Günstige Winde trieben die ›Ghost‹ schnell nordwärts in die Robbengründe. Wir trafen die Herden auf dem 44. Breitengrad in einer rauen, stürmischen See, über die der Wind die Nebelbänke in wilder Flucht hetzte. Tagelang konnten wir nicht die Sonne sehen und Beobachtungen machen. Dann aber fegte der Wind die Oberfläche des Ozeans rein, die Wellen kräuselten sich schimmernd, und wir konnten feststellen, wo wir waren. Ein klarer Tag, auch drei oder vier konnten folgen, dann senkte sich der Nebel wieder auf uns herab, anscheinend dichter als je.
Die Jagd war gefährlich, aber dennoch wurden die Boote Tag für Tag hinuntergelassen, von der grauen Finsternis verschlungen und erst bei herabsinkender Nacht, ja oft erst viel später wiedergesehen. Wie Seegespenster huschten sie dann eines nach dem anderen aus dem Grau hervor. Wainwright – der Jäger, den Wolf Larsen mit Boot und Mannschaft gestohlen hatte – benutzte den Nebel, um zu entwischen. Er verschwand eines Morgens mit seinen beiden Leuten in den kreisenden Schwaden, und wir sahen sie nie wieder. Nach einigen Tagen erfuhren wir jedoch, dass sie von einem Schoner zum anderen gegangen waren, bis sie endlich ihren eigenen wiedergefunden hatten. Das hatte ich selbst schon längst tun wollen, aber es bot sich mir nie eine Gelegenheit. Es war nicht Sache des Steuermanns, mit in die Boote zu gehen, und welche List ich auch anwandte, gab Wolf Larsen mir doch nie die Erlaubnis dazu. Hätte er es getan, so würde ich irgendwie versucht haben, Fräulein Brewster mitzunehmen. Näherten sich die Dinge doch einem Stadium, an das zu denken mir Grauen einflößte. Ich wollte nicht daran denken, aber immer wieder erhob sich der Gedanke wie ein Spukgespenst in meinem Kopfe und wich nicht.
Ich hatte früher Seegeschichten gelesen, in denen die einsame Frau unter einer Schar von Männern als das natürlichste von der Welt vorkam; jetzt aber erfuhr ich, dass ich nie die tiefere Bedeutung dieser Situation erfasst hatte. Und hier stand ich dieser Situation nun Angesicht zu Angesicht gegenüber. Um sie so lebendig wie möglich zu gestalten, brauchte es nur, dass die Frau Maud Brewster war.
Kein größerer Gegensatz als der zwischen ihr und ihrer Umgebung hätte je ersonnen werden können. Sie war zart und ätherisch, geschmeidig und mit leichten, anmutigen Bewegungen. Ich hatte nie das Gefühl, als ob sie schritte, oder es doch wenigstens nach Art gewöhnlicher Sterblicher täte. Eine seltene Leichtigkeit lag über ihr, und sie bewegte sich mit einer unbeschreiblichen Anmut. Näherte sie sich einem, so geschah es wie ein Vogel, der auf geräuschlosen Schwingen herniederschwebte.
Sie war wie ein Gegenstand aus Meißener Porzellan, und ich wurde immer wieder betroffen von einem Eindruck von Zerbrechlichkeit, den sie auf mich machte. Wie damals, als ich ihren Arm ergriffen hatte, um ihr die Kajütstreppe hinunterzuhelfen, war ich jederzeit darauf vorbereitet, sie zerbrechen zu sehen, falls sie zu hart angepackt würde. Nie habe ich eine solche Harmonie zwischen Körper und Geist gesehen. Ihr Körper schien ein Teil ihrer Seele zu sein, schien die gleichen Eigenschaften zu besitzen und an das Leben nur durch die zartesten Ketten gefesselt zu sein. In der Tat: sie trat leicht über diese Erde, und nur ein Geringes von grobem Staube haftete ihr an.
Wolf Larsen bildete einen schreienden Gegensatz zu ihr. Ich beobachtete sie, wie sie eines Morgens zusammen über das Deck schritten, und ich verglich sie als die äußersten Endpunkte der menschlichen Entwicklung – er der Höhepunkt aller Barbarei, sie das vollendetste Produkt höchster Zivilisation. Wahrlich: Wolf Larsen besaß einen ungewöhnlichen Intellekt, aber er benutzte ihn einzig im Dienste seiner wilden Instinkte, was ihn nur umso schrecklicher und wilder machte. Er besaß prachtvolle Muskeln und war athletisch gebaut, aber obwohl er fest und bestimmt auftrat, haftete seinem Schritt keine Schwere an. An Dschungel und Wildnis gemahnten Heben und Senken seines Fußes. Geschmeidig und stark – vor allem stark – war sein Gang wie der einer Katze. Er glich einem großen Tiger, einem tapferen Raubtier. So wirkte er, und in seinen Augen leuchtete zeitweise derselbe durchdringende Glanz auf, den ich in denen eingesperrter Leoparden oder anderer beutesuchender Geschöpfe der Wildnis in ihren Käfigen gesehen hatte.
Sie kamen in die Nähe der Kajütskappe, wo ich stand. Obgleich sie es durch kein äußeres Zeichen verriet, spürte ich doch, dass sie sich in großer Erregung befand. Sie machte irgendeine nichtssagende Bemerkung, blickte mich an und lachte unbekümmert, dann aber sah ich, wie ihre Augen unwillkürlich, wie fasziniert, die seinen suchten; sie senkte sie wieder, aber doch nicht schnell genug, um das Entsetzen, das in ihnen geschrieben stand, zu verbergen.
In seinen Augen sah ich die Ursache ihrer Erregung. Sonst grau, kalt und hart, waren sie jetzt warm, sanft und golden, und es tanzten in ihnen winzige Lichter, die erloschen und schwanden, aber wieder aufflammten, bis sie die Augen ganz mit einem glühenden Leuchten erfüllten. Vielleicht verursachten sie den goldenen Schein. Jedenfalls waren seine Augen golden, verführerisch und herrisch, lockend und zwingend und verliehen einem Befehl, einem Schrei des Blutes Ausdruck, den kein Weib, am wenigsten Maud Brewster, missverstehen konnte.
Ihre Angst steckte mich an, und in diesem Augenblick der Furcht – der entsetzlichsten Furcht, die ein Mann fühlen kann, wusste ich, dass sie mir unsäglich teuer war. Das Bewusstsein, dass ich sie liebte, überkam mich gleichzeitig mit der Angst, und beide Gefühle umkrallten mein Herz und ließen mein Blut gefrieren und zugleich aufrührerisch wallen. Ich fühlte mich von einer fremden Macht bezwungen und wandte mich wider Willen, um in Wolf Larsens Augen zu blicken. Aber jetzt hatte er seine Selbstbeherrschung wiedergefunden. Die goldene Farbe und das schimmernde Licht waren erloschen. Seine Augen funkelten kalt und grau, als er sich jetzt plötzlich mit einer unbeholfenen Bewegung abwandte.
»Ich fürchte mich«, flüsterte sie schaudernd, »ich fürchte mich so.«
Auch ich fürchtete mich und befand mich in starker Erregung über die Entdeckung, die ich gemacht hatte, aber es gelang mir, gelassen zu antworten:
»Es wird schon alles gut werden, Fräulein Brewster. Glauben Sie mir, es wird alles gut werden.«
Sie antwortete mit einem kleinen dankbaren Lächeln, das mein Herz klopfen ließ, und ging dann die Kajütstreppe hinunter.
Lange blieb ich dort stehen, wo sie mich verlassen hatte. Es war eine zwingende Notwendigkeit für mich, mich zu besinnen und mir klar darüber zu werden, welche Wendung die Dinge genommen hatten. Jetzt endlich war sie gekommen, die Liebe, war zu mir gekommen, nun, da ich es am wenigsten erwartet hatte, und unter den schwierigsten Verhältnissen.
Maud Brewster! Meine Erinnerung flog zurück zu dem ersten dünnen Bändchen auf meinem Schreibtisch, und ich sah zum Greifen deutlich die ganze Reihe schmaler Bändchen auf meinem Bücherbrett vor mir. Mit welcher Freude hatte ich jedes von ihnen begrüßt! Alljährlich war eines von ihnen erschienen, und jedes Mal war es das Ereignis des Jahres für mich gewesen. Sie hatten eine verwandte Saite in meinem Geiste angeschlagen, und in diesem Sinne hatte ich sie kameradschaftlich begrüßt; aber jetzt hatten sie ihren Platz in meinem Herzen gefunden.
Und dann kehrte mein Geist – ungereimt und sinnlos – zu einer kleinen biografischen Bemerkung in dem roten Bande ›Wer ist’s?‹ zurück. ›Sie ist in Cambridge geboren und 27 Jahre alt.‹ Und ich sagte mir: ›27 Jahre alt und doch noch frei?‹ Wie konnte ich wissen, ob sie noch frei war? Und der Stich neugeborener Eifersucht jagte allen Zweifel in die Flucht. Nein, es war sicher. Ich war eifersüchtig, also war ich verliebt. Und die, die ich liebte, war Maud Brewster. Obgleich ich stets von Frauen umgeben gewesen, hatte ich sie nur rein ästhetisch betrachtet, weiter nichts. Ich hatte wirklich manchmal geglaubt, dass die Regel keine Geltung auf mich hätte, dass ich ein Einsiedler wäre, dem das Glück der Liebe versagt sei. Und nun war es doch gekommen! In einer Art Ekstase verließ ich meinen Platz an der Kajütskappe und schritt über das Deck, indem ich die wundervollen Verse Elisabeth Brownings murmelte:
»Traumbilder waren viele Jahre lang
Genossen statt der Frau’n und Männer mir;
Die besten Kameraden seid doch ihr.
Kein süßer Lied ein andrer je mir sang.«
Jetzt aber erklang das süßere Lied in meinen Ohren, und ich war blind und taub für alles um mich her. Die scharfe Stimme Wolf Larsens rüttelte mich auf. »Zum Donnerwetter, was treiben Sie?«
Ich war nach vorn geschritten, wo die Matrosen mit Anstreichen beschäftigt waren, und bemerkte jetzt, dass ich mit dem Fuße fast einen Farbentopf umgestoßen hätte.
»Schlafwandeln, Sonnenstich – wie?« brummte er.
»Nein, Verdauungsstörung«, erwiderte ich und ging weiter, als ob mir nichts Ungewöhnliches begegnet wäre.
Zu den stärksten Eindrücken meines Lebens gehören die Ereignisse auf der ›Ghost‹ in den vierzig Stunden, die der Entdeckung meiner Liebe zu Maud Brewster folgten. Nach einem stillen, geruhigen Leben war ich mit 35 Jahren in eine Reihe der unwahrscheinlichsten Abenteuer verwickelt worden, die ich mir je hatte träumen lassen, aber nie habe ich so viele und so spannende Erlebnisse gehabt wie in diesen vierzig Stunden. Und auch heute noch kann ich meine Ohren nicht ganz der leisen Stimme des Stolzes verschließen, die mir zuflüstert, dass ich, alles in allem, nicht übel dabei abgeschnitten habe.
Das erste war, dass Wolf Larsen den Jägern beim Mittagessen mitteilte, sie sollten in Zukunft im Zwischendeck essen. Das war etwas ganz Unerhörtes auf Robbenschonern, wo die Jäger stets Offiziersrang bekleiden. Er gab keine Gründe an, sie waren aber klar genug. Horner und Smoke hatten angefangen, Maud Brewster den Hof zu machen; es war dies an und für sich nur lächerlich und durchaus nicht beleidigend für Fräulein Brewster, aber es störte Wolf Larsen offenbar.
Die Ankündigung wurde mit tiefem Schweigen entgegengenommen, wenn auch die vier anderen Jäger bedeutungsvoll auf die beiden Schuldigen blickten. Jock Horner verzog, seiner ruhigen Art gemäß, keine Miene. Aber Smoke stieg das Blut zu Kopfe, und er öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Wolf Larsen beobachtete ihn abwartend, den stahlharten Schimmer in den Augen, aber Smoke schloss wortlos wieder den Mund. »Wünschen Sie etwas?« fragte der Kapitän angriffslustig.
Das war eine Herausforderung, aber Smoke tat, als verstände er sie nicht.
»Was denn?« fragte er so unschuldig, dass Wolf Larsen aus der Fassung gebracht wurde, während die anderen lächelten.
»Ach nichts«, sagte Wolf Larsen friedlich. »Ich dachte nur, Sie wollten gern eine ’runtergelangt haben.«
»Wofür?« fragte der unerschütterliche Smoke.
Jetzt lächelten Smokes Kameraden ganz unverhohlen. Der Kapitän hätte ihn töten mögen, und ich bin überzeugt, dass Blut geflossen sein würde, wenn Maud Brewster nicht dabeigewesen wäre. Ihre Anwesenheit hatte denn auch Smoke ermutigt. Er war zu vorsichtig, als dass er Wolf Larsens Zorn zu einem Zeitpunkt herausgefordert hätte, da dieser Zorn sich stärker als in Worten hätte äußern können. Ich fürchtete dennoch, dass es zum Kampfe kommen sollte, aber da ertönte ein Ruf vom Rudergast, der die Situation rettete.
»Rauch ahoi!« klang es die Kajütstreppe herab.
»Welche Richtung?« rief Wolf Larsen hinauf.
»Gerade achtern.«
»Vielleicht ein Russe«, meinte Latimer.
Bei seinen Worten zeigte sich Schrecken auf den Gesichtern der anderen Jäger. Ein Russe konnte nur eins bedeuten: einen Kreuzer. Die Jäger hatten zwar nur eine annähernde Vorstellung, wo wir uns befanden, aber sie wussten doch, dass wir nicht weit von der Grenze des verbotenen Territoriums sein konnten, und alle kannten Wolf Larsens Ruf als Wilderer. Alle Augen richteten sich auf ihn.
»Wir sind vollkommen sicher«, beruhigte er sie lachend. »Diesmal gibt’s keine Salzminen, Smoke. Aber ich will euch etwas sagen: ich will fünf gegen eins wetten, dass es die ›Macedonia‹ ist.«
Als keiner die Wette annahm, fuhr er fort: »Und wenn das stimmt, wette ich zehn gegen eins, dass wir Scherereien kriegen.«
»Nein, ich danke«, sagte Latimer freimütig. »Ich habe nichts dagegen, mein Geld zu verlieren, aber ich will wenigstens das Pferd laufen sehen. Es ist noch nie ohne Scherereien abgegangen, wenn Sie mit Ihrem Bruder zusammengetroffen sind, und ich will selbst zwanzig gegen eins darauf wetten.«
Seine Worte erregten allgemeine Heiterkeit, in die auch Wolf Larsen einstimmte, und die Mahlzeit verlief friedlich, obwohl er mich die ganze Zeit niederträchtig behandelte, mich höhnte und reizte, bis ich vor unterdrückter Wut zitterte. Aber ich wusste, dass ich mich um Maud Brewsters willen beherrschen musste, und ich wurde belohnt, als ich einen ihrer Blicke erhaschte, der deutlicher als alle Worte sprach: ›Verlier den Mut nicht!‹
Wir standen von Tische auf und gingen an Deck, denn ein Dampfer war eine willkommene Unterbrechung des eintönigen Lebens auf See, und die Überzeugung, dass es Tod Larsen und die ›Macedonia‹ waren, vermehrte unsere Aufregung. Die steife Brise und die schwere See vom vergangenen Nachmittage hatten sich am Morgen etwas beruhigt, sodass es jetzt möglich war, die Boote hinabzulassen und zu jagen. Die Jagd versprach gut zu werden. Wir waren den ganzen Vormittag zwischen vereinzelten Robben hindurchgesegelt und liefen jetzt mitten in die Herde hinein.
Der Rauch war noch mehrere Meilen achternaus, näherte sich aber schnell, als wir die Boote hinabließen. Sie trennten sich und fuhren in nördlicher Richtung über das Meer. Hin und wieder sahen wir ein Segel niedergehen, hörten die Büchsen knallen und sahen die Segel wieder hochgehen. Es wimmelte von Robben. Der Wind legte sich ganz; alles schien einen großen Fang zu verkünden. Als wir ausliefen, um in Lee der Boote zu kommen, sahen wir, dass das Meer mit schlafenden Robben bedeckt war. Sie lagen da zu zweit, zu dritt, in ganzen Haufen, dichter, als ich sie je vorher gesehen, der Länge nach auf der Oberfläche ausgestreckt und fest schlafend, so sicher wie eine Schar träger junger Hunde.
Unter dem näherkommenden Rauche wurden jetzt Rumpf und Aufbau des Dampfers sichtbar. Es war die ›Macedonia‹. Ich las den Namen durch das Glas, als das Schiff uns, kaum eine Meile steuerbord, passierte. Wolf Larsen warf wilde Blicke auf den Dampfer, und Maud Brewster wurde neugierig.
»Was für Scherereien denken Sie zu bekommen, Kapitän?« fragte sie heiter.
Er blickte sie an, und ein freundlicher Blick huschte über seine Züge.
»Ja, was meinen Sie? Dass sie an Bord kommen und uns die Kehlen abschnitten?«
»Ja, etwas Derartiges«, gestand sie. »Die Robbenjäger sind ja etwas so Fremdes für mich, dass ich beinahe auf alles gefasst bin.«
Er nickte. »Ganz recht, ganz recht. Sie haben sich nur geirrt, wenn Sie nicht das Schlimmste erwarteten.«
»Was kann denn noch schlimmer sein, als wenn einem die Kehle abgeschnitten wird?« fragte sie überrascht und mit kleidsamer Naivität.
»Wenn einem der Geldbeutel abgeschnitten wird«, antwortete er. »Die Menschen sind heutzutage so eingerichtet, dass ihre Lebensfähigkeit durch den Inhalt ihres Geldbeutels bestimmt wird.«
»Wer mir den Geldbeutel stiehlt, stiehlt wertlosen Plunder«, zitierte sie.
»Wer mir den Geldbeutel stiehlt, stiehlt mir das Recht, zu leben«, lautete seine Antwort. »Trotz aller Sprichwörter! Denn wer mir mein Geld stiehlt, stiehlt mir mein Brot, mein Fleisch, mein Bett und gefährdet daher mein Leben.«
»Aber ich kann nicht einsehen, wieso der Dampfer irgendwelche Absichten auf Ihren Geldbeutel haben sollte.«
»Warten Sie nur ab, dann werden Sie es schon sehen«, erwiderte er grimmig.
Wir brauchten nicht lange zu warten. Als die ›Macedonia‹ mehrere Meilen jenseits unserer Bootslinie war, begann sie, Boote auszusetzen. Wir wussten, dass sie vierzehn gegen unsere fünf hatte (eines war uns durch die Flucht Wainwrights abhanden gekommen), und sie begann damit weit in Lee unseres äußersten Bootes, kreuzte unsern Kurs und endete weit in Luv unseres ersten Luvbootes. Damit war die Jagd für uns verdorben. Hinter uns gab es keine Robben, und vor uns fegte die Linie der vierzehn Boote wie ein ungeheurer Besen die Herde vor sich hin.
Unsere Boote jagten über die paar Meilen zwischen der ›Macedonia‹ und ihren Booten und gingen dann zurück. Der Wind flüsterte nur noch leise, das Meer wurde immer ruhiger, und alles dies im Verein mit der großen Robbenherde machte den Tag zur Jagd wie geschaffen – es war einer der zwei oder drei ganz besonders bevorzugten Tage, die man in einer glücklichen Jagdsaison erwarten darf. Eine Schar zorniger Menschen, Puller, Steuerer und Jäger kletterte über die Reling. Jeder einzelne fühlte sich beraubt, und die Boote wurden unter Flüchen eingeholt, die Tod Larsen in alle Ewigkeit abgetan haben würden, wenn Flüche wirkliche Macht besäßen. »Tod und Verdammnis für ein Dutzend Ewigkeiten«, erklärte Louis und zwinkerte mir zu, als er sein Boot hochgeheißt und festgesurrt hatte.
»Hören Sie sie an und sagen Sie selbst, ob es schwer ist, den Lebensnerv ihrer Seele herauszufinden«, sagte Wolf Larsen. »Treue und Liebe? Hohe Ideale? Das Gute? Das Schöne? Das Wahre?«
»Ihr angeborener Rechtssinn ist gekränkt«, mischte Maud Brewster sich in die Unterhaltung.
»Sie sind sentimental«, höhnte er, »ebenso sentimental wie Herr van Weyden. Die Leute fluchen, weil ihre Wünsche durchkreuzt sind. Das ist alles. Was sie wünschen? Gutes Essen und weiche Betten, wenn sie an Land kommen und eine gute Löhnung erhalten – Weiber, Suff und Völlerei und das Tierhafte, das wahrlich das Beste in ihnen, ihr höchstes Ziel, ihr Ideal ist. Die Gefühle, die sie zeigen, sind wahrhaftig kein rührender Anblick, und doch sehen wir, wie tief diese Gefühle gehen, denn Hand an ihren Beutel, heißt Hand an ihre Seele legen.«
»Sie benehmen sich doch nicht so, als ob es Ihren Beutel betroffen hätte«, meinte sie lächelnd.
»Kann sein, dass ich mich anders benehme, denn es hat sowohl meinen Beutel wie meine Seele betroffen. Bei den derzeitigen Fellpreisen auf dem Londoner Markt und einer ungefähren Schätzung, was wir heute Nachmittag gefangen hätten, wenn die ›Macedonia‹ es uns nicht weggeschnappt hätte, hat die ›Ghost‹ etwa 1500 Dollar eingebüßt.«
»Und das sagen Sie so ruhig –«, begann sie.
»Aber ich bin nicht ruhig; ich könnte den Mann töten, der mich beraubt hat«, unterbrach er sie. »Ja, ja, ich weiß, dieser Mann ist mein Bruder – wieder die alte Sentimentalität! Pah!«
Sein Gesicht veränderte sich plötzlich. Seine Stimme klang weniger barsch und ganz aufrichtig, als er jetzt sagte:
»Ihr müsst glücklich sein mit eurer Sentimentalität, wahrhaft glücklich, weil ihr vom Guten träumt und das Gute findet und deshalb selbst gut seid. Aber sagt, ihr beiden, findet ihr mich gut?«
»Sie sind gewissermaßen gut anzuschauen«, urteilte ich. »In Ihnen liegen alle Kräfte für das Gute«, lautete die Antwort Maud Brewsters.
»Da haben wir’s!« rief er ärgerlich. »Leere Worte! Euer Gedanke, den ihr da aussprecht, ist unklar, unscharf und unbestimmt! Es ist in Wirklichkeit gar kein Gedanke. Es ist ein Gefühl, eine Empfindung, auf Illusionen aufgebaut, und entspringt nicht im geringsten eurem Intellekt.«
Während er sprach, wurde seine Stimme wieder sanfter und ein vertraulicher Klang kam in sie. »Wissen Sie, dass ich mich manchmal über dem Wunsch ertappe, auch blind für die Tatsachen des Lebens zu sein und nur seine Fantasien und Illusionen zu kennen. Die sind natürlich falsch, alle falsch und vernunftswidrig; aber jedes Mal, wenn ich Angesicht zu Angesicht mit Ihnen stehe, sagt mir meine Vernunft, dass es doch die größte Freude sein muss, zu träumen und in Illusionen zu leben, und wenn sie noch so falsch sind! Und alles in allem ist die Freude ja doch der Lohn des Lebens. Ohne Freude ist das Leben wertloses Tun. Arbeiten und leben ohne Lohn ist schlimmer als tot sein. Wer der größten Freude fähig ist, lebt am stärksten, und eure Träume und Illusionen bereiten euch weniger Unruhe und befriedigen euch mehr als meine Tatsachen.«
Er schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Ich zweifle oft, zweifle an dem Werte der Vernunft. Träume müssen wirklicher und befriedigender sein. Gefühlsmäßige Freude erfüllt mehr und währt länger als verstandesmäßige. Ich beneide Sie, beneide Sie!« Er schwieg, und sein Blick wanderte abwesend über sie hin und verlor sich auf dem ruhigen Meere. Die alte eingefleischte Schwermut senkte sich wieder über ihn, und er überließ sich ihr widerstandslos. Er hatte sich in eine Art Katzenjammer hineingeredet, und wir konnten sicher sein, dass in wenigen Stunden der Teufel in ihm wach wurde.