Loe raamatut: «Jack London – Gesammelte Werke», lehekülg 80

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Güns­ti­ge Win­de trie­ben die ›Ghost‹ schnell nord­wärts in die Rob­ben­grün­de. Wir tra­fen die Her­den auf dem 44. Brei­ten­grad in ei­ner rau­en, stür­mi­schen See, über die der Wind die Ne­bel­bän­ke in wil­der Flucht hetz­te. Ta­ge­lang konn­ten wir nicht die Son­ne se­hen und Beo­b­ach­tun­gen ma­chen. Dann aber feg­te der Wind die Ober­flä­che des Ozeans rein, die Wel­len kräu­sel­ten sich schim­mernd, und wir konn­ten fest­stel­len, wo wir wa­ren. Ein kla­rer Tag, auch drei oder vier konn­ten fol­gen, dann senk­te sich der Ne­bel wie­der auf uns her­ab, an­schei­nend dich­ter als je.

Die Jagd war ge­fähr­lich, aber den­noch wur­den die Boo­te Tag für Tag hin­un­ter­ge­las­sen, von der grau­en Fins­ter­nis ver­schlun­gen und erst bei her­ab­sin­ken­der Nacht, ja oft erst viel spä­ter wie­der­ge­se­hen. Wie See­ge­spens­ter husch­ten sie dann ei­nes nach dem an­de­ren aus dem Grau her­vor. Wain­w­right – der Jä­ger, den Wolf Lar­sen mit Boot und Mann­schaft ge­stoh­len hat­te – be­nutz­te den Ne­bel, um zu ent­wi­schen. Er ver­schwand ei­nes Mor­gens mit sei­nen bei­den Leu­ten in den krei­sen­den Schwa­den, und wir sa­hen sie nie wie­der. Nach ei­ni­gen Ta­gen er­fuh­ren wir je­doch, dass sie von ei­nem Scho­ner zum an­de­ren ge­gan­gen wa­ren, bis sie end­lich ih­ren ei­ge­nen wie­der­ge­fun­den hat­ten. Das hat­te ich selbst schon längst tun wol­len, aber es bot sich mir nie eine Ge­le­gen­heit. Es war nicht Sa­che des Steu­er­manns, mit in die Boo­te zu ge­hen, und wel­che List ich auch an­wand­te, gab Wolf Lar­sen mir doch nie die Er­laub­nis dazu. Hät­te er es ge­tan, so wür­de ich ir­gend­wie ver­sucht ha­ben, Fräu­lein Brewster mit­zu­neh­men. Nä­her­ten sich die Din­ge doch ei­nem Sta­di­um, an das zu den­ken mir Grau­en ein­flö­ßte. Ich woll­te nicht dar­an den­ken, aber im­mer wie­der er­hob sich der Ge­dan­ke wie ein Spuk­ge­spenst in mei­nem Kop­fe und wich nicht.

Ich hat­te frü­her See­ge­schich­ten ge­le­sen, in de­nen die ein­sa­me Frau un­ter ei­ner Schar von Män­nern als das na­tür­lichs­te von der Welt vor­kam; jetzt aber er­fuhr ich, dass ich nie die tiefe­re Be­deu­tung die­ser Si­tua­ti­on er­fasst hat­te. Und hier stand ich die­ser Si­tua­ti­on nun An­ge­sicht zu An­ge­sicht ge­gen­über. Um sie so le­ben­dig wie mög­lich zu ge­stal­ten, brauch­te es nur, dass die Frau Maud Brewster war.

Kein grö­ße­rer Ge­gen­satz als der zwi­schen ihr und ih­rer Um­ge­bung hät­te je er­son­nen wer­den kön­nen. Sie war zart und äthe­risch, ge­schmei­dig und mit leich­ten, an­mu­ti­gen Be­we­gun­gen. Ich hat­te nie das Ge­fühl, als ob sie schrit­te, oder es doch we­nigs­tens nach Art ge­wöhn­li­cher Sterb­li­cher täte. Eine sel­te­ne Leich­tig­keit lag über ihr, und sie be­weg­te sich mit ei­ner un­be­schreib­li­chen An­mut. Nä­her­te sie sich ei­nem, so ge­sch­ah es wie ein Vo­gel, der auf ge­räusch­lo­sen Schwin­gen her­nie­der­schweb­te.

Sie war wie ein Ge­gen­stand aus Mei­ße­ner Por­zel­lan, und ich wur­de im­mer wie­der be­trof­fen von ei­nem Ein­druck von Zer­brech­lich­keit, den sie auf mich mach­te. Wie da­mals, als ich ih­ren Arm er­grif­fen hat­te, um ihr die Ka­jüt­strep­pe hin­un­ter­zu­hel­fen, war ich je­der­zeit dar­auf vor­be­rei­tet, sie zer­bre­chen zu se­hen, falls sie zu hart an­ge­packt wür­de. Nie habe ich eine sol­che Har­mo­nie zwi­schen Kör­per und Geist ge­se­hen. Ihr Kör­per schi­en ein Teil ih­rer See­le zu sein, schi­en die glei­chen Ei­gen­schaf­ten zu be­sit­zen und an das Le­ben nur durch die zar­tes­ten Ket­ten ge­fes­selt zu sein. In der Tat: sie trat leicht über die­se Erde, und nur ein Ge­rin­ges von gro­bem Stau­be haf­te­te ihr an.

Wolf Lar­sen bil­de­te einen schrei­en­den Ge­gen­satz zu ihr. Ich be­ob­ach­te­te sie, wie sie ei­nes Mor­gens zu­sam­men über das Deck schrit­ten, und ich ver­glich sie als die äu­ßers­ten End­punk­te der mensch­li­chen Ent­wick­lung – er der Hö­he­punkt al­ler Bar­ba­rei, sie das vollen­dets­te Pro­dukt höchs­ter Zi­vi­li­sa­ti­on. Wahr­lich: Wolf Lar­sen be­saß einen un­ge­wöhn­li­chen In­tel­lekt, aber er be­nutz­te ihn ein­zig im Diens­te sei­ner wil­den In­stink­te, was ihn nur umso schreck­li­cher und wil­der mach­te. Er be­saß pracht­vol­le Mus­keln und war ath­le­tisch ge­baut, aber ob­wohl er fest und be­stimmt auf­trat, haf­te­te sei­nem Schritt kei­ne Schwe­re an. An Dschun­gel und Wild­nis ge­mahn­ten He­ben und Sen­ken sei­nes Fu­ßes. Ge­schmei­dig und stark – vor al­lem stark – war sein Gang wie der ei­ner Kat­ze. Er glich ei­nem großen Ti­ger, ei­nem tap­fe­ren Raub­tier. So wirk­te er, und in sei­nen Au­gen leuch­te­te zeit­wei­se der­sel­be durch­drin­gen­de Glanz auf, den ich in de­nen ein­ge­sperr­ter Leo­par­den oder an­de­rer beu­te­su­chen­der Ge­schöp­fe der Wild­nis in ih­ren Kä­fi­gen ge­se­hen hat­te.

Sie ka­men in die Nähe der Ka­jüts­kap­pe, wo ich stand. Ob­gleich sie es durch kein äu­ße­res Zei­chen ver­riet, spür­te ich doch, dass sie sich in großer Er­re­gung be­fand. Sie mach­te ir­gend­ei­ne nichts­sa­gen­de Be­mer­kung, blick­te mich an und lach­te un­be­küm­mert, dann aber sah ich, wie ihre Au­gen un­will­kür­lich, wie fas­zi­niert, die sei­nen such­ten; sie senk­te sie wie­der, aber doch nicht schnell ge­nug, um das Ent­set­zen, das in ih­nen ge­schrie­ben stand, zu ver­ber­gen.

In sei­nen Au­gen sah ich die Ur­sa­che ih­rer Er­re­gung. Sonst grau, kalt und hart, wa­ren sie jetzt warm, sanft und gol­den, und es tanz­ten in ih­nen win­zi­ge Lich­ter, die er­lo­schen und schwan­den, aber wie­der auf­flamm­ten, bis sie die Au­gen ganz mit ei­nem glü­hen­den Leuch­ten er­füll­ten. Vi­el­leicht ver­ur­sach­ten sie den gol­de­nen Schein. Je­den­falls wa­ren sei­ne Au­gen gol­den, ver­füh­re­risch und her­risch, lo­ckend und zwin­gend und ver­lie­hen ei­nem Be­fehl, ei­nem Schrei des Blu­tes Aus­druck, den kein Weib, am we­nigs­ten Maud Brewster, miss­ver­ste­hen konn­te.

Ihre Angst steck­te mich an, und in die­sem Au­gen­blick der Furcht – der ent­setz­lichs­ten Furcht, die ein Mann füh­len kann, wuss­te ich, dass sie mir un­säg­lich teu­er war. Das Be­wusst­sein, dass ich sie lieb­te, über­kam mich gleich­zei­tig mit der Angst, und bei­de Ge­füh­le um­krall­ten mein Herz und lie­ßen mein Blut ge­frie­ren und zu­gleich auf­rüh­re­risch wal­len. Ich fühl­te mich von ei­ner frem­den Macht be­zwun­gen und wand­te mich wi­der Wil­len, um in Wolf Lar­sens Au­gen zu bli­cken. Aber jetzt hat­te er sei­ne Selbst­be­herr­schung wie­der­ge­fun­den. Die gol­de­ne Far­be und das schim­mern­de Licht wa­ren er­lo­schen. Sei­ne Au­gen fun­kel­ten kalt und grau, als er sich jetzt plötz­lich mit ei­ner un­be­hol­fe­nen Be­we­gung ab­wand­te.

»Ich fürch­te mich«, flüs­ter­te sie schau­dernd, »ich fürch­te mich so.«

Auch ich fürch­te­te mich und be­fand mich in star­ker Er­re­gung über die Ent­de­ckung, die ich ge­macht hat­te, aber es ge­lang mir, ge­las­sen zu ant­wor­ten:

»Es wird schon al­les gut wer­den, Fräu­lein Brewster. Glau­ben Sie mir, es wird al­les gut wer­den.«

Sie ant­wor­te­te mit ei­nem klei­nen dank­ba­ren Lä­cheln, das mein Herz klop­fen ließ, und ging dann die Ka­jüt­strep­pe hin­un­ter.

Lan­ge blieb ich dort ste­hen, wo sie mich ver­las­sen hat­te. Es war eine zwin­gen­de Not­wen­dig­keit für mich, mich zu be­sin­nen und mir klar dar­über zu wer­den, wel­che Wen­dung die Din­ge ge­nom­men hat­ten. Jetzt end­lich war sie ge­kom­men, die Lie­be, war zu mir ge­kom­men, nun, da ich es am we­nigs­ten er­war­tet hat­te, und un­ter den schwie­rigs­ten Ver­hält­nis­sen.

Maud Brewster! Mei­ne Erin­ne­rung flog zu­rück zu dem ers­ten dün­nen Bänd­chen auf mei­nem Schreib­tisch, und ich sah zum Grei­fen deut­lich die gan­ze Rei­he schma­ler Bänd­chen auf mei­nem Bü­cher­brett vor mir. Mit wel­cher Freu­de hat­te ich je­des von ih­nen be­grüßt! All­jähr­lich war ei­nes von ih­nen er­schie­nen, und je­des Mal war es das Er­eig­nis des Jah­res für mich ge­we­sen. Sie hat­ten eine ver­wand­te Sai­te in mei­nem Geis­te an­ge­schla­gen, und in die­sem Sin­ne hat­te ich sie ka­me­rad­schaft­lich be­grüßt; aber jetzt hat­ten sie ih­ren Platz in mei­nem Her­zen ge­fun­den.

Und dann kehr­te mein Geist – un­ge­reimt und sinn­los – zu ei­ner klei­nen bio­gra­fi­schen Be­mer­kung in dem ro­ten Ban­de ›Wer ist’s?‹ zu­rück. ›Sie ist in Cam­bridge ge­bo­ren und 27 Jah­re alt.‹ Und ich sag­te mir: ›27 Jah­re alt und doch noch frei?‹ Wie konn­te ich wis­sen, ob sie noch frei war? Und der Stich neu­ge­bo­re­ner Ei­fer­sucht jag­te al­len Zwei­fel in die Flucht. Nein, es war si­cher. Ich war ei­fer­süch­tig, also war ich ver­liebt. Und die, die ich lieb­te, war Maud Brewster. Ob­gleich ich stets von Frau­en um­ge­ben ge­we­sen, hat­te ich sie nur rein äs­the­tisch be­trach­tet, wei­ter nichts. Ich hat­te wirk­lich manch­mal ge­glaubt, dass die Re­gel kei­ne Gel­tung auf mich hät­te, dass ich ein Ein­sied­ler wäre, dem das Glück der Lie­be ver­sagt sei. Und nun war es doch ge­kom­men! In ei­ner Art Ek­sta­se ver­ließ ich mei­nen Platz an der Ka­jüts­kap­pe und schritt über das Deck, in­dem ich die wun­der­vol­len Ver­se Eli­sa­beth Brow­nings mur­mel­te:

»Traum­bil­der wa­ren vie­le Jah­re lang

Ge­nos­sen statt der Frau’n und Män­ner mir;

Die bes­ten Ka­me­ra­den seid doch ihr.

Kein sü­ßer Lied ein and­rer je mir sang.«

Jetzt aber er­klang das sü­ße­re Lied in mei­nen Ohren, und ich war blind und taub für al­les um mich her. Die schar­fe Stim­me Wolf Lar­sens rüt­tel­te mich auf. »Zum Don­ner­wet­ter, was trei­ben Sie?«

Ich war nach vorn ge­schrit­ten, wo die Ma­tro­sen mit An­strei­chen be­schäf­tigt wa­ren, und be­merk­te jetzt, dass ich mit dem Fuße fast einen Far­ben­topf um­ge­sto­ßen hät­te.

»Schlaf­wan­deln, Son­nen­stich – wie?« brumm­te er.

»Nein, Ver­dau­ungs­stö­rung«, er­wi­der­te ich und ging wei­ter, als ob mir nichts Un­ge­wöhn­li­ches be­geg­net wäre.

24

Zu den stärks­ten Ein­drücken mei­nes Le­bens ge­hö­ren die Er­eig­nis­se auf der ›Ghost‹ in den vier­zig Stun­den, die der Ent­de­ckung mei­ner Lie­be zu Maud Brewster folg­ten. Nach ei­nem stil­len, ge­ru­hi­gen Le­ben war ich mit 35 Jah­ren in eine Rei­he der un­wahr­schein­lichs­ten Aben­teu­er ver­wi­ckelt wor­den, die ich mir je hat­te träu­men las­sen, aber nie habe ich so vie­le und so span­nen­de Er­leb­nis­se ge­habt wie in die­sen vier­zig Stun­den. Und auch heu­te noch kann ich mei­ne Ohren nicht ganz der lei­sen Stim­me des Stol­zes ver­schlie­ßen, die mir zu­flüs­tert, dass ich, al­les in al­lem, nicht übel da­bei ab­ge­schnit­ten habe.

Das ers­te war, dass Wolf Lar­sen den Jä­gern beim Mit­ta­ges­sen mit­teil­te, sie soll­ten in Zu­kunft im Zwi­schen­deck es­sen. Das war et­was ganz Un­er­hör­tes auf Rob­ben­scho­nern, wo die Jä­ger stets Of­fi­ziers­rang be­klei­den. Er gab kei­ne Grün­de an, sie wa­ren aber klar ge­nug. Hor­ner und Smo­ke hat­ten an­ge­fan­gen, Maud Brewster den Hof zu ma­chen; es war dies an und für sich nur lä­cher­lich und durch­aus nicht be­lei­di­gend für Fräu­lein Brewster, aber es stör­te Wolf Lar­sen of­fen­bar.

Die An­kün­di­gung wur­de mit tie­fem Schwei­gen ent­ge­gen­ge­nom­men, wenn auch die vier an­de­ren Jä­ger be­deu­tungs­voll auf die bei­den Schul­di­gen blick­ten. Jock Hor­ner ver­zog, sei­ner ru­hi­gen Art ge­mäß, kei­ne Mie­ne. Aber Smo­ke stieg das Blut zu Kop­fe, und er öff­ne­te den Mund, um et­was zu sa­gen. Wolf Lar­sen be­ob­ach­te­te ihn ab­war­tend, den stahl­har­ten Schim­mer in den Au­gen, aber Smo­ke schloss wort­los wie­der den Mund. »Wün­schen Sie et­was?« frag­te der Ka­pi­tän an­griffs­lus­tig.

Das war eine Her­aus­for­de­rung, aber Smo­ke tat, als ver­stän­de er sie nicht.

»Was denn?« frag­te er so un­schul­dig, dass Wolf Lar­sen aus der Fas­sung ge­bracht wur­de, wäh­rend die an­de­ren lä­chel­ten.

»Ach nichts«, sag­te Wolf Lar­sen fried­lich. »Ich dach­te nur, Sie woll­ten gern eine ’r­un­ter­ge­langt ha­ben.«

»Wo­für?« frag­te der un­er­schüt­ter­li­che Smo­ke.

Jetzt lä­chel­ten Smo­kes Ka­me­ra­den ganz un­ver­hoh­len. Der Ka­pi­tän hät­te ihn tö­ten mö­gen, und ich bin über­zeugt, dass Blut ge­flos­sen sein wür­de, wenn Maud Brewster nicht da­bei­ge­we­sen wäre. Ihre An­we­sen­heit hat­te denn auch Smo­ke er­mu­tigt. Er war zu vor­sich­tig, als dass er Wolf Lar­sens Zorn zu ei­nem Zeit­punkt her­aus­ge­for­dert hät­te, da die­ser Zorn sich stär­ker als in Wor­ten hät­te äu­ßern kön­nen. Ich fürch­te­te den­noch, dass es zum Kamp­fe kom­men soll­te, aber da er­tön­te ein Ruf vom Ru­der­gast, der die Si­tua­ti­on ret­te­te.

»Rauch ahoi!« klang es die Ka­jüt­strep­pe her­ab.

»Wel­che Rich­tung?« rief Wolf Lar­sen hin­auf.

»Gera­de ach­tern.«

»Vi­el­leicht ein Rus­se«, mein­te La­ti­mer.

Bei sei­nen Wor­ten zeig­te sich Schre­cken auf den Ge­sich­tern der an­de­ren Jä­ger. Ein Rus­se konn­te nur eins be­deu­ten: einen Kreu­zer. Die Jä­ger hat­ten zwar nur eine an­nä­hern­de Vor­stel­lung, wo wir uns be­fan­den, aber sie wuss­ten doch, dass wir nicht weit von der Gren­ze des ver­bo­te­nen Ter­ri­to­ri­ums sein konn­ten, und alle kann­ten Wolf Lar­sens Ruf als Wil­de­rer. Alle Au­gen rich­te­ten sich auf ihn.

»Wir sind voll­kom­men si­cher«, be­ru­hig­te er sie la­chend. »Dies­mal gib­t’s kei­ne Salz­mi­nen, Smo­ke. Aber ich will euch et­was sa­gen: ich will fünf ge­gen eins wet­ten, dass es die ›Ma­ce­do­nia‹ ist.«

Als kei­ner die Wet­te an­nahm, fuhr er fort: »Und wenn das stimmt, wet­te ich zehn ge­gen eins, dass wir Sche­re­rei­en krie­gen.«

»Nein, ich dan­ke«, sag­te La­ti­mer frei­mü­tig. »Ich habe nichts da­ge­gen, mein Geld zu ver­lie­ren, aber ich will we­nigs­tens das Pferd lau­fen se­hen. Es ist noch nie ohne Sche­re­rei­en ab­ge­gan­gen, wenn Sie mit Ihrem Bru­der zu­sam­men­ge­trof­fen sind, und ich will selbst zwan­zig ge­gen eins dar­auf wet­ten.«

Sei­ne Wor­te er­reg­ten all­ge­mei­ne Hei­ter­keit, in die auch Wolf Lar­sen ein­stimm­te, und die Mahl­zeit ver­lief fried­lich, ob­wohl er mich die gan­ze Zeit nie­der­träch­tig be­han­del­te, mich höhn­te und reiz­te, bis ich vor un­ter­drück­ter Wut zit­ter­te. Aber ich wuss­te, dass ich mich um Maud Brewsters wil­len be­herr­schen muss­te, und ich wur­de be­lohnt, als ich einen ih­rer Bli­cke er­hasch­te, der deut­li­cher als alle Wor­te sprach: ›Ver­lier den Mut nicht!‹

Wir stan­den von Ti­sche auf und gin­gen an Deck, denn ein Damp­fer war eine will­kom­me­ne Un­ter­bre­chung des ein­tö­ni­gen Le­bens auf See, und die Über­zeu­gung, dass es Tod Lar­sen und die ›Ma­ce­do­nia‹ wa­ren, ver­mehr­te un­se­re Auf­re­gung. Die stei­fe Bri­se und die schwe­re See vom ver­gan­ge­nen Nach­mit­tage hat­ten sich am Mor­gen et­was be­ru­higt, so­dass es jetzt mög­lich war, die Boo­te hin­ab­zu­las­sen und zu ja­gen. Die Jagd ver­sprach gut zu wer­den. Wir wa­ren den gan­zen Vor­mit­tag zwi­schen ver­ein­zel­ten Rob­ben hin­durch­ge­se­gelt und lie­fen jetzt mit­ten in die Her­de hin­ein.

Der Rauch war noch meh­re­re Mei­len ach­ter­naus, nä­her­te sich aber schnell, als wir die Boo­te hin­a­blie­ßen. Sie trenn­ten sich und fuh­ren in nörd­li­cher Rich­tung über das Meer. Hin und wie­der sa­hen wir ein Se­gel nie­der­ge­hen, hör­ten die Büch­sen knal­len und sa­hen die Se­gel wie­der hoch­ge­hen. Es wim­mel­te von Rob­ben. Der Wind leg­te sich ganz; al­les schi­en einen großen Fang zu ver­kün­den. Als wir aus­lie­fen, um in Lee der Boo­te zu kom­men, sa­hen wir, dass das Meer mit schla­fen­den Rob­ben be­deckt war. Sie la­gen da zu zweit, zu dritt, in gan­zen Hau­fen, dich­ter, als ich sie je vor­her ge­se­hen, der Län­ge nach auf der Ober­flä­che aus­ge­streckt und fest schla­fend, so si­cher wie eine Schar trä­ger jun­ger Hun­de.

Un­ter dem nä­her­kom­men­den Rau­che wur­den jetzt Rumpf und Auf­bau des Damp­fers sicht­bar. Es war die ›Ma­ce­do­nia‹. Ich las den Na­men durch das Glas, als das Schiff uns, kaum eine Mei­le steu­er­bord, pas­sier­te. Wolf Lar­sen warf wil­de Bli­cke auf den Damp­fer, und Maud Brewster wur­de neu­gie­rig.

»Was für Sche­re­rei­en den­ken Sie zu be­kom­men, Ka­pi­tän?« frag­te sie hei­ter.

Er blick­te sie an, und ein freund­li­cher Blick husch­te über sei­ne Züge.

»Ja, was mei­nen Sie? Dass sie an Bord kom­men und uns die Keh­len ab­schnit­ten?«

»Ja, et­was Der­ar­ti­ges«, ge­stand sie. »Die Rob­ben­jä­ger sind ja et­was so Frem­des für mich, dass ich bei­na­he auf al­les ge­fasst bin.«

Er nick­te. »Ganz recht, ganz recht. Sie ha­ben sich nur ge­irrt, wenn Sie nicht das Schlimms­te er­war­te­ten.«

»Was kann denn noch schlim­mer sein, als wenn ei­nem die Keh­le ab­ge­schnit­ten wird?« frag­te sie über­rascht und mit kleid­sa­mer Nai­vi­tät.

»Wenn ei­nem der Geld­beu­tel ab­ge­schnit­ten wird«, ant­wor­te­te er. »Die Men­schen sind heut­zu­ta­ge so ein­ge­rich­tet, dass ihre Le­bens­fä­hig­keit durch den In­halt ih­res Geld­beu­tels be­stimmt wird.«

»Wer mir den Geld­beu­tel stiehlt, stiehlt wert­lo­sen Plun­der«, zi­tier­te sie.

»Wer mir den Geld­beu­tel stiehlt, stiehlt mir das Recht, zu le­ben«, lau­te­te sei­ne Ant­wort. »Trotz al­ler Sprich­wör­ter! Denn wer mir mein Geld stiehlt, stiehlt mir mein Brot, mein Fleisch, mein Bett und ge­fähr­det da­her mein Le­ben.«

»Aber ich kann nicht ein­se­hen, wie­so der Damp­fer ir­gend­wel­che Ab­sich­ten auf Ihren Geld­beu­tel ha­ben soll­te.«

»War­ten Sie nur ab, dann wer­den Sie es schon se­hen«, er­wi­der­te er grim­mig.

Wir brauch­ten nicht lan­ge zu war­ten. Als die ›Ma­ce­do­nia‹ meh­re­re Mei­len jen­seits un­se­rer Boots­li­nie war, be­gann sie, Boo­te aus­zu­set­zen. Wir wuss­ten, dass sie vier­zehn ge­gen un­se­re fünf hat­te (ei­nes war uns durch die Flucht Wain­w­rights ab­han­den ge­kom­men), und sie be­gann da­mit weit in Lee un­se­res äu­ßers­ten Boo­tes, kreuz­te un­sern Kurs und en­de­te weit in Luv un­se­res ers­ten Luv­boo­tes. Da­mit war die Jagd für uns ver­dor­ben. Hin­ter uns gab es kei­ne Rob­ben, und vor uns feg­te die Li­nie der vier­zehn Boo­te wie ein un­ge­heu­rer Be­sen die Her­de vor sich hin.

Un­se­re Boo­te jag­ten über die paar Mei­len zwi­schen der ›Ma­ce­do­nia‹ und ih­ren Boo­ten und gin­gen dann zu­rück. Der Wind flüs­ter­te nur noch lei­se, das Meer wur­de im­mer ru­hi­ger, und al­les dies im Ve­rein mit der großen Rob­ben­her­de mach­te den Tag zur Jagd wie ge­schaf­fen – es war ei­ner der zwei oder drei ganz be­son­ders be­vor­zug­ten Tage, die man in ei­ner glück­li­chen Jagd­sai­son er­war­ten darf. Eine Schar zor­ni­ger Men­schen, Pul­ler, Steue­rer und Jä­ger klet­ter­te über die Re­ling. Je­der ein­zel­ne fühl­te sich be­raubt, und die Boo­te wur­den un­ter Flü­chen ein­ge­holt, die Tod Lar­sen in alle Ewig­keit ab­ge­tan ha­ben wür­den, wenn Flü­che wirk­li­che Macht be­sä­ßen. »Tod und Ver­damm­nis für ein Dut­zend Ewig­kei­ten«, er­klär­te Louis und zwin­ker­te mir zu, als er sein Boot hoch­ge­heißt und fest­ge­s­urrt hat­te.

»Hö­ren Sie sie an und sa­gen Sie selbst, ob es schwer ist, den Le­bens­nerv ih­rer See­le her­aus­zu­fin­den«, sag­te Wolf Lar­sen. »Treue und Lie­be? Hohe Idea­le? Das Gute? Das Schö­ne? Das Wah­re?«

»Ihr an­ge­bo­re­ner Rechts­sinn ist ge­kränkt«, misch­te Maud Brewster sich in die Un­ter­hal­tung.

»Sie sind sen­ti­men­tal«, höhn­te er, »eben­so sen­ti­men­tal wie Herr van Wey­den. Die Leu­te flu­chen, weil ihre Wün­sche durch­kreuzt sind. Das ist al­les. Was sie wün­schen? Gu­tes Es­sen und wei­che Bet­ten, wenn sie an Land kom­men und eine gute Löh­nung er­hal­ten – Wei­ber, Suff und Völ­le­rei und das Tier­haf­te, das wahr­lich das Bes­te in ih­nen, ihr höchs­tes Ziel, ihr Ide­al ist. Die Ge­füh­le, die sie zei­gen, sind wahr­haf­tig kein rüh­ren­der An­blick, und doch se­hen wir, wie tief die­se Ge­füh­le ge­hen, denn Hand an ih­ren Beu­tel, heißt Hand an ihre See­le le­gen.«

»Sie be­neh­men sich doch nicht so, als ob es Ihren Beu­tel be­trof­fen hät­te«, mein­te sie lä­chelnd.

»Kann sein, dass ich mich an­ders be­neh­me, denn es hat so­wohl mei­nen Beu­tel wie mei­ne See­le be­trof­fen. Bei den der­zei­ti­gen Fell­prei­sen auf dem Lon­do­ner Markt und ei­ner un­ge­fäh­ren Schät­zung, was wir heu­te Nach­mit­tag ge­fan­gen hät­ten, wenn die ›Ma­ce­do­nia‹ es uns nicht weg­ge­schnappt hät­te, hat die ›Ghost‹ etwa 1500 Dol­lar ein­ge­büßt.«

»Und das sa­gen Sie so ru­hig –«, be­gann sie.

»Aber ich bin nicht ru­hig; ich könn­te den Mann tö­ten, der mich be­raubt hat«, un­ter­brach er sie. »Ja, ja, ich weiß, die­ser Mann ist mein Bru­der – wie­der die alte Sen­ti­men­ta­li­tät! Pah!«

Sein Ge­sicht ver­än­der­te sich plötz­lich. Sei­ne Stim­me klang we­ni­ger barsch und ganz auf­rich­tig, als er jetzt sag­te:

»Ihr müsst glück­lich sein mit eu­rer Sen­ti­men­ta­li­tät, wahr­haft glück­lich, weil ihr vom Gu­ten träumt und das Gute fin­det und des­halb selbst gut seid. Aber sagt, ihr bei­den, fin­det ihr mich gut?«

»Sie sind ge­wis­ser­ma­ßen gut an­zu­schau­en«, ur­teil­te ich. »In Ih­nen lie­gen alle Kräf­te für das Gute«, lau­te­te die Ant­wort Maud Brewsters.

»Da ha­ben wir’s!« rief er är­ger­lich. »Lee­re Wor­te! Euer Ge­dan­ke, den ihr da aus­sprecht, ist un­klar, un­scharf und un­be­stimmt! Es ist in Wirk­lich­keit gar kein Ge­dan­ke. Es ist ein Ge­fühl, eine Emp­fin­dung, auf Il­lu­sio­nen auf­ge­baut, und ent­springt nicht im ge­rings­ten eu­rem In­tel­lekt.«

Wäh­rend er sprach, wur­de sei­ne Stim­me wie­der sanf­ter und ein ver­trau­li­cher Klang kam in sie. »Wis­sen Sie, dass ich mich manch­mal über dem Wunsch er­tap­pe, auch blind für die Tat­sa­chen des Le­bens zu sein und nur sei­ne Fan­tasi­en und Il­lu­sio­nen zu ken­nen. Die sind na­tür­lich falsch, alle falsch und ver­nunfts­wid­rig; aber je­des Mal, wenn ich An­ge­sicht zu An­ge­sicht mit Ih­nen ste­he, sagt mir mei­ne Ver­nunft, dass es doch die größ­te Freu­de sein muss, zu träu­men und in Il­lu­sio­nen zu le­ben, und wenn sie noch so falsch sind! Und al­les in al­lem ist die Freu­de ja doch der Lohn des Le­bens. Ohne Freu­de ist das Le­ben wert­lo­ses Tun. Ar­bei­ten und le­ben ohne Lohn ist schlim­mer als tot sein. Wer der größ­ten Freu­de fä­hig ist, lebt am stärks­ten, und eure Träu­me und Il­lu­sio­nen be­rei­ten euch we­ni­ger Un­ru­he und be­frie­di­gen euch mehr als mei­ne Tat­sa­chen.«

Er schüt­tel­te nach­denk­lich den Kopf.

»Ich zweifle oft, zweifle an dem Wer­te der Ver­nunft. Träu­me müs­sen wirk­li­cher und be­frie­di­gen­der sein. Ge­fühls­mä­ßi­ge Freu­de er­füllt mehr und währt län­ger als ver­stan­des­mä­ßi­ge. Ich be­nei­de Sie, be­nei­de Sie!« Er schwieg, und sein Blick wan­der­te ab­we­send über sie hin und ver­lor sich auf dem ru­hi­gen Mee­re. Die alte ein­ge­fleisch­te Schwer­mut senk­te sich wie­der über ihn, und er über­ließ sich ihr wi­der­stands­los. Er hat­te sich in eine Art Kat­zen­jam­mer hin­ein­ge­re­det, und wir konn­ten si­cher sein, dass in we­ni­gen Stun­den der Teu­fel in ihm wach wur­de.

Žanrid ja sildid
Vanusepiirang:
18+
Objętość:
5251 lk 2 illustratsiooni
ISBN:
9783962813475
Õiguste omanik:
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