Djorgian

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Jacqueline Esch

Djorgian

Der Stein der Seelen

Roman

Kalidor-Verlag

Jacqueline Esch

Djorgian – Der Stein der Seelen

ISBN ePub 978-3-937817-16-3

ISBN Mobi 978-3-937817-18-7

E-Book, überarbeitete Auflage, 2014

Copyright Kalidor-Verlag, C. Fanselow

12529 Schönefeld OT Großziethen

© Alle Rechte vorbehalten

www.kalidor-verlag.de

1. Kapitel

Vor Entsetzen war ihre Kehle wie zugeschnürt. Dieses schreckliche Gefühl, schreien zu wollen und es doch nicht zu können. Gehetzt sah sie sich um. Schwarzer Wald. Ein Wald, der nicht lebte und aus dem kein Laut drang. Wohin sollte sie? In welche Richtung? Es wurde kälter. Entsetzlich kälter. Er war nicht mehr weit. Sie konnte seine Nähe spüren. Blindlings lief sie weiter. Weg, nur weg von diesem schrecklichen Ort! Ihr Atem gefror hinter ihr zu grauen, harmlos scheinenden Wölkchen. Und dann stand er vor ihr. Abrupt blieb sie stehen. Starr vor Angst glaubte sie, unter seinen Blicken sterben zu müssen. Und langsam, ganz langsam streckte er seine Arme nach ihr aus.

Mit einem Schrei erwachte sie. Ihr Herz raste und feine Schweißperlen bedeckten ihre Stirn. Ein Traum. Mit einem Seufzer ließ sie sich zurück in ihr Bett fallen.

»Judi? Was ist denn los?« Kathrin war wach geworden. »Judi?«

»Es war nur ein Alptraum.« Ein Rascheln verriet ihr, daß Kathrin aufgestanden war, und Sekunden später schloß Judi geblendet die Augen.

»Mach das Licht wieder aus! Es war wirklich nur ein Alptraum.« Als sie die Augen wieder öffnete, blickte sie auf einen schmatzenden Mund.

»Willst du Schokolade? Das beruhigt voll gut. Oder soll ich Herrn Mike holen? Dann kannst du mit ihm über deinen Traum reden. Manchmal bedeuten sie ja was und …«

»Halt die Klappe und schlaf!«, unterbrach Judi sie.

Ein bißchen beleidigt schaltete ihre Freundin das Licht wieder aus und kletterte in ihr Bett zurück. Das Schmatzen hörte aber nicht auf.

Judi zog die Decke über den Kopf und versuchte wieder einzuschlafen, was ihr natürlich nicht gelang. Und das lag nicht nur an dem Geschmatze von Kathrin. Was, wenn ihr Traum wirklich etwas bedeutete? Und was, wenn sie ihn weiterträumen sollte, wenn sie es tatsächlich schaffte, wieder einzuschlafen?

»Was hast du denn geträumt?«

Da Judi im Moment sowieso nicht mehr einschlafen konnte, erzählte sie es ihr.

»Hatte diese Gestalt zufällig einen ekelhaften roten Pulli und eine nagelneue olivgrüne Cordhose wie Herr Fischer an?« Beide mußten kichern.

»Wieviel Uhr?«, fragte Judi.

»In zwei Stunden müssen wir aufstehen. Schlaf jetzt!«, schmatzte Kathrin. Nach ein paar Minuten war sie eingeschlafen.

Judi lag noch lange wach und lauschte den gleichmäßigen Atemzügen ihrer Freundin. Dann war auch sie eingeschlafen.

Der Morgen verlief wie die vorherigen drei auch. Zuerst klingelte der Wecker von Kathrin (allerdings vergebens), und anschließend klopfte es energisch an die Zimmertür. Träge öffnete Judi die Augen. Sie fühlte sich überhaupt nicht ausgeschlafen.

»Sollen wir warten, bis Herr Fischer reinkommt und uns aus den Betten schmeißt oder stehen wir jetzt schon auf?«, fragte Kathrin.

Ohne ein Wort kroch Judi unter ihrer Decke vor und stieg die Leiter des Hochbetts hinunter. Es dauerte eine Weile, bis sie ihre Klamotten in ihrem Schrank gefunden hatte, was ganz einfach daran lag, daß Kathrin ihn sofort am ersten Tag seit ihrer Ankunft in der Jugendherberge in eine Vorratskammer umgewandelt hatte. Jetzt lagen Chipstüten zwischen ihren Hosen und Schokoladentafeln in allen Sorten über ihren Pullis.

Judi hatte Kathrin schon ein paarmal darauf hingewiesen, aber diese hatte es entweder gar nicht beachtet oder nur mit einem Schulterzucken beantwortet. Sie hatte schon mit dem Gedanken gespielt, das ganze Zeug einfach auf das Bett ihrer verfressenen Freundin zu häufen, aber das hätte hundertprozentig mit einem Streit geendet, und darauf hatte sie keine Lust. Seufzend kramte sie ihren Pulli unter Kathrins Schokoladentafeln hervor und anschließend ihre Hose.

»Seid ihr wach?«, fragte Herr Fischer durch die Tür.

»Ja. Was unternehmen wir heute?«, fragte Kathrin.

»Wird beim Frühstück besprochen. Beeilt euch, sonst bekommt ihr keine Plätze mehr«, erwiderte der Lehrer. Jetzt stieg auch Kathrin aus ihrem Bett und schlurfte zu ihrem Schrank.

Sie kamen ausnahmsweise nicht als letzte im Speisesaal an und setzten sich auf ihre gewohnten Plätze. Herr Fischer hatte ziemlich übertrieben, was die Sache mit den Plätzen anging. Der Raum war ohnehin schon viel zu groß für ihre Klasse, und Plätze fehlten erst recht nicht, aber das schien einer von Herrn Fischers Lieblingssätzen geworden zu sein, seit sie vor drei Tagen hier angekommen waren. Als auch die letzten Schüler am Tisch saßen, wurden Brötchen und Butter verteilt, und was sonst noch so zu einem Frühstück gehörte.

Eigentlich hatte Judi gar keinen Hunger, aber sie würgte ihr Brötchen trotzdem herunter, allein um der Predigt ihres Klassenlehrers zu entgehen, wie wichtig doch das Frühstück sei. Den Tee lehnte sie aber ab, worauf Herr Fischer Gott sei Dank nur ein wenig tadelnd dreinblickte.

Kathrin schien sich die Vorträge, wie wichtig doch das Frühstück sei, allerdings sehr zu Herzen zu nehmen. Auf ihrem Teller lagen alle möglichen Wurst- und Käsesorten, und drei Brötchen hatte sie um ihren Teller platziert (das vierte befand sich schon in ihrem Magen). Ein Schälchen mit Müsli und ein weiteres voller Joghurt standen auch noch bereit.

Schließlich stand der Lehrer auf und verkündete laut: »Heute gehen wir in einen großen Wald, der ganz in der Nähe liegt.« Wie immer wurde dies mit allgemeinem Stöhnen erwidert.

»Ruhe! Wenn jemand hier bleiben will, kann er es mir ja sagen, und er schreibt. Wir werden den ganzen Mittag dort bleiben. Der Wald ist wirklich groß, und ich werde Arbeitsblätter verteilen, in die jeder eintragen muß, was er für Tier- und Baumarten gesehen hat. Ruhe! Um elf Uhr geht es los.«

Judi räumte ihr Geschirr zusammen. Ein Waldspaziergang. Toll!

Kathrin neben ihr verdrehte die Augen. »Na, wenigstens haben wir noch zwei Stunden Zeit, um uns auf diesen tollen Waldspaziergang vorzubereiten. Das geht ja noch, aber die Sache mit den Arbeitsblättern hätte er ja wohl streichen können.«

Da war Judi ganz ihrer Meinung. Als Herr Fischer das bekannte Haut-ab-Handzeichen gab, verschwanden wieder alle in ihren Zimmern.

Judi kletterte in ihr Bett und schloß die Augen.

»Was machst du jetzt?«, nuschelte Kathrin, die sich ein Bonbon in den Mund gesteckt hatte.

»Rumlaufen.« Mit diesen Worten kletterte sie wieder von ihrem Hochbett herunter und schlenderte durch die Tür.

Kathrin blieb im Zimmer und versuchte die Unordnung in ihrer provisorischen Vorratskammer zu beseitigen.

Judi wendete sich Richtung Ausgang. Kurz vor der Tür kam ihr Bianka entgegen, die sie mit spöttischem Blick musterte. Judi achtete schon gar nicht mehr darauf und ging durch die Tür, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Blöde Kuh! Meint, sie sei die Beste von allen!

Draußen war es noch kühl. Der Tau lag noch auf dem Gras und ließ es wie gefroren aussehen. Geradewegs steuerte sie auf eine alte Bank zu und hockte sich hin. Auch die Bank war noch naß vom Tau. Die Knie mit ihren Händen umschlingend saß sie lange einfach nur da und lauschte dem Wind, aber mit der Zeit wurde es ihr unbehaglich, als würde sie beobachtet werden. Hastig drehte sie sich um, aber weit und breit war niemand zu sehen. War das Kathrin? Judi stand auf und ging ein paar Schritte auf die wenigen Bäume zu, die vor der Jugendherberge standen.

»Kathrin?« Keine Antwort. Zögernd ging sie weiter auf die Bäume zu und sah sich um. Niemand war da. Judi ärgerte sich über sich selbst. Was hatte sie erwartet? Etwa, daß jemand dort stand und sie wirklich beobachtete? Quatsch!

Kopfschüttelnd drehte sie sich um. Doch für einen kurzen Moment stand vor ihr nicht mehr die Jugendherberge, sondern ein großer schwarzer Wald, und dann war er wieder verschwunden. Fassungslos starrte Judi die alten Mauern an. Was war das? Nein, das hatte sie sich nur eingebildet! Vor ihr stand eine ganz gewöhnliche Jugendherberge mit nur einem Eingang und viel zu wenig Fenstern. Kein Wald!

Schnell betrat Judi wieder das Innere des Hauses und war ebenso schnell wieder in ihrem Zimmer. Kathrin war noch immer dabei, ihre Vorratskammer auf Vordermann zu bringen, aber darauf achtete sie gar nicht. Ihre Gedanken rasten. Was war das eben gewesen?

»Judi, was ist denn mit dir los? Hast du’n Gespenst gesehen? Du bist ganz blaß!«

Judi sah in den Spiegel an der gegenüberliegenden Wand. Ja, sie war wirklich blaß.

»Hast du eben ein komisches Gefühl gehabt? Als wärst du für einen Augenblick woanders gewesen?«, fragte Judi.

»Hä? Nee. Was redest du da?«

»Schon gut. Ich hab nur nachgedacht.«

»Ach ja. Und davon wird man neuerdings käseweiß im Gesicht«, erwiderte Kathrin mißtrauisch.

Judi antwortete nicht und kletterte wieder in ihr Bett. Aber wenn sie geglaubt hatte, Kathrin gäbe sich damit zufrieden, hatte sie sich geirrt.

»Was meinst du damit, ob ich ein Gefühl gehabt hätte, als ob ich einen Moment nicht hier gewesen wäre? Was ist los mit dir? Du hast mir doch sonst immer alles erzählt.«

Judi antwortete immer noch nicht. Ihre Freundin würde ihr entweder gar nicht glauben oder sie für verrückt erklären.

»Jetzt sag schon. Ich hatte nicht so ein Gefühl. Ich habe nur gemerkt, daß du mein ganzes Essen im Schrank durcheinander gebracht hast. Ich hatte alles so schön sortiert …«, meinte Kathrin vorwurfsvoll.

 

»Das ist ja auch keine Vorratskammer sondern ein Kleiderschrank. Ich darf ja wohl noch an meine Klamotten! Das ist schließlich mein Schrank, und du hast deinen eigenen! Jetzt nerv nicht und räum deinen Krempel da raus!« Sie wußte, daß sie Kathrin damit weh getan hatte, aber sie wollte jetzt nicht reden.

Katrin verließ beleidigt das Zimmer. Jetzt war Judi allein, aber das half auch nicht weiter. War das draußen nicht der Wald aus ihrem Traum gewesen? Es ließ ihr keine Ruhe, was selbstverständlich war, denn wer glaubt schon an Visionen, geschweige denn hat eine?

Was sollte sie jetzt machen? Noch einmal zu den Bäumen gehen? Nein. Auf gar keinen Fall. Es doch Kathrin sagen? Das ging auch nicht. Die würde sie die nächsten zwei Stunden bestimmt nicht mehr für voll nehmen. Oder Herrn Fischer? Bloß nicht! Es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten. Aber worauf?

Mit einem Seufzer stand Judi auf und kletterte nun schon zum x-ten Mal die Leiter von ihrem Hochbett hinunter. Tolle Klassenfahrt!

Sie sah auf die Uhr. Es war erst eine halbe Stunde vergangen. Also würde es noch lange bis zur Waldwanderung dauern. In Gedanken versunken schlenderte sie durch den Flur. Aus den anderen Zimmern kam laute Musik und Gelächter. Einige Türen standen offen, und sie konnte dahinter heilloses Durcheinander sehen. Da sah das Zimmer von Kathrin und ihr ja noch harmlos aus!

Als sie stehen blieb, stellte sie fest, daß sie schon wieder vor der Eingangstür stand. Sollte sie doch noch einmal zu den Bäumen gehen? Kurzerhand öffnete sie die Tür und ging noch einmal auf die alte Bank zu. Die Sonne hatte es noch nicht geschafft, den Tau, der noch gut sichtbar auf dem alten Holz haftete, zu beseitigen. Fassungslos starrte sie die Oberfläche der Bank an. Sie hatte sich doch eben noch darauf gehockt, aber kein einziger Fußabdruck war im Tau auf der Bank zu erkennen! Das Holz der Sitzfläche war unberührt.

»Was starrst du die Bank so an?«

Erschrocken drehte Judi sich um. Herr Fischer war, ohne daß sie es gemerkt hatte, aus der Jugendherberge gekommen. Jetzt stand er da, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und blickte sie fragend an.

»Ach nichts. Ich … einfach nur so. Der Tau sah von weitem so schön aus, und ich habe überlegt, ob ich meine Fotokamera hole und das fotografiere.«

Wenn Herr Fischer ihr das glaubte, mußte er sie entweder für bekloppt halten oder er glaubte einfach alles. Aber er ging nicht weiter darauf ein und fragte: »Wo ist Kathrin? Ihr seid doch sonst immer zusammen, wenn man euch sieht.«

Judi sah zur Seite. »Na ja … wir haben uns gestritten. Sie ist weggerannt. Ich weiß nicht, wohin.«

»Worüber habt ihr euch denn gestritten? Ach, ich bin zu neugierig. Das geht mich natürlich nichts an. Ich gehe in mein Zimmer. Wenn du doch darüber reden willst …«

Herr Fischer wartete wohl auf eine Antwort, aber diese gab Judi ihm nicht. Das ging ihn wirklich nichts an. Schließlich zuckte der Lehrer mit den Schultern und ging in die Herberge zurück.

Judi mußte sich irgendwie ablenken. Sie ging jetzt schon zum dritten Mal in ihr Zimmer zurück. Kathrin war immer noch nicht da. Eine Weile kramte Judi in ihrer Reisetasche herum, bis sie das gefunden hatte, was sie suchte: ein dickes, spannendes Buch, welches sie zum fünfzehnten Geburtstag vor drei Wochen bekommen hatte. Das Lesen würde sie ablenken, und dann verging auch die Zeit schneller.

Sie hockte sich vor die Heizung und begann zu lesen. Zehn Seiten später begannen die Buchstaben vor ihren Augen zu verschwimmen. Sie seufzte und begann von neuem, aber die Schrift hatte sich irgendwie verändert.

›Er ist schon eine ganze Weile dort unten. Er braucht Hilfe. Hilf ihm! Beeil dich! Er ist der einzige, der das Geheimnis kennt. Wenn er stirbt, sind wir verloren! Judi, hilf ihm!‹

Mit einem Schrei warf Judi das Buch aus der Zimmertür. Sie zitterte am ganzen Körper. Was war denn das schon wieder?

Eine ganze Zeit lang kauerte sie am Boden und starrte das Buch an, das im Flur lag. Wie sie so da saß, klärten sich ihre Gedanken auch wieder. Das konnte nicht sein. Es mußte eine logische Erklärung geben! Es konnte doch nicht sein … aber natürlich! Kathrin! Während sie draußen mit Herrn Fischer geredet hatte, war Kathrin wieder in das Zimmer zurückgekommen und hatte eine Seite in das Buch gelegt, auf die sie diesen Quatsch geschrieben hatte. Jetzt stand sie bestimmt irgendwo und lachte sie heimlich aus. Das war es!

Mit einem Ruck stand Judi wieder auf und näherte sich dem Buch. Sie hob es auf und begann langsam noch einmal zu lesen. Aber von dem, was vorhin dort stand, war nichts mehr zu sehen! Die Geschichte ging ganz normal weiter, und es stand dort nichts mehr von einem Hilferuf. Die Seite mußte wohl herausgefallen sein, als sie es vor lauter Schreck weggeworfen hatte.

Sie suchte den Boden im Flur ab, fand aber keinen Zettel. Auch in ihrem Zimmer war nichts zu sehen. Weder unter dem Schrank noch unterm Bett. Beunruhigt sah Judi auch noch auf den Betten nach, und sogar auf dem Schrank. Aber keine Spur von dem Zettel. Hatte ihn jemand weggenommen, während sie vor der Heizung gehockt hatte? Nein, sie hatte das Buch die ganze Zeit im Auge behalten; also hätte niemand den Zettel unbemerkt wegnehmen können. Verdammt noch mal, was sollte das alles?

Erst dieser Traum, dann steht statt der Jugendherberge ein Wald vor ihr, ihre Spuren auf der Bank sind auf einmal nicht mehr da, und jetzt das mit dem Buch. Wenn sie das irgendwann einmal jemandem erzählen würde, würde sie sich im nächsten Augenblick in der Klapse wiederfinden. Sie verstaute das Buch sorgfältig wieder in ihrer Tasche und schob diese unters Bett.

Vom Flur her kamen plötzlich wütende Schreie. Hastig lief Judi zur Tür und sah in den Flur hinaus. Alle Schüler standen im Kreis und schauten einer Rangelei zu. Zwei Jungen stritten sich schon wieder. Das zweite Mal seit sie hier waren. Herr Fischer war schon dabei, sie auseinander zu zerren. Dann erkannte sie in der hinteren Reihe Kathrin. Sie stand so, daß sie Judi nicht sehen konnte. Sollte sie doch zu ihr gehen? Schließlich war sie es ja gewesen, die den Streit angefangen hatte.

Kathrin nahm ihr die Entscheidung ab und lief schnurstracks auf sie zu. Aber sie schien Judi gar nicht zu beachten und stolzierte mit hoch erhobenem Kopf an ihr vorbei ins Zimmer. Sie wollte gerade schon wieder wegen Kathrins Verhalten ausrasten, riß sich dann aber doch zusammen.

»Kathrin, es tut mir leid! Es sind ein paar komische Sachen passiert, und da wollte ich alleine sein. Ich weiß, ich hätte dich nicht anschnauzen sollen. T’schuldigung …«, sagte Judi zerknirscht.

»Schon gut. Erzählst du es denn jetzt, was du hattest?«

Judi druckste herum. Sollte sie es ihr wirklich erzählen? »Bist du sauer, wenn ich es dir nicht erzähle?«

»Na ja, ich wüßte schon gerne, was los war«, meinte Kathrin.

»Du hältst mich auch ganz bestimmt nicht für verrückt? Und erzählst es auch niemandem?«

»Ehrenwort!« beteuerte Katrin. Also erzählte Judi ihr doch die ganze Geschichte. Kathrin blieb erstaunlicherweise völlig ernst. Als Judi fertig war, runzelte ihre Freundin die Stirn.

»Ich habe keine Seite in dein Buch gelegt. Hab auch keine Ahnung, was das bedeuten soll. Und das ist alles heute morgen passiert?«

»Ja. Ich habe so gehofft, daß du das warst! Und du erzählst es wirklich nicht weiter?«

»Ich schweige wie ein Grab. Weißt du was? Sollen wir uns die Zeit vertreiben und Schach spielen? Dann dauert es nicht mehr so lange, bis wir diesen tollen Waldspaziergang machen«, schlug Kathrin vor. Normalerweise spielte sie genau dieses Spiel nicht so gerne, aber sie wollte wohl Judi und vielleicht auch sich selbst ein wenig ablenken. Aber Judi war nicht nach Schach zumute, und sie verlor jedesmal, deshalb war sie froh, als Herr Fischer ins Zimmer kam und Bescheid gab, daß sie sich fertigmachen sollten.

Draußen herrschte großes Gedränge am Bus, denn jeder wollte einen Platz bekommen. Judi ergatterte gerade noch einen Sitzplatz am Fenster und konnte nur mit Mühe und Not einen Platz für Kathrin freihalten. Während der ganzen Fahrt sagten beide kein Wort. Dafür schienen die anderen sich um so lauter zu unterhalten.

Nach einer Stunde Fahrt hielt der Bus vor einem großen Schild, auf dem kaum noch erkennbar ›Tiere verboten‹ stand, und der Fahrer öffnete zischend die Türen. Draußen war es noch immer nicht wärmer geworden, worauf Judi ihre Jacke überzog. Herr Fischer versuchte verzweifelt, die Klasse zusammen zu trommeln und lief langsam rot an. Da das ein Zeichen für einen kurz bevorstehenden Wutanfall war, machte sie sich zusammen mit Kathrin schleunigst auf den Weg.

Schließlich standen alle in einem Halbkreis um ihn herum, und er erklärte laut: »Wir bilden Zweiergruppen. Stellt euch schon mal zusammen! Die Arbeitsblätter teilt Stefan aus, und wenn es los geht, bleibt bitte auf den Wegen, verstanden?«

Ein Gemurmel, das sich wie ein ›Ja‹ anhörte, ging durch die Reihen der Schüler. Kathrin hatte sich nach vorne gedrängelt und war dabei, sich ein Blatt zu erbeuten.

Judi ging auf Herrn Fischer zu und fragte: »Wann machen wir denn eine Pause? Wir haben doch gar kein richtiges Essen mit.«

»Tiefer im Wald liegt eine Gaststätte. Da bekommen wir was zu essen. Keine Sorge. Der Preis für das Essen ist schon im Klassenfahrtsgeld mit inbegriffen. Jetzt geh und schließe dich den anderen an!«

Kathrin stand bereits am Waldrand und wartete.

»Freu dich, Kati! Wir machen bald eine Pause in einer Gaststätte. Also brauchst du nicht zu verhungern.«

»Da hab ich aber schon vorgesorgt«, antwortete Kathrin grinsend und hob ihren Rucksack vor Judis Nase, den sie bis jetzt noch gar nicht bemerkt hatte.

Sie brauchte gar nicht zu fragen, was da drin sein sollte. Er war hundertprozentig mit Chipstüten vollgestopft. Judi verdrehte die Augen. Wie konnte man nur so verfressen sein?

Vor ihr setzten sich die ersten Schüler in Bewegung. Sie marschierten durch ein großes Holztor in den Wald hinein. Es roch nach frischer Erde und Nadelbäumen. Judi liebte diesen Geruch.

Neben ihr steckte sich Kathrin ihre Discmanhörer in die Ohren und begann zu schreiben: ›Eichhörnchen, Frosch, Ameise, Käfer, Wurm, Eiche, Tanne, Kastanie‹. Von all dem hatten sie zwar bis jetzt nur die Bäume gesehen, aber Judi sagte nichts. Sie fand die Aufgabe genau so langweilig wie ihre Freundin. Schweigend gingen sie weiter. Vor ihr hockte ein Specht auf einem Baum. Sie zog Kathrin die Hörer aus den Ohren und sagte es ihr. Diese kritzelte es auf den Zettel und steckte sich die Hörer wieder in die Ohren. Echt gesprächig, dachte Judi.

Nach einer halben Stunde wurde das Gejammer der anderen, wann sie denn nun endlich eine Pause machen würden, so groß, daß Herr Fischer eine Pause einlegen mußte.

Kathrin schaltete ihren Discman aus, steckte ihn in ihre Tasche zurück, holte tatsächlich eine Chipstüte heraus und begann zu mampfen. Judi setzte sich auf einen der vielen abgesägten, großen Baumstämme und sah sich um. Im Wald war es schön ruhig (abgesehen von dem Gequatsche der anderen), und der Boden war mit Moos bedeckt. Hier und da wuchsen ein paar Blumen und junge Bäume. Sie saß einfach nur da und träumte vor sich hin. Als Herr Fischer das Zeichen zum Weitergehen gab, bekam sie es erst gar nicht mit. Erst als Kathrin mit ihrer Hand vor ihrem Gesicht rumfuchtelte, blickte sie auf und reihte sich zusammen mit Kathrin wieder ein.

Der Weg führte immer tiefer in den Wald hinein und irgendwie kam es Judi vor, als würde er immer dunkler werden. Als sie ihre scheinbar discmansüchtige Freundin darauf ansprach, zuckte diese nur mit den Schultern. Nicht nur die Bäume, auch der Boden schien mit jedem Schritt dunkler zu werden. Aber vielleicht lag das ja daran, daß die Bäume immer dichter standen und deren riesige Baumkronen das Sonnenlicht schluckten. Den anderen schien das nicht aufzufallen.

Allmählich wurde Judi nervös. Sollte sie schon wieder etwas sehen, was gar nicht da war? Oder lag das daran, daß sie sich jetzt in einem Wald befand und sie es sich nur einbildete, weil sie vorher von einem dunklen Wald geträumt hatte? Egal. Sie mußte aufhören, an diesen blöden Traum zu denken, sonst würde man sie wirklich für verrückt erklären!

Judi sah sich um. Der Wald hatte aufgehört, sich zu verdunkeln. Erleichtert atmete sie auf. Kathrin neben ihr runzelte fragend die Stirn, worauf Judi hastig wegsah. Dabei bemerkte sie ein Eichhörnchen, das sie frech ansah. Verwundert blieb sie stehen. Ihre Klassenkameraden gingen einfach an ihr vorbei, ohne sie zu beachten.

 

Irgend etwas war an diesem Eichhörnchen anders … aber was? Langsam ging sie auf das kleine Ding zu und ließ sich in die Hocke sinken. Das Eichhörnchen rührte sich nicht. Es legte nur den Kopf schräg und sah sie aus unglaublich klugen Augen an. Judi konnte nicht anders: sie streckte vorsichtig die Hand nach ihm aus und seufzte enttäuscht auf, als es im hohen Bogen davonsprang. Sie hätte es wissen müssen.

Aber in einiger Entfernung blieb es wieder stehen und sah sie auffordernd an. Wollte es, daß sie ihm folgte? Nein, das sah man höchstens in Filmen, aber so etwas geschah doch nicht in Wirklichkeit! Andererseits war schon so viel Seltsames an diesem Morgen geschehen, das sonst auch nur in Filmen passierte, und was sollte es schaden, wenn sie ihm folgte? Judi machte einen Schritt auf das Eichhörnchen zu und dann noch einen. Es hüpfte immer wieder weg, wenn sie meinte, es streicheln zu können. Und dann war es mit einem Satz verschwunden.

Judi sah sich aufmerksam um, aber der kleine braune Ball tauchte nicht wieder auf. Statt dessen hörte sie ein leises Stöhnen. Wer war das? Sie ging ein paar Schritte und blieb wieder stehen. Wo war sie überhaupt?

»Hallo? Ist da jemand? Haaallo!« Allmählich bekam sie nun doch Angst. Sie machte noch ein paar Schritte und merkte, daß der Wald sich lichtete. Schließlich trat sie ganz aus ihm heraus.

»Hallo?« Judi fragte sich langsam, ob sie sich dieses Geräusch nicht nur eingebildet hatte, als sie es wieder hörte. »Wo bist du?«

»Hier unten … hilf mir …«, hörte sie auf einmal eine schwache Stimme.

Unten? Vorsichtig machte sie ein paar Schritte in die Richtung, aus der die Stimme kam, und wäre um ein Haar gestürzt. Erschrocken macht sie einen Satz nach hinten, so daß sie unsanft auf dem Hosenboden landete. Auf allen Vieren krabbelte sie nach vorn und sah in die Tiefe. Vor ihr erstreckte sich eine schmale, aber tiefe Schlucht. Man hätte bequem auf die andere Seite springen können. Als sie sich weiter nach vorn beugte, zog sie erschrocken die Luft ein. Da lag jemand auf einem Felsvorsprung! Was sollte sie tun?

»Kannst du aufstehen? Warte, ich hole Hilfe!«

»Nein! … An der großen Birke liegt ein Beutel. Ein Seil muß drin sein.«

»Ich hole es. Beweg dich nicht!« Hastig krabbelte sie vom Rand der Schlucht weg und stand auf. Birke? Eilig rannte sie nach rechts. Nichts. Wo war diese blöde Birke? Ratlos rannte sie in die andere Richtung. Nach einigen Metern sah sie es weiß durch die Bäume schimmern. Gott sei Dank, da war sie! Sie rannte noch schneller und suchte die Stelle. Es dauerte ein bißchen, denn der Beutel lag unter einigen Zweigen versteckt. Sie suchte das Seil und lief eilig zurück.

»Ich hab’s! Kannst du dich festhalten?« Bei diesen Worten warf sie das Seil hinunter.

Stöhnend stand der Junge unten auf und griff nach dem Seil. »Zieh mich hoch!«

Judi suchte sich einen festen Stand und zog kräftig am Seil. Beinahe hätte sie wieder losgelassen.

»Stop! Warte, sonst falle ich auch noch runter! Du bist zu schwer! Ich lege das Seil um einen Baum, dann kann ich besser ziehen. Warte!«

Glücklicherweise reichte das Seil, und Judi begann kräftig zu ziehen. Bald schon schmerzten ihre Handflächen und sie hatte das Gefühl, als versuche der Junge, ihr die Handgelenke herauszureißen. Aber irgendwie schaffte sie es doch und zog den Jungen ganz nach oben. Keuchend ließ sie sich ins Gras sinken. Ihm schien es nicht besser zu gehen, denn er machte ein paar Schritte und ließ sich dann ebenfalls erschöpft fallen.

Als Judi wieder halbwegs zu Atem gekommen war, stand sie auf und ging zu dem Jungen hinüber, der immer noch reglos im Gras lag. Sie setzte sich neben ihn und sah ihn genauer an. Sein Haar reichte ihm bis auf die Schultern und lag wirr durcheinander. Seine Stirn war blutig, und als Judi seine Hand ansah, erkannte sie ein schlangenartiges Wesen in seiner Handfläche. Der Unbekannte hatte ihren Blick bemerkt und zog hastig die Hand weg.

»Wie heißt du?«, fragte Judi neugierig.

»Niam«, sagte der Junge nur.

Seltsamer Name, dachte Judi.

»Du hast mir das Leben gerettet. Danke!«

»Hätte ich dich etwa da unten liegen lassen sollen? Das hätte jeder andere an meiner Stelle auch gemacht. Schönes Tattoo an deiner Hand. Ist das eine Schlange?«

Niam sah sie erschrocken an, sagte aber nichts.

»Ach, auch egal. Kannst du mir den Weg zurück zu meiner Klasse zeigen? Ich weiß nicht, wo ich bin, und meine Klassenkameraden suchen mich bestimmt schon. Wir wollen einen Waldspaziergang machen.«

Niam blickte nur verständnislos drein.

»Verstehst du mich? Hier in der Nähe liegt ein Gasthaus. Weißt du, wo es ist?«, fragte Judi leicht verärgert. Vielleicht stand er ja unter Schock oder ähnlichem. Als sie nach ein paar Sekunden immer noch keine Antwort bekam, zuckte sie mit den Schultern und stand auf, um das Seil zusammenzurollen. Im nächsten Augenblick verlor sie das Bewußtsein. Sie hatte den Schlag nicht einmal kommen sehen.

Judi erwachte mit höllischen Kopfschmerzen. Was war passiert? Sie konnte sich nur schwach an eine Person erinnern, die immer neben ihr gesessen hatte, war aber nicht sicher, ob sie es nun geträumt hatte oder nicht. Judi wollte sich genauer in dem Zimmer umsehen, in dem sie erwacht war, aber irgend etwas hinderte sie daran.

»Du bist wach? Kannst du mich verstehen?« Diese Stimme, etwas Vertrautes war in ihr. Wo war sie überhaupt? Das war nicht das Zimmer in der Jugendherberge.

»Kannst du mich verstehen?«, fragte die Stimme noch einmal.

»Ja. Wo bin ich?«, antwortete sie.

»Erkennst du mich?«, fragte sie jemand wieder.

»Wie denn? Erstens kann ich meinen Kopf nicht bewegen, und sehen kann ich so gut wie gar nichts«, gab sie ärgerlich zurück. Was sollte das? Wo waren die anderen?

»Ich bin es. Niam. Weißt du noch, wer ich bin? Kannst du dich erinnern?«

Niam … wo hatte sie diesen Namen schon einmal gehört? »Ich weiß nicht. Was ist passiert?«

»Ich lasse dich jetzt allein, vielleicht kannst du dich später erinnern. Schlaf jetzt!« Schritte entfernten sich.

Judi versuchte abermals den Kopf zu drehen, aber irgend etwas an ihrem Hals verhinderte es schon wieder. Sie versuchte die Decke über ihrem Kopf zu erkennen, aber alles blieb verschwommen. Vorsichtig tastete sie ihren Hals ab. Eine dicke Binde war darum gewickelt, und das war wahrscheinlich der Grund, warum sie ihren Kopf nicht drehen konnte. Beim Versuch, sie zu lösen, schoß ein stechender Schmerz in ihren Nacken. Erschrocken schloß sie die Augen.

Was war passiert? Da war eine Schlucht und … ja was eigentlich? Lag sie in einem Krankenhaus?

Als sie die Augen wieder öffnete, konnte sie etwas besser sehen. Die Decke über ihr war aus Stroh. Wo verdammt noch mal war sie? Diesmal, sehr viel vorsichtiger, versuchte sie noch einmal die Binde zu entfernen. Es blieb bei dem Versuch. Sie war viel zu fest angelegt.

Judi schlug die Decke ärgerlich zurück und setzte sich vorsichtig auf. Dabei wurde ihr für einen Augenblick so schlecht, daß sie meinte, sich übergeben zu müssen. Sie atmete ein paarmal tief durch und stand langsam auf.

Der Raum, in dem sie sich befand, bestand ganz aus Holz, und außer dem Bett standen nur noch ein kleiner Schrank und ein Tisch im Zimmer.

Judi machte einen vorsichtigen Schritt in Richtung Tür. Es ging viel leichter, als sie erwartet hatte. Von draußen waren viele Stimmen zu hören: Kinder, die kreischten und lachten, und bellende Hunde. In der Ecke neben der Tür lagen ihre Kleider. Judi bemerkte erst jetzt, daß sie nur ein dünnes Hemd anhatte, das ihr bis zu den Knien reichte. Nein, so konnte sie nicht nach draußen!

An der rechten Seite des Raumes war ein Fenster. Vorsichtig ging sie darauf zu und spähte hinaus. Was sie da sah, konnte sie kaum glauben. Wäre sie im Freilicht-Museum gewesen, es hätte nicht anders aussehen können. Überall standen Hütten aus Holz, und Leute in braunen Kleidern und Gewändern liefen durcheinander. Wie im Mittelalter. Sie trat vom Fenster zurück. War das ein böser Scherz?

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