeschärft. Wenn du das nicht tust, schreiben die Zeitungen von Humbug und machen den Sport in Los Angeles schlecht.«
Alles dies war nicht gerade ermutigend, aber Rivera machte sich nichts daraus. Er verachtete einen Kampf, der um Geld ging. Das war der verhasste Sport der verhassten Gringos. Er hatte ihn selbst oft genug betrieben, aber nur, weil er hungerte. Die Tatsache, dass er für diesen Sport wie geschaffen war, bedeutete ihm nichts. Er hasste ihn. Und er war nicht der erste unter den Menschensöhnen, der entdeckte, dass er in einer verächtlichen Beschäftigung Erfolg hatte.
Er untersuchte seine Gefühle nicht. Er wusste nur, dass er in diesem Kampf siegen musste. Es war nicht anders möglich. Denn hinter ihm standen stärkere Kräfte, als irgendjemand im Publikum sich träumen ließ, und sie flößten ihm diese Überzeugung ein. Danny Ward kämpfte für Geld und für die Annehmlichkeiten, die das Geld ihm in diesem Leben verschaffen konnte. Aber alles, wofür Rivera kämpfte, brannte in seinem Hirn. Wie er jetzt mit weit aufgerissenen Augen ganz allein in seiner Ecke des Ringes saß und auf seinen schlauen Gegner wartete, hatte er leuchtende und schreckliche Visionen, und sie waren so klar und deutlich, als erlebe er sie.
Er sah die Wasserkraftfabriken von Rio Blanco mit ihren weißen Mauern. Er sah die sechstausend hungrigen, bleichen Arbeiter und die sieben- und achtjährigen Kinder, die sich für zehn Cent den Tag abrackerten. Er sah die wandernden Leichen, die gespensterhaften Totenköpfe der Färbereiarbeiter. Er erinnerte sich, seinen Vater die Färberei die Selbstmörderhöhle haben nennen hören, weil ein Jahr Arbeit dort den Tod bedeutete. Er sah das kleine Gut und seine Mutter, die kochte und von morgens bis abends mit ihrer Hausarbeit zu tun hatte, aber doch Zeit fand, ihn zu streicheln und zu lieben. Und er sah seinen Vater, groß, mit dichtem Schnurrbart und breiter Brust, seinen Vater, der, freundlicher als alle anderen, alle Menschen liebte, dessen Herz aber so groß war, dass noch reichlich viel Liebe für die Mutter und für den kleinen Muchacho übrigblieb, der in einer Ecke des Patios spielte. In jenen Tagen hatte er nicht Felipe Rivera geheißen. Er hatte Fernandez geheißen, wie sein Vater und seine Mutter. Ihn hatten sie Juan genannt. Später hatte er den Namen geändert, denn er hatte gemerkt, dass der Name Fernandez den Polizeipräfekten und den politischen Behörden verhasst war.
Der große, warmherzige Joaquin Fernandez! Einen hervorragenden Platz nahm er in den Visionen Riveras ein. Damals hatte er es nicht verstanden, wenn er jetzt aber zurückblickte, begriff er. Er konnte ihn sehen, wie er in der kleinen Druckerei Typen setzte oder an dem von Papieren überfließenden Pult hastig und nervös endlose Zeilen hinkritzelte. Und er erinnerte sich der seltsamen Abende, wenn die Arbeiter heimlich in der Dunkelheit, wie Leute, die Böses im Sinne hatten, zu seinem Vater geschlichen kamen und stundenlang mit ihm redeten, während der Muchacho, oft ohne Schlaf zu finden, in seiner Ecke lag.
Wie aus weiter Ferne hörte er die Stimme Spider Hagerthys, der zu ihm sagte: »Also nicht gleich am Anfang aufgeben. Das wäre gegen die Instruktionen. Steck deine Prügel ein und leiste was fürs Geld.«
Zehn Minuten waren vergangen, und er saß immer noch in seiner Ecke. Man sah nichts von Danny, der seinen Kniff offenbar bis zum Äußersten trieb.
Aber vor Rivera stiegen nun Visionen auf. Der Streik von Rio Blanco, der Hunger, die Wanderungen in die Berge nach Beeren, Wurzeln und Kräutern, die sie aßen und die ihnen Magenkrämpfe und Leibschmerzen verursachten. Und dann das Entsetzliche: Die Soldaten von General Rosalio Martinez und Porfirio Diaz und die todbringenden Gewehre, die nie aufhören wollten, Tod und Verderben zu speien und die Sünden der Arbeiter in ihrem eigenen Blut zu ertränken. Und die Nacht! Er sah die flachen Wagen, auf denen die Leichen aufgehäuft waren, nach Vera Cruz zum Futter für die Haie in der Bucht bestimmt. Er sah sich wieder über den unheimlichen Leichenhaufen klettern und die halb entkleideten, misshandelten Leichen seines Vaters und seiner Mutter suchen und finden. Besonders deutlich erinnerte er sich seiner Mutter – nur ihr Gesicht guckte hervor, ihr Leib war von der Last Dutzender von Toten verborgen. Wieder knallten die Gewehre des Porfirio Diaz, und er sah sich wie ein gejagter Bergkojote davonrasen.
Ein lautes Gebrüll wie vom Meer klang an sein Ohr, er sah Danny Ward an der Spitze seines Gefolges von Trainern und Sekundanten durch den Gang in der Mitte kommen. Das Publikum tobte vor Begeisterung. Alle jubelten ihm zu. Alle waren für ihn. Sogar Riveras eigene Sekundanten atmeten erleichtert auf, und ihre Laune besserte sich, als Danny sich gewandt unter den Seilen duckte und in den Ring trat. Sein Gesicht zeigte ein Lächeln nach dem anderen, und wenn Danny lächelte, lächelte jeder Zoll seines Gesichtes bis zu den Fältchen in den Augenwinkeln und bis in die Tiefe der Augen selbst. Nie hatte man einen so liebenswürdigen Boxer gesehen. Sein Gesicht war eine Verkörperung von Gutmütigkeit und Kameradschaft. Er kannte alle Welt. Er scherzte und lachte und tauschte über die Seile hinweg Grüße mit seinen Freunden aus. Die anderen, die ihre Bewunderung nicht bändigen konnten, riefen laut: »Danny!« Die Stimmung stieg und raste sich in Beifallsstürmen aus, die Minuten dauerten.
Rivera blieb unbeachtet. Spider Hagerthy beugte sich mit aufgedunsenem Gesicht über ihn.
»Krieg nun keine Angst«, warnte er ihn. »Und vergiss die Instruktionen nicht. Du musst aushalten. Nicht aufgeben! Wenn du aufgibst, sollen wir dich nachher vertobaken. Verstanden? Du hast zu kämpfen.«
Das Publikum begann zu klatschen. Danny durchschritt den Ring, trat auf ihn zu und beugte sich zu ihm nieder. Er nahm Riveras Hand zwischen seine beiden und drückte sie mit überströmender Herzlichkeit. Das Publikum jubelte Beifall. Danny begrüßte seinen Gegner mit der Zärtlichkeit eines Bruders. Seine Lippen bewegten sich, und das Publikum, das die Worte, die er sprach, nicht hören konnte, sie aber als freundlich, liebenswürdig und sportsmäßig auffasste, schrie wieder. Nur Rivera hörte die leise gesprochenen Worte.
»Du kleine mexikanische Ratte«, drang es zischend zwischen den lächelnden Lippen hervor, »ich will dir die Eingeweide zum Leibe herausprügeln.«
Rivera rührte sich nicht. Er stand nicht auf. Er sah den anderen nur voller Hass an.
»Steh auf, du Hund«, heulte jemand im Hintergrund des Zuschauerraums. Die Menge begann ihn wegen seines wenig sportgerechten Benehmens auszuzischen und auszupfeifen, aber er blieb sitzen.
Ein neuer Beifallssturm begrüßte Danny, als er sich durch den Ring auf seinen Platz zurückbegab.
Als Danny sich entkleidete, wurde begeistert »Ah!« und »Oh!« gerufen. Sein Körper war vollkommen und strotzte von Geschmeidigkeit, Kraft und Gesundheit. Die Haut war weiß und glatt wie die einer Frau. Und unter ihrer Oberfläche spielten Anmut, Gewandtheit und Stärke. Das hatte er in Dutzenden von Kämpfen bewiesen. Sein Bild war durch die gesamte Sportpresse gegangen.
Als Spider Hagerthy Rivera das wollene Hemd über den Kopf zog, wurde gezischt. Sein Körper erschien wegen der dunklen Hautfarbe schmächtiger, als er in Wirklichkeit war. Er hatte Muskeln, aber sie traten nicht so in Erscheinung wie die seines Gegners. Was das Publikum dagegen übersah, war seine tiefe Brust. Und es hatte auch keine Ahnung – und konnte sie auch nicht haben – von der Zähigkeit seiner Muskelbänder und von der Explosivkraft seiner Fäuste. Das einzige, was das Publikum sah, war ein braunhäutiger, achtzehnjähriger Bursche mit einem Körper, der wie der eines Knaben wirkte. Da war Danny doch ganz etwas anderes. Das war ein Mann von vierundzwanzig Jahren, und sein Körper der eines Mannes. Der Gegensatz war noch auffälliger, als sie nebeneinander im Ring standen und die letzten Weisungen des Schiedsrichters empfingen.
Rivera bemerkte, dass Roberts direkt hinter den Reportern saß. Er war noch mehr berauscht als gewöhnlich und seine Rede entsprechend schleppender.
»Nur immer ruhig, Rivera«, sagte Roberts. »Totschlagen kann er dich nicht, das vergiss nicht. Er wird gleich im Anfang mächtig auf dich losgehen, aber lass dich nicht dadurch verblüffen. Deck dich nur gut, steh fest und geh in Clinch. Dann kann er dir nichts weiter tun. Stell dir einfach vor, dass er im Trainingssaal auf dich losschlüge.«
Rivera gab kein Zeichen, dass er es gehört hätte.
»Ein mürrischer kleiner Teufel«, murmelte Roberts seinem Nebenmann zu. »So ist er immer gewesen.«
Aber Rivera vergaß, ihm seinen üblichen gehässigen Blick zuzuwerfen. Eine Vision zeigte sich ihm in Gestalt zahlreicher Gewehre. Jedes Gesicht im Zuschauerraum von den teuersten Plätzen bis ganz hinten, soweit er sehen konnte, hatte sich in ein Gewehr verwandelt. Und er sah die mexikanische Grenze vor sich – ausgedörrt, von der Sonne versengt und trostlos, und an ihr die zerlumpten Scharen, die auf die Gewehre hofften.
Er wartete, aufrecht ganz hinten in seiner Ecke stehend. Seine Sekundanten waren unter den Seilen hinausgekrochen und hatten ihre Klappstühle mitgenommen. Danny stand ihm gegenüber in der entgegengesetzten Ecke des viereckigen Ringes. Der Gong ertönte, und der Kampf begann. Das Publikum brüllte vor Freude. Noch nie hatte es einem Kampf beigewohnt, der überzeugender begann. Die Zeitungen hatten recht gehabt. Es war ein Kampf zwischen erbitterten Feinden. Drei Viertel der Entfernung legte Danny in einem Sprung zurück, um seinem Gegner auf den Leib zu kommen, ein Vorstoß, der deutlich verriet, dass es seine Absicht war, den kleinen Mexikaner mit Haut und Haaren zu fressen. Er griff nicht mit einem Schlage, nicht mit zweien, nicht mit einem Dutzend Schlägen an. Es war ein Wirbelwind von Schlägen, ein vernichtender Sturm. Rivera verschwand gleichsam. Er wurde überschüttet, begraben unter Lawinen von Schlägen, die ein Meister von überall her austeilte. Er wurde über den Haufen gerannt, gegen die Seile gefegt, vom Schiedsrichter losgebracht und abermals gegen die Seile geschleudert.
Es war kein Kampf. Es war ein Gemetzel, ein Blutbad. Jedem anderen Publikum als den Zuschauern eines Boxkampfes wäre einfach in dieser ersten Minute die Luft ausgegangen. Wahrhaftig: Danny wusste, was er konnte – es war eine fabelhafte Leistung. Das Publikum war seiner Sache so sicher und dabei so aufgeregt und voreingenommen, dass es ganz übersah, dass der Mexikaner sich noch auf den Beinen hielt. Es hatte Rivera ganz vergessen. Es sah ihn kaum, derart verschwand er unter der mörderischen Attacke Dannys. Eine Minute verging auf diese Weise, und noch eine. Dann sah das Publikum in einem Augenblick, als die Kämpfenden getrennt waren, deutlich den Mexikaner. Eine Lippe war gespalten, seine Nase blutete. Als er sich umdrehte und wankend in Clinch ging, sah man dort, wo er die Seile berührt hatte, rote Streifen auf seinem Rücken, aus denen das Blut hervorquoll. Was das Publikum aber nicht bemerkte, war, dass seine Brust nicht schwer arbeitete und dass seine Augen kalt und ruhig wie je waren. Allzu viele angehende Meister hatten es bei dem alles eher als weichlichen Training mit ähnlichen mörderischen Angriffen auf ihn versucht. Gegen eine Vergütung von einem halben Dollar bis zu fünfzehn Dollar wöchentlich hatte er durchzuhalten gelernt – eine harte Schule, die er durchgemacht hatte.
Da geschah etwas Erstaunliches. Das verwirrende Handgemenge, dessen Einzelheiten man kaum zu folgen vermochte, hörte plötzlich auf. Rivera stand allein da. Danny, der furchtbare Danny, lag auf dem Rücken. Sein Körper zitterte, während er langsam das Bewusstsein wiedergewann. Er hatte weder gewankt, noch war er niedergesunken oder langsam zu Boden gefallen. Riveras Rechte hatte ihn, als er in der Luft schwebte, wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Der Schiedsrichter wies Rivera durch eine Handbewegung zurück und beugte sich, die Sekunden zählend, über den gefallenen Helden. Das Publikum eines Boxkampfes pflegt den fällenden Schlag mit Beifall zu begrüßen. Aber dies Publikum jubelte nicht. Es war alles zu unerwartet gekommen. Die Sekunden wurden von einer gespannten Stille begleitet, die durch die triumphierende Stimme Roberts zerrissen wurde.
»Ich hab’ es Ihnen ja gesagt, dass er mit beiden Händen gleich gut boxt.«
In der fünften Sekunde wälzte Danny sich auf das Gesicht herum, und als sieben gezählt wurde, stützte er sich auf das eine Knie, bereit, aufzustehen, sobald »neun« und bevor »zehn« gezählt wurde. Berührte sein Knie bei »zehn« noch den Boden, so wurde er ausgezählt und hatte verloren. In dem Augenblick, wenn sein Knie sich vom Boden hob, wurde er als stehend angesehen, und im selben Augenblick hatte Rivera das Recht, wieder zu versuchen, ihn zu Boden zu schlagen. Rivera gedachte nicht, sich diese Gelegenheit entgehen zu lassen. Er umkreiste seinen Gegner, aber der Schiedsrichter kreiste vor ihm, und Rivera merkte, dass die Sekunden, die er zählte, sehr lange dauerten. Alle Gringos waren gegen ihn, sogar der Schiedsrichter.
Bei »neun« gab der Schiedsrichter Rivera einen Stoß, dass er zurückflog. Das war unfair, aber dadurch wurde es Danny möglich, lächelnd wieder aufzustehen. Halb gekrümmt und mit den Armen Gesicht und Unterleib schützend, wankte er vorwärts und ging gewandt in Clinch. Nach den Regeln des Boxsports hätte der Schiedsrichter seinen Griff lösen müssen, aber er tat es nicht, und Danny klammerte sich an wie eine Muschel im Wogenprall der Brandung und kam allmählich wieder zu Kräften. Die letzte Minute der Runde war angebrochen. Wenn er bis zu ihrem Ende durchhielt, konnte er sich eine ganze Minute lang in seiner Ecke erholen. Und er hielt durch und lächelte trotz aller Verzweiflung und Kläglichkeit.
»Seht, Danny lächelt!« schrie einer, und das Publikum lachte laut und erleichtert.
»Eine verfluchte Stoßkraft hat der Lausebengel«, sagte Danny ächzend in seiner Ecke zu dem Trainer, während seine Adjutanten ihn wie toll bearbeiteten. Die zweite und die dritte Runde waren matt. Danny, der ein kalter, gerissener Boxer war, stellte sich und blockte, um sich von dem betäubenden Schlag, den er in der ersten Runde bekommen hatte, zu erholen. In der vierten Runde war er wieder ganz der alte. Obwohl er zerschlagen und verwirrt war, setzte seine gute Form ihn instand, seine Kraft wiederzugewinnen. Aber er versuchte es nicht wieder mit seiner mörderischen Taktik. Der Mexikaner hatte ihm gezeigt, dass sie bei ihm versagte. Statt dessen tischte er jetzt seine besten Boxerkünste auf. In allen Tricks sowohl wie in Erfahrung und Ausbildung war er ein Meister; wenn er auch nichts Entscheidendes ausrichten konnte, so schlug er doch weiter auf seinen Gegner los und zermürbte ihn nach allen Regeln der Kunst. Er schlug dreimal, wenn Rivera einmal schlug, aber es waren nicht entscheidende Schläge. Die Summe vieler Schläge sollte den Ausschlag geben. Er bewunderte diesen mit beiden Händen gleich gut boxenden Neuling, dessen Fäuste mit erstaunlicher Wucht stießen.
In der Verteidigung zeigte Rivera sich im Besitz einer erstaunlichen Technik der Linken. Immer wieder, in einem Angriff nach dem anderen, schoss sie vor und richtete Dannys Mund und Nase übel zu. Aber Danny passte sich an. Das war es, was ihn später zum Weltmeister machen sollte. Er konnte nach Belieben eine Kampfart mit der anderen vertauschen. Jetzt rückte er seinem Gegner nahe auf den Leib. Durch diese Technik, die ihm besonders lag, wurde es ihm möglich, der Linken des anderen zu entgehen. Jetzt brachte er das Publikum mehrmals dazu, vor Begeisterung zu toben, und den Vogel schoss er ab, indem er durch einen mächtigen Schlag den Mexikaner in die Luft hob und auf die Matte fallen ließ. Rivera ruhte auf dem einen Knie und nutzte die Sekunden nach Möglichkeit aus, aber er war innerlich überzeugt, dass der Schiedsrichter die Sekunden für ihn sehr abkürzte.
In der siebenten Runde glückte es Danny wieder, den teuflischen Schlag zu landen. Er brachte Rivera nur zum Wanken, aber im nächsten Augenblick, als er hilf- und wehrlos dastand, ließ er ihn durch einen neuen Schlag zwischen den Seilen hindurchfliegen. Rivera fiel mitten zwischen die Presseleute, die ihn aufhoben und außerhalb der Seile in seine Ecke beförderten. Hier ruhte er auf dem einen Knie, während der Schiedsrichter eilig die Sekunden zählte. Innerhalb der Seile, unter denen er sich ducken musste, um wieder auf den Kampfplatz zu gelangen, wartete Danny auf ihn. Der Schiedsrichter legte sich weder dazwischen, noch stieß er Danny zurück.
Die Zuschauer waren außer sich vor Begeisterung. »Schlag ihn tot, Danny, schlag ihn tot!« wurde gebrüllt.
Dutzende von Stimmen griffen den Schrei auf, und es klang wie das Kriegsgeheul eines Wolfsrudels.
Danny tat sein Bestes, als aber nicht »neun«, sondern erst »acht« gezählt wurde, schlüpfte Rivera unerwartet durch die Seile hinein und rettete sich durch Clinchen. Jetzt war der Schiedsrichter gleich da, riss ihn los, sodass er getroffen werden konnte, und half Danny so viel, wie ein unfairer Schiedsrichter helfen kann.
Aber Rivera überstand den Angriff, und der Schwindel verzog sich aus seinem Hirn. Sie waren alle gleich. Sie waren die verhassten Gringos, und sie waren alle unehrlich. Aber selbst in den schlimmsten Augenblicken leuchteten und funkelten die Visionen in seinem Hirn – lange Eisenbahnzüge, die durch die Wüste ratterten, Gefängnisse und Kerker, Vagabunden an Wasserstellen – das ganze qualvolle, schmutzige Panorama, das er auf seinem Umherirren nach den Tagen von Rio Blanco und dem Streik gesehen hatte. Und in einer herrlichen, strahlenden Vision sah er die große Revolution über das Land hinbrausen. Die Gewehre waren da, gerade vor ihm. Jedes einzelne der verhassten Gesichter war ein Gewehr. Für die Gewehre kämpfte er. Er und die Gewehre waren eins. Er und die Revolution waren eins. Er kämpfte hier für ganz Mexiko.
Das Publikum begann ärgerlich auf Rivera zu werden. Warum steckte er die Prügel nicht ein, die ihm zugedacht waren? Natürlich wurde er besiegt, aber warum machte er da so viele Geschichten? Nur sehr wenige interessierten sich für ihn, und das war der bestimmte, begrenzte Prozentsatz von Spielern, die ein hohes Spiel spielten. Obwohl sie an Dannys Sieg glaubten, hatten sie doch vier zu zehn oder eins zu drei auf den Mexikaner gesetzt. Ziemlich erheblich waren die Wetten, wie viele Runden Rivera durchhalten würde. Manche hatten sogar leichtsinnigerweise darauf gesetzt, dass er keine sieben, ja keine sechs Runden durchhalten würde. Die, welche dagegen gehalten, also gewonnen und die Frage bezüglich des gewagten Geldes glücklich gelöst hatten, schlossen sich jetzt den anderen an und jubelten dem Mexikaner zu.
Rivera wollte sich nicht schlagen lassen. In der achten Runde versuchte sein Gegner vergebens, den Uppercut zu wiederholen. Die neunte Runde verblüffte wieder das Publikum. Mitten in einem Clinch machte sich Rivera mit einer schnellen, geschmeidigen Bewegung frei, und in dem engen Zwischenraum zwischen ihren Leibern fuhr seine Rechte von unten hoch. Danny ging auf den Boden und nutzte das Zählen aus. Die Zuschauer waren erschrocken. Er war auf seinem eigenen Gebiet geschlagen. Sein berühmter rechter Uppercut war gegen ihn selbst angewandt worden. Als er bei »neun« aufstand, versuchte Rivera nicht, ihn zu treffen. Der Schiedsrichter hätte es ja doch verhindert, obwohl er im umgekehrten Falle, wenn es Rivera war, der aufstehen sollte, beiseite trat.
In der zehnten Runde führte Rivera den rechten Uppercut vom Gürtel gegen das Kinn seines Gegners aus. Danny geriet vor Wut außer sich. Das Lächeln verließ zwar nicht einen Augenblick sein Gesicht, aber er ging wieder zu seinen mörderischen Angriffen über. Aber so sehr er auch herumtanzte, konnte er Rivera doch nichts tun, Rivera aber schlug ihn in der Verwirrung und dem Tumult dreimal hintereinander nieder. Danny gewann seine Kräfte nicht mehr so schnell wieder, und in der elften Runde sah es ernst für ihn aus. Aber von jetzt an bis zur vierzehnten Runde leistete er das Beste, was er je in seiner Laufbahn gezeigt hatte. Er stand und plazierte die Schläge, schonte seine Kräfte im Kampf und versuchte die, welche er schon zugesetzt hatte, zurückzugewinnen. Dazu kämpfte er so regelwidrig, wie es nur ein erfolgreicher Boxer kann. Jeden Kniff und Trick wandte er an, ging in Clinch, tat aber, als wäre es zufällig, presste Riveras Handschuhe zwischen Arm und Leib und legte seinen eigenen Handschuh Rivera auf den Mund, um ihm den Atem zu nehmen. Wenn sie einander dicht auf dem Leibe waren, zischte er zwischen den aufgeschlagenen, aber lächelnden Lippen Rivera abscheuliche, unaussprechliche Schimpfworte ins Ohr.
Alle, vom Schiedsrichter bis zum Publikum, hielten zu Danny und halfen Danny. Und sie wussten, was er im Sinne hatte. Überwältigt durch diesen überraschenden Unbekannten, setzte er all seine Hoffnung in einen einzigen entscheidenden Schlag. Er gab sich Blößen und steckte die Schläge ein, reizte seinen Gegner, machte Scheinangriffe und versuchte Rivera dahin zu bringen, dass er sich die Blöße gab, die es ihm erlaubte, aus aller Kraft zuzuschlagen und zu siegen. Wie ein anderer, größerer Boxer vor ihm getan, konnte er seinen Gegner vielleicht mit einem Rechten und einem Linken auf den Solarplexus und über das Kinn treffen. Er konnte es, denn er war bekannt für die Stoßkraft, die in seinen Armen war, solange er sich nur auf den Beinen halten konnte.
Riveras Sekundanten sorgten in den Pausen zwischen den Runden nur wenig für ihn. Sie trockneten ihn ein bisschen mit den Handtüchern ab, verschafften aber seiner keuchenden Lunge nicht viel Luft. Spider Hagerthy gab ihm Ratschläge, aber er wusste, dass es schlechte Ratschläge waren. Alle waren gegen ihn. Er war von Verrätern umgeben. In der vierzehnten Runde brachte er Danny wieder auf den Boden und ruhte sich aus, während der Schiedsrichter die Sekunden zählte. Aus der anderen Ecke hatte Rivera ein verdächtiges Flüstern gehört. Er sah, wie Michael Kelly zu Roberts ging, sich über ihn beugte und ihm etwas zuflüsterte. Riveras Ohren waren wie die einer Katze, in der Wüste geübt, und er hörte Bruchstücke von dem, was Michael sagte. Er wollte gern mehr hören, und als sein Gegner sich erhob, glückte es ihm, so zu manövrieren, dass er Gelegenheit zu einem Clinch an den Seilen bekam.
»Er muss«, hörte er Michael sagen, und Roberts nickte. »Danny muss gewinnen – ich verliere ein Vermögen – ich habe eine Unsumme gewettet – mein eigenes Geld – wenn er die fünfzehnte Runde durchhält, bin ich ruiniert – der Junge wird sich danach richten, was du sagst. Steck es ihm.«
Und jetzt hatte Rivera keine Visionen mehr. Sie versuchten ihn zu narren. Noch einmal schlug er Danny zu Boden und ruhte sich, die Hände in die Seiten gestützt, aus. Roberts stand auf.
»Jetzt ist er fertig«, sagte er. »Geh in deine Ecke.«
Er sprach gebieterisch, wie er oft beim Training mit Rivera gesprochen hatte. Aber Rivera sah ihn erbittert an und wartete, dass Danny aufstehen sollte.
Als er in der minutenlangen Pause wieder in seiner Ecke saß, kam Kelly, der Unternehmer, zu Rivera und sprach mit ihm. »Gib auf, verdammter Kerl!« fauchte er leise. »Du musst dich schmeißen lassen, Rivera. Tue, wie ich dir sage, und ich sichere dir deine Zukunft. Nächstes Mal lasse ich dich über Danny siegen. Aber diesmal musst du dich besiegen lassen.« Rivera ließ ihn durch einen Blick verstehen, dass er seine Worte gehört hatte, gab aber durch kein Zeichen zu erkennen, ob er einwilligte oder nicht.
»Warum sagst du nichts?« fragte Kelly zornig.
»Du verlierst unter allen Umständen«, fügte Spider Hagerthy hinzu. »Der Schiedsrichter lässt dich nicht siegen. Höre auf Kelly und lass dich schmeißen!«
»Ja, lass dich schmeißen, mein Junge!« drang Kelly in ihn. »Dann verhelfe ich dir zur Meisterschaft.«
Rivera antwortete nicht.
»Ich tue es, so wahr mir Gott helfe, mein Junge.«
Als der Gong ertönte, hatte Rivera das Gefühl, dass irgendeine Gefahr ihm drohte. Das Publikum merkte nichts. Was es auch sein mochte – jedenfalls war es innerhalb des Ringes und ganz in seiner Nähe. Danny schien seine frühere Sicherheit wiedergewonnen zu haben. Die Zuversichtlichkeit, mit der er ankam, erschreckte Rivera. Offenbar waren sie im Begriff, ihm irgendeinen Streich zu spielen. Danny sprang auf ihn los, aber Rivera wich ihm aus. Er brachte sich in Sicherheit, indem er einen Schritt zurücktrat. Der andere hatte erwartet, dass er in Clinch gehen würde. Das war zu einem gewissen Grade nötig, wenn der Streich gelingen sollte. Rivera zog sich zurück und umkreiste den Gegner, fühlte aber doch, dass bei dem Zusammenstoß, der früher oder später erfolgen musste, der Kniff versucht werden würde. Als Danny wieder vorstürmte, tat Rivera, als wolle er in Clinch gehen. Aber im letzten Augenblick sprang er, gerade als ihre Leiber zusammenstoßen wollten, rasch zurück. Und im selben Augenblick ertönte aus Dannys Ecke der Ruf: »Foul!« Rivera hatte sie angeführt. Der Schiedsrichter zögerte unentschlossen. Die Entscheidung, die ihm auf den Lippen lag, fiel nie, denn eine Knabenstimme auf der Galerie schrillte: »Schiebung!«
Danny schimpfte laut auf Rivera und stürmte auf ihn los, aber Rivera wich ihm tänzelnd aus. Rivera beschloss jetzt, nicht mehr nach dem Körper des anderen zu zielen. Damit setzte er seine halbe Chance, zu gewinnen, aufs Spiel, aber er wusste, dass er, wenn er überhaupt siegen wollte, den Nahkampf vermeiden musste. Beim geringsten Anlass würden sie ihn eines »Fouls« beschuldigen. Danny ließ alle Vorsicht beiseite. In zwei Runden stürmte er auf den Jungen los, der ihm nicht im Nahkampf zu begegnen wagte. Immer wieder wurde Rivera getroffen; er steckte die Schläge zu Dutzenden ein, um dem gefährlichen Nahkampf zu entgehen. Bei dieser einzig dastehenden Schlussszene Dannys erhob das Publikum sich und wurde wahnsinnig. Es verstand nichts von dem, was vorging. Das einzige, was es sehen konnte, war, dass sein Favorit doch siegte.