Loe raamatut: «Horak am Ende der Welt»

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Jan Kossdorff

HORAK AM ENDE DER WELT

Roman


Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

1

WIR WAREN ERST vor zwanzig Minuten in den Zug gestiegen, der uns durch den Wald, an der tschechischen Grenze entlang, nach Heidenholz bringen sollte, trotzdem schlief Maja bereits wieder an meiner Brust. Ihr Schreibbuch, in das sie ihre ungestüme Reiselyrik notierte, war ihr aus den Händen und zwischen meine Schuhe gerutscht, einige Strähnen ihrer unzähmbaren Haare juckten mich unter der Nase, aber ich wollte sie schlafen lassen, nicht bloß ihretwegen.

Reisen mit Maja war schön, aber strapaziös. Sie begnügte sich nicht damit, visuelle Eindrücke zu sammeln, sie wollte, was sie sah, auch spüren, anfassen, kosten. Fremde mussten angesprochen, Läden betreten, Schnäpse getrunken, regionale Eigenarten erforscht werden. Das Verhalten forderte seinen Tribut in Form von plötzlich auftretenden, intensiven Schlafattacken – die ich nutzte, um selbst wieder etwas zu Kräften zu kommen.

Maja und ich waren seit zehn Tagen gemeinsam auf Lesereise. Ich las aus meinem letzten Roman, sie begleitete mich. Unsere Tour führte uns in die Buchhandlungen, Mehrzwecksäle und Gemeindehäuser verschlafener Kleinstädte in Österreich und Bayern. Dem Verlag war es gelungen, sechs Lesungen zu organisieren, obwohl das Buch bereits im Herbst erschienen war.

Wir fuhren mit dem Zug, hielten, wo wir Lust hatten. Wir saßen mit Sonnenbrillen zeitunglesend auf Dorfplätzen, tranken ab dem Mittag Wein und schrieben Postkarten mit Heimatmotiven an Freunde in Wien. Abends gaben wir uns ganz dem skurrilen Pathos einer Provinzlesung hin, dem Begrüßen von Bürgermeistergattinnen und Gemeinderäten, der Annahme von Geschenken, dem gestelzten Small Talk und schließlich der Komik, wenn sich nach dem zeremoniellen Teil alles in Beschwipstheit und Jovialität auflöste.

Heute sollte in Heidenholz, einer Dreitausendseelengemeinde im nördlichen Waldviertel, die letzte Lesung unserer kleinen Tour stattfinden. Die Stadt hatte eine besondere Bedeutung für mich, und wir hatten vor, an unseren Aufenthalt ein paar Urlaubstage anzuhängen. Eine unserer selbst gesetzten Beziehungsfristen war gekommen, und in Heidenholz wollten wir entscheiden, ob wir unserer kleinen, unsentimentalen Liebe noch eine Verlängerung gewährten.

Das ältere Paar, das uns gegenübersaß, betrachtete mich argwöhnisch: Die schlafende Maja war in ihren Augen wohl etwas zu jung dafür, meine Frau zu sein; Majas Hand ruhte etwas zu vertraut zwischen meinen Beinen, als dass sie meine Tochter sein durfte. Ich sagte augenzwinkernd zu dem Mann: »Schläft Ihre auch immer ein?«, worauf beide eine plötzliche Unruhe überfiel und sie kurz darauf ausstiegen.

Ein paar Minuten bevor wir am Ziel waren, erwachte Maja. Sie räusperte sich lautstark und unmädchenhaft, wie sie es immer tat, dann blickte sie aus dem Fenster in den undurchdringlichen Wald hinein und meinte: »Ojemine.« Sie begann sich ihre Haare zu richten, ohne dass ihre blonde Mähne dadurch merklich an Form oder Ordnung gewann.

»Und du bist also in diesem Heidenfels aufgewachsen?«, fragte sie.

»Heidenholz.«

»Genau.«

»Ich bin nicht dort aufgewachsen, aber ich habe viele Sommer meiner Kindheit dort verbracht.«

»Bei deinen Großeltern?«

»So ist es.«

»Und das ist reale Biografie, oder mehr so etwas wie der selbst geschriebene Wikipedia-Eintrag, etwas für die Atmosphäre im Lebenslauf.«

»Es ist reale Biografie, es gibt Zeugen für meine Anwesenheit.«

»Aha. Wann ist die Lesung?«

Ich suchte in meiner Reisetasche nach der ausgedruckten E-Mail, auf der die Informationen zum heutigen Abend standen.

»Um sieben.«

»Was wirst du lesen?«

»Die Szene in der Klosterbibliothek, die Fahrt mit Mizzi nach Italien, der Abschied am Bahnhof, eventuell die Traumsequenz.«

Sie nickte, schien aber nicht überzeugt zu sein.

»Nicht die Traumsequenz?«, fragte ich. Ich war inzwischen abhängig von ihrer Zustimmung, jedenfalls in künstlerischen Fragen.

»Nein, die ist schön«, sagte sie, nun plötzlich einfühlend und interessiert, »und das Gute an ihr ist, man muss der Handlung nicht gefolgt sein, um sie zu goutieren. Ich würde eher über den Anfang nachdenken.«

»Die Szene im Kloster?«

»Ja. Aber auch die einleitenden Worte.«

Ich richtete mich im Sitz auf. »Du hast nie ein Wort gesagt, dass mit denen etwas nicht in Ordnung wäre.«

»Es ist mir erst gestern aufgefallen. Ich finde, ein Autor muss nicht die Motivation für seine Arbeit vor sich hertragen. Vor allem wenn sie ein bisschen … undurchsichtig ist.«

»Undurchsichtig?«

»Ich bezweifle, dass die meisten Zuhörer nachvollziehen können, weshalb dich das Tagebuch eines steirischen Klosterbruders aus den Achtzigerjahren so fasziniert hat.«

»Es ist ein ganz besonderer Fund gewesen! Und er war eine schillernde Person …«

»Weil er Motorrad gefahren ist und heimlich Beziehungen mit Frauen hatte …«

»Und weil sein Gottesbild so spannend war, so …«

»… komplizenhaft, ja.«

»Genau!«

»Ich würde dennoch überlegen, einfach direkt in die Lesung einzusteigen.«

»Die ganze Geschichte, wie ich zu dem Tagebuch gekommen bin, und die Interviews …«

»Vielleicht kürzer, hm?«

Und damit war das Gespräch für Maja beendet. Ein »hm« am Ende des Satzes bedeutete: Wenn du es bis jetzt nicht kapiert hast, ist dir nicht zu helfen.

Maja stieg über meine Beine und verschwand in Richtung Toilette. Ich grübelte eine Weile über ihre Argumente nach, dann beschloss ich, die Einleitung zu streichen. Probeweise.

Es war früher Nachmittag, als wir in Heidenholz aus dem Zug stiegen. Uns empfing ländliche Stille, die Sonne stand hoch am Himmel, der Wind wehte ein paar Pfauenaugen über den Bahnsteig. Ich trug ein Sommerjackett über einem weit offenen Hemd und den Strohhut, den Maja mir am Wolfgangsee gekauft hatte, sie ein Sommerkleid mit Blümchenmuster, ein weißes Kopftuch und große, falsche Prada-Brillen.

Der Bahnsteig der Schmalspurbahn mit seinen grünen Laternen und alten Holzbänken schien seit meiner Kindheit unverändert zu sein. Ich hörte einen Traktor in der Ferne, das Brummen der Hummeln, das Läuten des Bahnschrankens am Ortsende. Ich deutete auf den Ort, der von Wald eingebettet unter uns lag, die Wasserburg und die Heide mit den aufblitzenden Seen im Hintergrund der Stadt.

»Heidenholz«, sagte ich.

Maja nahm ihre Brille ab, drehte sich zu mir und strich mir mit einer Hand theatralisch über die Wange.

»Dieser Ort wird sehr gut zu uns sein.«

Sie küsste mich, dann kreischte sie: »Mich hat was gestochen!«, griff nach ihrem Knie und hüpfte auf einem Bein über den Bahnsteig.

»Pferdebremsen …«, sagte ich.

»Pferdebremsen?«, echote Maja und schien es nicht fassen zu können, dass solche Wesen existierten.

Nachdem sie sich wieder gefasst hatte, wanderten wir, unsere Trolleys hinter uns herziehend, die Straße vom Bahnhof in weit geschwungenen Serpentinen einen Hügel hinab in Richtung Stadt. Ich wies Maja auf die leer stehenden Gebäude am Rand der Straße hin.

»Früher waren hier überall Betriebe. Heidenholz war einmal eine lebendige Stadt, mit Industrie und vielen Arbeitsplätzen. Es gab Tanzbuden, Jahrmärkte, hier war was los …«

»Tanzbuden?«, fragte Maja.

»Ja. Unterhaltungslokale.«

»Pardauz, hier gab es Unterhaltungslokale! Da hat sicher mancher Schwerenöter seinen Sparstrumpf geschröpft, um in den besten Gamaschen seine Mamsell zu treffen!«

»Ich rede von den Fünfzigerjahren, von dem, was mir meine Großeltern erzählt haben. Man sprach damals von Tanzbuden

Maja stach mir mit einem Finger in die Brust, dann sagte sie ernst: »Jakob, bring deine Sprache mal ins einundzwanzigste Jahrhundert.« Sie griff wieder nach ihrem Koffer und ging flotten Schrittes voraus Richtung Stadt.

Ich rief ihr hinterher: »Meinst du jetzt meine Alltagssprache? Oder …«

Ohne sich umzudrehen sagte sie: »Vielleicht lag’s diesmal ja am Mönch.«

Ich rief: »Diesmal?!«

Sie reagierte nicht, und wir marschierten weiter Richtung Stadt. Auf der linken Seite tauchte nach einiger Zeit die Wasserburg mit der mächtigen Zugbrücke auf. Beim Eingang zum Burggrund befand sich direkt ans Gemäuer angeschmiegt ein hölzernes Kaffeehäuschen, das mit seinen roten Sonnenschirmen mit dem Logo der Eisfirma und den alten Klappstühlen auf der Holzterrasse noch genauso aussah wie früher. Auf der rechten Seite begann das Ortszentrum mit der barocken Kirche, den gepflegten zweistöckigen Häusern in rosa, gelb oder hellblau, dem Brunnen und den mit Blumenkisten geschmückten Gässchen. Familien gingen spazieren, ein paar Radfahrer kamen vorbei – so sah er aus, der sanfte Tourismus. Ich starrte dem Verlauf der Bundesstraße nach, die sich am Ortskern vorbei nach Westen wandte und nach etwa zweihundert Metern in den Wald führte.

»Es ist weg«, sagte ich.

»Was?«

»Das Haus meiner Großeltern. Es ist weg!«

Ich ging die Straße hinunter, immer noch den Trolley hinter mir herziehend, vorbei an drei alten, baufälligen Häusern, bis ich vor einem von Bäumen beschatteten Grundstück stand, auf dem jemand unter einer Plane Baumaterial gestapelt hatte.

»Hier war es. Hier war es!«

»Oh, da ist ja gar nix mehr«, sagte Maja, bevor sie sich nach links und rechts an mir vorbeibog, ob sie nicht vielleicht doch noch irgendwo ein Stück Haus entdecken konnte.

»Hier war das Haus. Und hier …« – ich deutete auf das ebenso leere Nachbargrundstück – »… hier war das Haus der Nachbarin, der Frau Hohenecker.« Ich drehte mich um und sah über die Straße. Auf dem Grund gegenüber war ein kleiner Garten mit einem Geräteschuppen und Hochbeeten. »Dort drüben war das Gehege für die Hühner. Dort liefen sie herum. Rechts war ein kleiner Verschlag, links das Plumpsklo. Wir mussten jedes Mal über die Straße gehen und an den Hühnern vorbei, wenn wir aufs Klo wollten.«

Maja verzog den Mund, als wäre sie dafür nicht zu haben gewesen.

Ich wandte mich wieder dem Grund zu, auf dem das Haus meiner Großeltern gestanden hatte. »Hier war das Vorhaus, links die Küche, dann die Stube, rechts das Gästezimmer, in dem mein Bruder und ich geschlafen haben. Und hier, hier war die Selchkammer. Ein dunkles, stinkendes Schränkchen.« Ich sah den Schlund der Kammer vor mir, konnte ihre rußige Ausdünstung riechen. »Und hier, hinterm Haus, verlief ein kleiner Bach. Wieso ist sogar der Bach weg? Mein Bruder und ich haben uns hineingestellt und gewettet, wer weiter pinkeln konnte. Natürlich nur, wenn meine Oma nicht da war. Sie ist Lehrerin gewesen, sie hat uns den Sommer über immer diktiert, und wenn wir einen Satz nicht richtig schreiben konnten, hat sie ihn sich auf einem Streifen Papier notiert und in ihre Schürze gesteckt und ihn uns am nächsten Tag wieder diktiert, so lange, bis wir ihn konnten. Mein Opa war ein hoher Beamter in der niederösterreichischen Landesregierung. Unsere Oma hat uns erzählt, dass er als Kind vom Kindermädchen fallen gelassen worden war, deswegen hatte er einen krummen Rücken. Er verschränkte immer die Hände hinter dem Rücken, so hielt er sich aufrecht.«

Maja setzte sich auf ihren Koffer, stützte ihr Kinn mit den Händen ab und sah mich belustigt an.

»Meine Oma war keine so überragende Köchin: Das Kartoffelpüree hatte ganz glasige Augen, uns hat es geekelt. Wir haben jeder einen Schilling bekommen, wenn wir aufgegessen haben, also haben wir es halt runtergeschluckt.« Ich sah wieder hinaus in Richtung Straße, auf der nur selten mal ein Auto vorbeikam. »Die Straße war noch nicht asphaltiert damals. Dort sind die Gänse herumgelaufen. Überall waren sie, laut schnatternd, auch mitten im Ort, und haben ihren grünen Schiss hinterlassen. Gott, die Tiere! Wir haben die Schweine schreien gehört, wenn sie geschlachtet wurden. Und die Gänse wurden gestopft, der Maisbrei ist ihnen … Ach, na ja, grausam.«

Ich ging ein paar Schritte zur Straße und sah in Richtung des Waldes. »Bei uns liegt der Osten im Westen, haben sie hier gesagt. Weil Tschechien von hier aus im Westen liegt. Dort, in vielleicht fünfhundert Metern, ist die Grenze. Meine Oma hat gesagt: Dort ist das Niemandsland, da dürft ihr nicht hin. Niemandsland, das hat unsere Fantasie natürlich angeregt! Der Opa hat uns erzählt, dass die Leute manchmal zu nahe an die Grenze gingen und dann einfach verschwanden. Schwammerlsucher, Spaziergänger. Sie kamen erst Tage oder Wochen später wieder, und nie haben sie davon gesprochen, was ihnen passiert ist. Wie in der Twilight Zone … Mein Bruder und ich standen dort auf der staubigen Straße und haben nach Westen gesehen, wo die Sonne untergegangen ist, wo der Ostblock war, der Eiserne Vorhang.«

»Wie weit seid ihr gegangen?«, fragte Maja.

»Du meinst in Richtung Grenze? Nicht weit. Vielleicht hundert Meter. Weiter haben wir uns nicht getraut.«

»Ich hätte mir das aus der Nähe ansehen wollen …«

»Ja, du! Aber hier war das nicht so. Alle Kinder haben sich von der Grenze ferngehalten. Dort gab es nichts mehr, das hat man akzeptiert.«

Ich starrte die Straße hinunter, hinein ins Niemandsland, das nun wieder Jemandsland war.

»Wann warst du hier?«, fragte Maja.

»Die ganzen Achtziger durch. Das letzte Mal dann so mit siebzehn. Da gab es den Vorhang noch.«

»Magst du jetzt hinübergehen?«

»Über die Grenze?«

Maja nickte.

»Nein. Gehen wir ins Hotel.«

»Ja?«

»Es ist schon fast fünf. Ich bin ganz geschockt.«

»Wegen dem Haus?«

»Ja, ganz verloren fühle ich mich grad.«

»Du hast zu lange gewartet.«

»Ach ja, danke, dass du es aussprichst.«

Auf dem Weg fiel mir noch mehr ein: »Alle Frauen trugen Kopftücher. Am Sonntag kamen sie heraus und fegten die Stiegen und Vorgärten mit Reisigbesen. Am Montag wurde eingekauft: Dort vorne, wo der Friseur ist, da war das Geschäft. Alles hatten sie dort, Lebensmittel, Haushaltswaren, Kleider, Spiele, alles. Für uns Kinder war das natürlich ein Anziehungspunkt, wir sind mit den paar Schilling, dir wir uns durchs Z’amm’essen oder Zaunflicken verdient hatten, hin und haben uns Spielkarten oder ein Eis oder eine Micky Maus gekauft.«

Ich dachte, wie seltsam es war, dass die Vergangenheit ein Ort sein konnte, kein verblassendes Gewesensein oder Erlebthaben weit hinten auf der Zeitachse, sondern eine Straße, Häuser, ein Geruch, alles da, im Hier und Jetzt.

Wir zogen unsere Koffer knatternd über das Kopfsteinpflaster des Ortskerns, vorbei an dem Wirtshaus, das immer dort gewesen war, vorbei auch an einem Pub, das neu zu sein schien. Das Hotel Heide lag etwas abseits zwischen den Obstgärten, die zu den Häusern im Stadtkern gehörten.

Ein junger Tscheche namens Marek begrüßte uns, erinnerte mich daran, ich möge bitte eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn im Rathaus sein, und gab uns die Schlüssel.

In unserem Zimmer ließ ich mich auf das Bett fallen und schloss für einen Moment die Augen. Ich dachte an die Lesung, an die Textstellen, die ich ausgewählt hatte. Ich versuchte, mir den Saal im Rathaus, in dem ich nie gewesen war, vorzustellen und überlegte, ob wohl genug Leute kommen würden – auf den Straßen waren wir kaum jemandem begegnet. Dann drifteten meine Gedanken wieder ab, ich sah meine Kumpel, meine Freundin Marianne und mich, wie wir am Teich hinter dem Ortszentrum saßen und Bier tranken. Marianne, die Bauerstochter, die immer hier lebte, nicht nur im Sommer wie ich. Marianne, mein erster Sex.

Maja begann über ein Buch zu sprechen, das sie gerade las, nachdem ich es auf der Reise beendet hatte. Sie fand, es war gut geschrieben, aber wieder mal glaubte sie dem Autor nicht, sie glaubte ihm nicht, dass ihm das Thema so ein Anliegen war, dass es eine Herzensangelegenheit für ihn war. In diesem Fall gab ich ihr auch recht, ich kannte den Autor und wusste, dass er das Buch schon vor Jahren geschrieben und nur veröffentlicht hatte, um seine Strafe für Fahren im berauschten Zustand zu begleichen. Während Maja sprach, zog sie sich nackt aus. Sie legte sich neben mich, öffnete meine Hose, berührte mich beiläufig, immer noch über das Buch redend. Irgendwann rutschte sie auf mich, lenkte mich in sie, legte ihren Kopf an meine Schulter und wiegte uns langsam einem Höhepunkt entgegen, bis kurz davor immer noch über Literatur sprechend.

Später standen wir nebeneinander im Badezimmer und betrachteten uns im Spiegel. Sie, ein dünnes Mädel von siebenundzwanzig Jahren, ich, ein ergrauender Mann von sechsundvierzig. Mein Bart nicht gepflegt, ihre Haare strähnig, wir beide ein Bäuchlein, wir beide müde aussehend nach zehn Tagen Unfug treiben, trinken, unruhig schlafen. Jetzt in diesem Augenblick fühlte ich mich sehr verliebt, ich legte meine Hände um ihre schmalen Hüften und lächelte sie mit feuchten Augen an. Sie kraulte meinen Bart, sagte sanft: »Mach deine Einleitung wie immer. Ich hab sie nur zu oft gehört. Sie ist klasse.«

Als wir das Zimmer verließen, trug ich einen schwarzen Anzug, Maja einen langen Rock und eine weiße Bluse, das schickste Ensemble, das wir im Koffer hatten. Ich war nervös, und meine Unruhe färbte auf Maja ab.

»Was ist denn?«, fragte sie mich am Treppenabsatz.

»Ich weiß nicht, wer dort heute hinkommt. Oder ob überhaupt jemand kommt. Und ich passe hier lesend gar nicht her. Ich sollte am Bach sitzen und Papierschiffchen losschicken, nicht auf der Bühne im Rathaus sitzen.«

»Lassen wir das mal einfach auf uns zukommen, gut? Trinken wir noch einen Schnaps in dem Pub.«

Als wir hinuntergingen und dann auf die Straße hinaustraten, dachte ich, vielleicht geht es gar nicht um die Lesung, vielleicht geht es nur darum, dass unsere kleine Reise nun zu Ende war und wir beschließen wollten, wie es mit uns weitergehen solle, und ich Angst hatte, wie das ausginge.

Wir tranken also einen Schnaps, einen klaren, brennenden Obstschnaps, dann machten wir uns Hand in Hand auf den Weg zum Rathaus. Wir waren zu spät, es war schon nach halb sieben, und als wir aus einer kleinen Gasse auf den Rathausplatz traten, sahen wir uns dreißig, vierzig Menschen gegenüber, die vor dem Eingang zum Rathaussaal standen, sich unterhielten, rauchten. Mein Blick streifte die Gesichter der Wartenden und blieb schließlich an zweien hängen, die mir vertraut waren.

Ich drehte mich um und schob Maja einen Meter zurück in die kleine Gasse.

»Meine Ex-Frau ist hier.«

»Was

»Meine Ex-Frau ist hier. Und mein Sohn.«

»Aha. Und wieso?«

»Ich habe keine Ahnung! Sie haben mir nichts gesagt. Ich wusste nicht mal, dass sie wissen, dass ich hier lese!«

»Wohnen sie denn hier?«

»Nein, sie leben in der Nähe von Linz. Ich weiß nicht, wieso sie da sind.«

»Ist das ein Problem? Ihr versteht euch doch?«

»Ja, tun wir.«

»Na, dann …«

»Lass mich noch kurz überlegen …«

»Was denn?«

»Einen Moment!«

»Ist es wegen mir?«

»Wie?«

»Willst du nicht, dass sie uns zusammen sehen?«

»Ich … nein … nein!«

Ich stotterte, wusste gar nicht, was ich empfand. »Natürlich können sie uns zusammen sehen«, sagte ich, »komm, wir gehen zu ihnen!«

Ich riss Maja an der Hand mit mir und zog sie einige Schritte über den Platz, bis wir vor meiner Ex-Frau und meinem Sohn standen. »Franzi, David, was macht ihr hier?«, rief ich, vielleicht etwas zu enthusiastisch.

Ich umarmte meine Ex-Frau Franziska, dann meinen Sohn; sie sahen an mir vorbei zu Maja, die lächelnd der Umklammerung meiner Hand zu entkommen versuchte.

»Du hast ja neulich am Telefon erzählt, dass du hier lesen würdest, und für uns ist es ja nicht so weit«, sagte Franziska ruhig, ihr Blick zwischen mir und meiner Begleitung pendelnd. Jetzt erinnerte ich mich, wir hatten telefoniert, ich war nicht ganz nüchtern gewesen.

»Das ist Maja«, sagte ich beiläufig.

Franziska und Maja gaben sich die Hände. Mein Sohn äußerte, es seien ja voll viel Leute da, und ich überlegte, ob es ein geeigneter Augenblick war, die Verwendung von voll als Gradpartikel in Frage zu stellen.

Franziska zog einen Mann am Ärmel zu uns. »Das ist Simon«, sagte sie, »Simon – Jakob.«

Simons Bart war grauer und voller als meiner, er war stämmiger als ich, sein Lächeln zeigte große, beeindruckende Zähne.

»Ich bin schon gespannt, ich hab dein letztes Buch gern gelesen«, sagte er. Wenn das Franziskas neuer Lebensgefährte war, hatte er die richtigen ersten Worte gefunden.

Von der anderen Seite tauchte eine Dame auf, nahm mich am Arm und zog mich sanft-beharrlich von meiner Gruppe weg.

»Ich bin die Leiterin der Bücherei, ich organisiere das heute hier. Herzlich willkommen, Herr Horak!«

Ich begrüßte sie und bedankte mich für ihre Mühe. Sie war in meinem Alter, ihre Haare kurz und rot gefärbt, ihre Brille farblich auf die Frisur abgestimmt, oder anders herum.

»Es wird sehr voll werden heute«, sagte sie, und es klang so, als wäre das keine gute Nachricht. »Ich bin nicht sicher, ob die Stühle reichen werden.«

»Besser zu voll als …«, setzte ich an, aber sie unterbrach mich sogleich: »In der Stadt tagt derzeit das Komitee für die Feierlichkeiten zum dreißigsten Jahrestag des Falls des Eisernen Vorhangs zwischen Österreich und Tschechien. Alle Damen und Herren der Arbeitsgruppe werden geschlossen Ihrer Lesung beiwohnen.«

»Das ist …«, ich suchte nach dem richtigen Wort, »… einschüchternd.«

»Ich habe für die Herrschaften Plätze in der ersten und zweiten Reihe reserviert, der Akustik wegen, einige sind schon etwas älter. Des Weiteren erwarten wir den Bürgermeister mit Familie und die Literaturbeauftragte des Landeskulturbüros. Ich habe außerdem gesehen, dass die Moruttis hier sind, Sie kennen das Schloss vielleicht?«

»Sie meinen das Schloss in Feinitz, da wohnt jemand?«

»Die Familie ist wieder eingezogen. Sie sind sehr … leutselig.«

Eine schöne Sprache hatte die Bibliothekarin, fiel mir jetzt auf, nur leicht in den Dialekt getaucht, nicht hineingeplumpst und ganz darin ersoffen.

»Wollen wir uns den Saal ansehen? Vielleicht möchten Sie noch das Mikrofon und die Leselampe für sich einstellen?«

Sie führte mich in den Rathaussaal, ein langer, weiß getünchter Raum mit Steinboden, frei gelegten Holzbalken und modernem Lichtdesign. Ein Heer schwarzer Sessel vermittelte mir die Erwartungen und die Ernsthaftigkeit, mit denen man an diesem Ort meiner Lesung entgegensah. Auf einem Büchertisch rechts vom Eingang des Saals waren alle meine Romane aufgereiht, sogar mein dritter, der bei einem kleinen Schweizer Verlag erschienen war, nachdem ihn ein paar Dutzend größere Häuser abgelehnt hatten.

»Wir freuen uns alle sehr auf Ihre Lesung«, sagte die Bibliothekarin, bevor sie mich auf die Bühne bat.

Ich dachte: Seid ihr eigentlich noch bei Trost? Mein neuer Roman geht schleppend, schon der vorige lief nicht besonders, ich habe mein Publikum, das ich mit meinen frühen Romanen gewonnen habe, verspielt, ich war nie ein Fall für Stipendien und Preise, ich habe einen Allerweltsnamen, den sich niemand merkt, und ich nehme nicht am öffentlichen Diskurs in den sozialen Medien teil. Mein Agent ist ein Nebenerwerbsbauer im Burgenland, der mich innerlich längst aufgegeben hat, mein Verlag betrachtet mich als eine Art Altlast, und die Filmrechte für meinen Erstling werden jedes Jahr neu vergeben, ohne dass es je zu einer Verfilmung käme. Und jetzt lasst ihr mich hier vor einem Komitee von tschechischen und österreichischen Denkern aus Wissenschaft und Politik, vor dem Bürgermeister, der Kulturreferentin und dem Grafen aus dem Märchenschloss auftreten, als wäre ich die logische Wahl für den nächsten Nobelpreis!

Auf der Bühne richtete ich das Mikrofon ein, verrückte die Leselampe um einen Zentimeter, dann sagte ich: »Alles perfekt. Nein, wirklich, perfekt. Nur eine Frage …«

»Ja?«, sagte die Bibliothekarin freundlich.

»Haben Sie mein Buch gelesen? Also das aktuelle?«

»Natürlich!«

»Hat es Ihnen gefallen?«

»Ja, doch. Es ist ganz anders als Ihre ersten Bücher, aber das scheint ja jetzt Ihr Markenzeichen zu sein. Jeder Roman ganz anders als der davor.«

»Wissen Sie, das geschieht nicht mit Absicht, ein Thema fliegt einem einfach irgendwie zu, und dann macht man sich an die Arbeit, erst später blickt man auf die Gesamtheit der Bücher, das Werk, haha, und sucht einen Zusammenhang, der aber vielleicht gar nicht vorhanden ist.«

»Aber sicher ist er das. Es sind ja alles Ihre Geschichten. Ihre Worte.«

»Ja, schon möglich … Aber glauben Sie, dass mein letztes Buch wirklich gut hier aufgehoben ist? Denken Sie, es wird den Leuten gefallen?«

»Aber dies ist doch der letzte Termin Ihrer Lesetour, Sie müssen doch viele Eindrücke gesammelt haben, viele Reaktionen bekommen haben.«

»Wissen Sie, jeder Ort ist anders, und heute kommen mir die Erwartungen so, wie soll ich sagen, hochgeschraubt vor, ich weiß nicht, ob ich dem entsprechen kann.«

»Sie müssen doch nur vorlesen, Herr Horak. Lesen Sie, die Arbeit haben Sie doch längst gemacht.«

Sie lachte, aber leichter fühlte ich mich nicht.

Die Bibliothekarin brachte mich in einen Raum hinter der Bühne, wo sich eine Couch und ein Tisch mit Wasser und Wein befanden, außerdem, aus welchem Grunde auch immer, ein Buch mit Garfield-Cartoons. Sie ließ mich alleine, meinte, sie werde mich in zehn Minuten auf die Bühne bitten, und deutete im Gehen auf die Toilette. Ich dachte, danke, vielleicht würde ich mich wirklich übergeben müssen.

Ich trank ein Glas Wein in einem Zug.

Dann überlegte ich: Wie seltsam, ich kann gar nicht mehr zu Maja, Franziska und David zurückgehen, diese Frau hat mich einfach entführt und dann hier geparkt, und jetzt warte ich auf meinen Auftritt wie ein Gladiator oder ein Kandidat bei Sing my Song.

Ich hörte, wie sich draußen der Saal füllte. Sessel wurden gerückt, Menschen unterhielten sich, ein Ruf: »Wir sitzen hier, Claudia, ich hab reserviert!«

Ich dachte daran, was sie wohl miteinander flüsterten: »Muss man den kennen? Hat der das mit dem senilen Vater geschrieben? Ich lese ja lieber Krimis.«

Plötzlich überkam mich ein Gefühl von Panik, ich könnte vielleicht das Leseexemplar meines Buchs vergessen haben, und begann in meiner Tasche zu kramen. Nein, da war es. Darin auch der Zettel mit den Stichwörtern zu meiner Einleitung. Sollte ich sie nun bringen? Warum hatte sich Maja nicht festgelegt? Wie konnte ich auf diese Weise vernünftige Entscheidungen treffen?

Ich griff nach dem Garfield-Buch. Ich las eine Bildgeschichte und verstand sie nicht. War das möglich? Ich verstand Garfield nicht. Wie sollte ich vor dem Komitee lesen, wenn ich nicht mal Garfield begriff.

Ich trank noch ein Glas Wein.

Ich überlegte, wer wohl noch im Publikum saß. Vielleicht war Marianne da. Marianne, meine »Landliebe«, wie der Pudding.

Was wohl aus ihr geworden war? Sie war hübsch damals und viel cooler als ich. Das erste Mal mit ihr zu schlafen waren die aufregendsten fünf Sekunden meines Lebens. Für die Präservative war ich fünfundzwanzig Kilometer mit dem Fahrrad zur Esso-Tankstelle nach Waidhofen gefahren. Auf dem Rückweg trug ich bereits eines, um mich an das Gefühl zu gewöhnen. Nach dem Sommer, wieder in Wien, schrieb ich ihr Briefe. Ich bettelte um ein Foto, je nackter, desto besser, stattdessen schickte sie mir ein Bild von Resi: »Das Kalb ist da!«

Draußen wurde es langsam ruhiger, die Leute hatten ihre Plätze gefunden.

Wieder dachte ich daran, wer aller im Publikum saß, und in Gedanken ging ich fiebrig den Text durch und überlegte, welche Stellen für wen unangenehm sein könnten. Ich erkannte, dass die Lesung für fast jede Gruppe – Frauen, Alte, Katholiken – Anstößiges bereithielt und ich etwas völlig anderes lesen musste, vielleicht etwas aus meinem dritten Roman, der so abgehoben war, dass sich niemand darin wiedererkennen und angegriffen fühlen konnte. Ich würde einen Ausweg aus diesem Raum finden müssen, außen ums Rathaus herumlaufen und heimlich vom Büchertisch ein Exemplar nehmen …

Draußen die Stimme der Bibliothekarin, dann Applaus. Karin, dachte ich mir, in Bibliothekarin steckte der Name »Karin«. Hieß sie so? Wie absurd das wäre …

Die Tür öffnete sich ein Stück, ein junger Mann steckte seinen Kopf herein und sagte: »Herr Horak, Ihr Auftritt.«

Gut, Jakob, sagte ich im Geiste zu mir selbst, du hast es hunderte Male gemacht, es ist einfach wie Geometrie, erste Klasse, also los.

Ich kippte das halb volle Glas Wein hinunter, griff nach meinem Buch, kontrollierte mein Hosentürl, rückte meine Brille zurecht und ging durch das Rechteck in der Wand auf das Rechteck im Saal hinaus, setzte mich unter Applaus an das Rechteck mit Beinen und legte das Rechteck, aus dem ich lesen würde, vor mich hin.