Loe raamatut: «Den Kopf hinhalten»

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Jens Rosteck

Den Kopf hinhalten

Jens Rosteck

Den Kopf hinhalten

Roman


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eISBN 978-3-8271-8400-9

Ohne zu wissen warum

liebe ich diese Welt,

auf die wir kommen,

um zu sterben.

Natsume SŌseki

1

Letztes Stündlein


Träume hatte Rupert sich schon seit Langem verboten. Erlebtes im Unterbewusstsein weiterzuspinnen, richtungslos abzuschweifen und die Ereignisse der letzten Jahre auch noch im Schlaf vor seinem inneren Auge ablaufen zu lassen, war strengstens untersagt. So hatte er es seinem Gewissen eingebläut. Und war, im Laufe der Zeit, gegen Anfechtungen jeglicher Art erfolgreich immun geworden.

Dösend im Bett liegen zu bleiben und den Tag zu vertrödeln: Das kam nicht infrage. Abzuwägen, was besser sei oder richtiger gewesen wäre: sinnlos. Mit sich zu hadern, sich mit Fragen zu quälen, sich rastlos auf seinem Laken hin und her zu werfen oder fortgesetzt unter Selbstvorwürfen zu leiden – unnötig und pure Zeitverschwendung. Wankelmütig zu werden oder gar zu zweifeln war, so hatte er ein für alle Mal beschlossen, ein Ding der Unmöglichkeit. Jedenfalls was ihn betraf.

Das gehörte sich nicht für ihn, einen entschlossenen, vorbildlichen Mann. Für ihn, Beaufort. Einen, nach allgemeinem Urteil, charakterstarken Scharfrichter. Den Gentleman unter den Henkern, wie die Presse ihn nannte. Den Routinier unter den Hangmen, so die Meinung seiner Kollegen. Den mutigen und unbestechlichen Nationalhelden, befanden einige Patrioten. Den Star unter den staatlich bestellten Todesengeln, so feierten ihn Freunde und trinkfreudige Kunden in seinem Lokal. Den Ersten im Lande, so das einstimmige Urteil der zuständigen Behörden. Den Besten seiner Zunft, davon war er selbst überzeugt.

Träume waren etwas für Sentimentale und Nostalgiker. Träume waren ein Luxus, den man sich besser nicht leistete. Träume machten träge. Träume konnten einen schwer belasten. Träume führten dazu, dass man Gefahr lief, sein Ziel aus den Augen zu verlieren.

Nein, nichts wäre törichter, als in der Vergangenheit zu verharren, sich mit Vorfällen zu befassen, an deren Verlauf oder Ausgang nichts mehr zu ändern war. Lieber richtete Rupert den Blick nach vorn. Befahl sich Zurückhaltung, verordnete sich Klarheit, ließ kein dunkles Wölkchen über seinen Gedanken schweben. Innere Einwände verscheuchte er. Und des Nachts wollte er wirklich nur eins: gründlich zur Ruhe kommen. Wegtauchen. So hatte er es schon immer gehandhabt. Einfach abschalten. Für ein paar Stunden wenigstens. Sich allmählich auf seine nächste Aufgabe vorbereiten. Präsent sein und konzentriert. Kräfte sammeln. Um seine Pflicht zu tun. Voller Entschlussfreudigkeit. So wie an diesem Junimorgen im Jahre 1956. Er stellte fest, dass er tief und gut geschlafen hatte, ausreichend allemal. Auch wenn er erst mitten in der Nacht nach Hause gekommen war, nachdem er im Pub noch klar Schiff gemacht hatte.

Träume, zumindest angebrochene, fochten ihn nicht an. Träume, die keinen Anfang und kein Ende kannten, vergaß man auf der Stelle. Träume waren ein Irrtum. Träume führten zu nichts.

Sein vierundzwanzigstes Jubiläum im Dienst der britischen Krone rückte näher. Fast ein Vierteljahrhundert hatte Beaufort perfekt funktioniert. Zur allgemeinen Zufriedenheit. Hinrichtung für Hinrichtung, ob nun in London, Manchester oder Dublin. Ob daheim im Vereinigten Königreich, in Deutschland und Irland, in Österreich oder im Nildelta. Hatte Aufträge ausgeführt, vor denen sich die meisten, die er kannte, gefürchtet hätten. Vor denen sie zurückgeschreckt wären.

Vorbildlich hatte er agiert. Konsequent und kompromisslos. War kreuz und quer durch Europa gereist, um seiner Nation zu Diensten zu sein, ohne sich zu beschweren oder auch nur zu murren. War bei Wind und Wetter in die entlegensten Ecken des Landes geeilt und hatte dabei keine Strapazen gescheut. Hatte in heiklen Situationen seinen Mann gestanden, nie gekniffen.

Und kein einziges Mal hatte er versagt, gezaudert oder seine Vorgesetzten enttäuscht. Nie war er verhindert oder ernsthaft krank gewesen. Nie hatte er Details ausgeplaudert. Verschwiegen wie ein Grab war Beaufort. Fehler waren ihm keine unterlaufen, seine Weste war weiß. Was er tat, hatte – wie er es sah – mit Gewalt nichts zu tun, schon gar nicht mit Grausamkeit, und an seinen Händen haftete auch nicht der kleinste Tropfen Blut. Nicht einmal ein Spritzer.

Mit allem was er tat, hinterließ er weder Flecken noch Spuren: Seine Hände machte er sich nicht schmutzig. Sein Herz blieb heiter. Stattdessen beendete Rupert Lebensläufe. Machte Schluss mit den Schicksalen Dritter. Unerfreuliche, unglückliche, verpfuschte, schlimme und unbeschreiblich schreckliche. Was einzig zählte, war, dass man sich auf ihn verlassen konnte, und das traf seit 1932 zu. Als er als Assistent begonnen hatte. Seit 1941, nach seiner Beförderung, hatte er als Chef das Sagen, bestimmten seine Anweisungen die Regeln beim Hängen. Seitdem war er ein Meister seines Fachs. War unumstritten und unersetzlich.

Und auch so etwas wie ein Künstler. Ein Todeskünstler.

Der heutige Tag durfte also anbrechen, wenn es nach ihm ging, und der Tag brach auch tatsächlich an. So zuverlässig wie er selbst. Fast mechanisch.

In wenigen Sekunden würde er aufstehen und sich ankleiden, sich ein paar Stunden später auf den Weg nach London machen und sich während der Zugfahrt gedanklich vorbereiten auf die Tötung eines ihm völlig unbekannten Menschen. Wie so oft würde sie am Samstagmorgen, pünktlich um neun Uhr, anberaumt werden, reibungslos vonstattengehen und, dafür würde er während der Durchführung Sorge tragen, niemandem Anlass zur Klage bieten. Keine zwanzig Sekunden würde es dauern, die Strafe zu vollstrecken. Keine Minute würde vergehen zwischen dem gemeinsamen Verlassen der Zelle und dem jähen Hinabfahren des Delinquenten ins Bodenlose, zwischen letztem Geleit und Genickbruch, zwischen Fürsorge und Eindeutigkeit. Präzision lautete Ruperts oberstes Gebot, Sorgfalt und Umsicht waren entscheidend.

Zwischen achthundert und achthundertfünfzig Verurteilte und Verbrecher hatte er, als Arm des Gesetzes, im Laufe seines Lebens schon ins Jenseits befördert. Im Namen des Volkes, als Saubermann. Wie viele genau, wusste nur er allein und würde es, soweit möglich, niemandem verraten. Das ging nur ihn etwas an. Er war niemandem Rechenschaft schuldig. Wie viele davon Männer und wie viele Frauen gewesen waren, spielte keine Rolle und tat, selbst wenn man ihn danach gefragt hätte, nichts zur Sache. Wie viele davon womöglich unschuldig gewesen waren oder eine mildere Strafe verdient gehabt hätten, kümmerte ihn nicht. Und änderte auch nichts an seiner Einstellung. Das gehörte zu den Dingen, die nicht er zu beurteilen hatte. Sondern eine höhere Instanz.

Ihm genügte die Gewissheit, das absolut Richtige zu tun. Das Notwendige und Unvermeidbare. Etwas, für das nur jemand wie er infrage kam. Etwas, für das er ausersehen war. Etwas, das er aus dem Effeff beherrschte. Und fertigbrachte, ohne sich oder die ihm Anvertrauten unnötig zu besudeln. Etwas, worauf er stolz war und das er mit einem wohligen, nur ihm bekannten Ehrgefühl verband.

Somit erwachte Rupert an diesem Freitagmorgen, ohne geträumt zu haben. Ganz so wie geplant. Augenblicklich spürte er, wie die gewohnte Energie in seine Glieder fuhr, spürte die vertraute Anspannung, den Tatendrang. In Gedanken spielte er das kommende Wochenende durch, beruhigende, befriedigende Gedanken, fühlte sich gewappnet und stark.

Er war bereit.

Rupert Beaufort schlug die Augen auf. Und wusste sofort, was ihm heute bevorstand. Zum zigsten Male. Er war mit sich im Reinen. Die Lage war eindeutig: Bei ihm gab es auch nicht die geringste Persönlichkeitsspaltung, weder eine gute noch eine schlechte Seite. Unterscheidungen waren zwecklos. Denn immer war er Kneipenwirt und Vollstrecker zugleich. Ausschenker und Handlanger. Beide Metiers verlangten Genauigkeit und Ausdauer, Belastbarkeit und auch Menschenfreundlichkeit. Wirt sein und Henker sein: Das war gleichwertig. Beide Berufe bereiteten ihm Freude. Das merkte man ihm an – so umsichtig und beflissen wie er nun einmal war. Fleißig und eifrig: Dieses Zeugnis hätte ihm jeder Prüfer ausgestellt. Makellosigkeit und Professionalität zur Schau stellend, ohne jedoch irgendein Aufheben davon zu machen. Ganz gleich, was er tat, immer bemühte er sich um grundanständiges Handeln. Er erledigte, was man von ihm erwartete, blieb freundlich und unauffällig.

Einer eigenen Meinung enthielt er sich. Er war in der Lage, seinen Mund zu halten, wenn es darauf ankam, und mit Tatkraft zu Werke zu gehen, wenn es so weit war.

Dabei war es völlig egal, ob es sich darum handelte, ein frisches Bier zu zapfen, einen Brandy zu servieren, einen Aschenbecher zu leeren, einen Kartenspieltisch mit einem feuchten Lappen abzuwischen oder einem Gefangenen die Hände auf dem Rücken zu verbinden, bevor er ihn aus der Todeszelle zur Exekution führte. Bevor er ihm das Gefühl gab, sich keine Sorgen mehr machen zu müssen. Bevor er ihn behutsam zu seinem eigentlichen Bestimmungsort geleitete. Bevor er ihn von seiner Seelenpein erlöste.

Rupert blinzelte und atmete tief durch. Für einen kurzen Moment betrachtete er sein blasses und gleichförmiges, genau einundfünfzig Jahre altes Gesicht im länglichen Spiegel neben dem Kleiderschrank und war zufrieden, dass es keine besonderen Merkmale aufwies. Und nur erst wenige Falten. Rupert genoss seine offenkundige Durchschnittlichkeit, ja Unscheinbarkeit. Was er getan hatte und was er heute und morgen wieder tun würde, konnte man ihm nicht ansehen. Was er auf dem Kerbholz hatte, blieb unbemerkt. Er selbst sah sich als Ausbund an Unbescholtenheit und Tugend. Seine rekordverdächtige Hinrichtungsbilanz und sein Doppelleben hätte ihm, wie er da so lag, wohl niemand zugetraut, ausgeschlafen und in einen gestreiften Pyjama gewandet, das Kissen im Nacken hochgeschoben und sich selbst unwillkürlich zuzwinkernd, so als grüßte er einen alten Bekannten. Er wirkte wie jemand, der keiner Fliege etwas zuleide tun würde. Wie eine gute Seele, von der man sich nicht vorstellen konnte, dass sie jemals einem räudigen Hund einen Fußtritt versetzen oder gar einem kleinen Jungen eine Tracht Prügel verpassen würde.

Rupert und seine Frau hatten weder Kinder noch Haustiere.

Er spürte jetzt, wie unvermittelt Vorfreude in ihm aufstieg. Vorfreude auf die Reise nach London, Lust auf die Erfüllung seines Auftrags. Unbändige Lust. Noch einige Sekunden zögerte er das Aufstehen heraus.

Träume, wenn sie zu Ende geträumt wurden, machten ihm Angst. War er wach, breitete sich Zuversicht in ihm aus. In Träumen konnte man sich leicht verirren. Im Alltag hingegen fand er sich bestens zurecht.

Durch das weit geöffnete Fenster strömte frische, leicht salzige Luft ins Schlafzimmer. Es war empfindlich kühl für einen Sommertag, schließlich lagen Preston und Much Hoole nicht weit vom Meer. Die Irische See sorgte selbst im Binnenland stets für eine steife Brise. Doch die Sonne stand, auch wenn sie keine wohltuende Wärme verbreitete, schon hoch am Himmel. Grelles Licht tanzte auf dem Frisierspiegel, vor dem Ruth gestern Abend ihren Schmuck abgelegt hatte, und lockte ihn ins Bad. Draußen summten bereits die Bienen. Mit großem Eifer schwirrten sie durch Rosenbeete, Jasminsträucher und Hortensien, als wollten sie ihn ermuntern, endlich die Decke zurückzuschlagen. Was er nun auch, ein wenig ächzend, tat. Der Jüngste war er ja nicht mehr.

In der Ferne hörte er einen Zug rattern und sah, als er sich erhob und sein Blick automatisch über die Vorgärten auf die wenig befahrene Landstraße und den Rand des kleinen Dorfes fiel, wie die betagte Mrs Pennebaker vorm Haus gegenüber auf den Bürgersteig trat, um die im Briefkasten steckende Freitagszeitung hereinzuholen.

Er streckte sich, gähnte zweimal kräftig, hockte sich auf die Bettkante und schlüpfte in seine Pantoffeln. Griff nach dem Nachttopf, um ihn zu leeren, und schlurfte nach nebenan. Die Rasur beanspruchte nur wenige Minuten. Als Nächstes begab er sich zur Dusche und ließ, während er mit gekreuzten Beinen in der Wanne kauerte und ein Lied summte, das heiße Wasser eine Weile länger als nötig auf Kopf und Rücken prasseln. Zu guter Letzt schreckte er seinen bleichen Körper mit einem kalten Guss ab und eilte zu seinen bereitgelegten Sachen. Auf eine untadelige Garderobe, auf einen guten Anzug, einen schönen Hut und eine Reihe ausgesuchter Accessoires hatte Rupert stets größten Wert gelegt. Ihm war es, als Kind armer Leute, sehr wichtig, ein gepflegter Mann zu sein.

Ihm war es ganz allgemein wichtig, es zu etwas gebracht zu haben. Nützlich gewesen zu sein. Der Allgemeinheit zur Verfügung gestanden zu haben. Das, fand er, sah man ihm heutzutage ganz bestimmt an. An der Nasenspitze.

Ruth hatte sich lange vor ihm erhoben und war ins Erdgeschoss ihres bescheidenen Landhäuschens in Much Hoole entschwunden, in dem sie nun schon ein paar Jahre zufrieden lebten; er hörte sie in der Küche hantieren. Vielversprechende Aromen, von ihr mit viel Liebe in die Welt gesetzt, wirkten wie ein Magnet auf ihn, riefen ihn förmlich zu ihr hinunter, verschafften ihm sofort noch größere Lust auf sein Tagesgeschäft. Rupert hörte auch, als er sich abtrocknete und anzog, seine aufgezogene Taschenuhr in der Westentasche verschwinden ließ, die farblich abgestimmte Krawatte umband und ein sauberes Einstecktuch auswählte, den pfeifenden Teekessel und, ungleich undeutlicher, das Gebrabbel des Moderators, der die Morgennachrichten im Radio verlas. Irgendetwas mit einem neuen Theaterstück, das, wenn er richtig verstanden hatte, Blick zurück im Zorn hieß und morgen Abend im Londoner Theatre District Premiere haben würde.

Nun, Rupert war – wenn er sich’s recht überlegte – auf nichts und niemanden zornig. In ihm war keine aufgestaute Wut, die er irgendwo entladen oder an anderen auslassen musste. Sadistische Züge waren ihm fremd. Eigentlich hatte er konstant gute Laune. Ein kurzer Windstoß ließ das Fenster zufallen, das sich gleich wieder öffnete, wie von Zauberhand gelenkt. Kurz darauf vernahm er, wie erwartet, schließlich den fröhlichen Ruf seiner Frau. Das Frühstück war fertig. Es duftete verheißungsvoll. Zur Feier des Tages ein warmes Breakfast, mit allem Drum und Dran.

„Kommst du?“

Rupert ließ sich das nicht zweimal sagen, stieg die enge Treppe nach unten, kam der freundlichen Aufforderung seiner Frau am Küchentisch Platz zu nehmen nach, und genehmigte sich eine große Portion Baked Beans mit Blutwurst und Bacon. Ruth, noch im Morgenrock, hatte die Schlagzeilen bereits überflogen und danach einen Musiksender eingestellt, der leise vor sich hin dudelte. Lange vor ihm war sie mit dem Essen fertig, leistete ihrem Mann Gesellschaft, spottete über seinen ausgesprochen guten Appetit und musterte ihn mit ihrem kritischen, wohlwollenden Blick.

In ihren Augen las er eine gewisse Unruhe; sie sandten aber auch Signale der Ermunterung an ihn aus. Nachbarschaftstratsch und die Einnahmen des letzten Abends im Pub – mehr als zufriedenstellend – dominierten ihr unbefangenes Geplauder. Rupert murmelte zustimmend, hörte ihr nur mit halbem Ohr zu, nickte und kaute, klapperte mit dem Besteck und schlang seine Scrambled Eggs herunter.

Beiläufig erkundigte sie sich nach der Abfahrtzeit seines Zuges. Obwohl sie den Fahrplan genauestens kannte. Ansonsten stellte sie keine Fragen, beklagte sich nicht, ließ ihn in Ruhe, und Rupert liebte sie dafür. Für ihre Diskretion und ihr Verständnis. Für ihre Geschmeidigkeit und ihre unausgesprochene Bewunderung für sein Tun.

Wie er war Ruth ein Musterbeispiel an Verschwiegenheit. Dabei wusste er genau, dass sie alles wusste. Er wusste, dass selbstverständlich sie es war, die neulich den versiegelten Brief von der Gefängniskommission in Empfang genommen und ihn sogleich, wie sie es noch während der Kriegsjahre, gleich zu Beginn ihrer Ehe, stillschweigend vereinbart hatten, ohne Kommentar auf den Kaminsims gelegt hatte. Er wusste, dass sie wusste, was solche offiziellen Schreiben bedeuteten. Sie lagen da, damit er sie gleich sah, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. Von ihr platziert, wie ein Ausrufezeichen. Wie schon seine Mutter es bei seinem Vater und seine Tante bei seinem Onkel getan hatten. Um wortlos auf das Unabänderliche hinzuweisen.

Dutzende, Hunderte von Briefen, Telegrammen, Depeschen. Ungeöffnet hatten Ruth und ihre Leidensgenossinnen diese Schreiben dort hingelegt, ohne ihre Missbilligung kundzutun. Mit der Schreibmaschine getippte, im Behördenton verfasste Schreiben, die keine Worte der Zuneigung oder Anerkennung enthielten, nichts Persönliches. Schreiben, aus denen sich nichts vom bevorstehenden Grauen herauslesen ließ. Nur Daten, Termine, Floskeln, Anweisungen. Immer auf dem Kaminsims auf die Männer der Beaufort-Familie wartend. Und das ganze Leid der vorübergehend Alleingelassenen schon enthaltend, die sich nun ausmalen konnten, was sich während der Abwesenheit ihrer Gatten irgendwo da draußen im Lande abspielte. Was ihre Männer anstellten, zu welchen entsetzlichen Taten sie fähig waren. Fähig sein mussten. Als sei es ihnen vorbestimmt. Und doch befürworteten die Frauen diesen Dienst und die Geschehnisse, hießen sie gut, stärkten ihren Männern den Rücken, indem sie sie ihr Einverständnis spüren ließen.

Stumme Befehle waren diese Benachrichtigungen somit, Befehle, die einen Mechanismus in Gang setzten. Stumme Schreie, die tagelang in den Ohren der Ehefrauen gellten und das Blut ihrer Männer augenblicklich in Wallung brachten. Schreie, die an das Ehrgefühl dieser Männer und Frauen appellierten. Eindringlich, unbarmherzig, fatalistisch. Schreie wie dieser, der vorerst letzte in einer endlosen Reihe von Briefen. Anfang der vorangegangenen Woche war das gewesen.

Rupert hatte, als er ihn bei seiner Heimkehr mitten in der Nacht auf dem Sims entdeckt hatte, den Umschlag mit dem Finger aufgerissen, das Papier entfaltet und die kurze Mitteilung in wenigen Sekunden überflogen. Wandsworth, so lautete die entscheidende Information, die altehrwürdige Londoner Korrektionsanstalt. Wieder einmal Wandsworth, wo er sich auskannte wie in seiner Westentasche. Das Gefängnis Ihrer Majestät im Südwesten der Hauptstadt, das vor Kurzem, als noch nicht die blutjunge Elisabeth Königin, sondern der stotternde George König gewesen war, His Majesty’s Prison geheißen hatte.

Dort hatte er, wie er jetzt in Erfahrung brachte, als Chief Executioner einen Mann zu hängen, Mitte zwanzig, Italiener, klangvoller Name, künstlerischer Beruf, gutes Einkommen, keine Vorstrafen, Mord aus Leidenschaft.

„Ich fahre natürlich“, hatte er Ruth mit falscher Munterkeit zugerufen, und die Blicke der Eheleute hatten sich für eine Sekunde gekreuzt. „Nächsten Samstag.“

„Das heißt dann ja wohl, ich muss die Rose ganz alleine schmeißen“, hatte seine Gattin bloß entgegnet. Was nicht klang, als wäre die Aussicht auf diesen anstrengenden Abend gleich das Ende der Welt für sie. Und dann achselzuckend, aber nicht ohne einen bitteren Unterton, hinzugefügt: „Es sei denn, sie be­gnadigen ihn wieder.“

Rupert hatte eine Grimasse gezogen und gleichzeitig einen dumpfen Schlag in der Magengegend verspürt.

„Bloß nicht“, hatte er entgegnet, vernehmlich geseufzt und sich darangemacht, seine engen Schuhe aufzuschnüren, um sich vom langen Stehen im Lokal Erleichterung zu verschaffen.

Ruth hatte ihm dabei zugesehen. Wie damals, so überkam sie auch jetzt wieder, am Frühstückstisch, ein Gefühl der Zärtlichkeit. Nur zu genau wusste sie: Die Demütigung vom Vorjahr hatte er noch lange nicht verwunden.

Träumen, Wunschträumen anhängen und Fantasien durchspielen, das überließ er den anderen. Menschen, für die er seit Jahren den Helden spielte. Für die er der Rächer schlechthin war, einer, der für Wiedergutmachung sorgte. Von seinen glorreichen Taten ließ er schlichte Gemüter ruhig weiterträumen, die in ihm etwas Größeres, Bedeutenderes sahen, sehen wollten, dessen Glanz ein wenig auch auf sie abstrahlte. In erster Linie den Stammgästen in seiner Kneipe, die keinen Hehl aus ihrer Bewunderung für ihn machten. Und ihn wegen seiner biederen Manieren und Jovialität ungemein schätzten. Männer, die stolz darauf waren, jeden Abend nicht in irgendeinen, sondern in einen ganz besonderen Pub zu gehen, The Rose & Crown, einen Pub, wo eben er der Boss war, und sich bis zu einem halben Dutzend Pints zu genehmigen, einen Pub, dessen Pächter eine echte Berühmtheit war – die bloße Gegenwart des Pächters löste behaglichen Nervenkitzel bei ihnen aus.

Allen voran Stuart, sein treuer Kumpel noch aus den Tagen, als beide als Lieferanten arbeiteten und schwer anpacken mussten, Stuart Nicholson, der am liebsten jede Einzelheit brühwarm von Rupert erzählt bekommen wollte. Wäre sein gefeierter Freund doch nur ein einziges Mal bereit, seine makabren Geheimnisse preiszugeben. Und dabei in puncto Horror noch mit Ausschmückungen und Übertreibungen ordentlich einen draufzulegen.

„Spuck’s aus, Rupert“, flüsterte ihm Stuart, schon zu früher Stunde leicht beschwipst, mehr als einmal pro Abend vertraulich zu, wenn Rupert gerade wieder von einer Dienstreise zurück war, „wie war’s in Liverpool? Alles gut gelaufen? Oder hat der arme Hund dir etwa Scherereien bereitet?“ Rupert lächelte vielsagend zurück, krempelte die Ärmel hoch und machte sich, eine dicke Zigarre im Mundwinkel, hinter dem Tresen zu schaffen.

Stuart versorgte den „Publican“, den Gastwirt Rupert, sobald er sich eine Schürze umgebunden oder nach dem Geschirrtuch gegriffen hatte, auch mit Neuigkeiten, die er entweder in der Zeitung gelesen oder beim Schwatz auf der Straße aufgeschnappt hatte – von Verbrechen, Eifersuchtsdelikten und Raub­überfällen, die sich im Umkreis von Manchester, im fernen London, in Wales oder Schottland, manchmal gar ganz in der Nähe zugetragen hatten.

„Das ist wohl wieder ein Kandidat für dich, alter Junge“, meinte er dann grinsend, „warten wir’s ab, ob die Geschworenen mitspielen.“

Nicht selten erwiesen sich Stuarts Prophezeiungen als durchaus zutreffend, und besagte Missetäter zählten dann tatsächlich zu jenen unglücklichen Sündern, an denen Rupert die verkündete Höchststrafe „Tod durch den Strang“ einige Wochen später vornahm.

Stuart, von kriminalistischem Ehrgeiz beflügelt, träumte nach eigener Aussage oft davon, Rupert begleiten zu dürfen, hautnah dabei zu sein, dem Todgeweihten in die Augen zu blicken und ein zusätzliches Geständnis mit vielen pikanten Informationen zu entlocken, wenn es sich – wie zumeist – um eine Eifersuchtstat, um eine Kinderschändung oder einen Raubmord mit vorheriger Vergewaltigung, wenn es sich um „sex and crime“ handelte.

Dann war da noch Burt, ebenso wissbegierig und detailversessen, der stundenlang auf dem verstimmten Klavier im Rose & Crown für beschwingte Hintergrundmusik sorgte, Burt Ivins mit vollem Namen, dem es größtes Vergnügen bereitete, mit flinken Fingern zu klimpern und einen Ragtime nach dem anderen zum Besten zu geben. Burt, der Rupert bei seinen beliebten Gesangseinlagen kurz vor der Sperrstunde mit unermüdlicher Begeisterung begleitete und dafür dann und wann von ihm ein Ale ausgegeben bekam – Burt war die Neugier selbst.

Erpicht waren Burt und seinesgleichen auf Schauergeschichten. Auf blutrünstige Anekdoten. Hätten nur zu gern als Fliegen an der Wand beim Hängen zugeschaut, erschreckt gestarrt, wenn der Gehenkte nach Öffnen der Falltür in die Tiefe fuhr, oder, wer weiß, womöglich gern einmal selbst Hand angelegt.

Rupert wusste nur zu gut: Dazu wären sie nie und nimmer in der Lage gewesen. Weder zum Verhüllen des gesenkten Kopfes mit einem weißen Tuch, das einer Kapuze glich, noch zum richtigen Anbringen der Schlinge. Zum Abnehmen des leblosen Körpers vom Seil, den man weiter unten in Empfang zu nehmen hatte, zur andächtigen letzten halben Stunde also, ganz allein mit dem Kadaver des Missetäters, erst recht nicht. Sie hätten kalte Füße bekommen und sofort den Schwanz eingezogen, wenn sie an seiner Stelle gewesen wären. Maulhelden waren sie.

Obwohl er beide, Stuart wie auch Burt, mochte und ihre Loyalität schätzte. Auch weil er wusste, dass er sich vor ihnen nie rechtfertigen musste – seine Berechtigung zum Hinrichten würden sie zuallerletzt infrage stellen. Darüber hinaus wusste er, wie sehr es ihnen imponierte, dass er sich nie mit seinen Leistungen und Opferzahlen brüstete. Es schmeichelte ihm insgeheim, dass Ivins und Nicholson ihm so ergeben waren, wenngleich er doch in all den Jahren kein Sterbenswörtchen durchsickern lassen, nicht einmal eine Andeutung gemacht hatte. Und dass sie, auch wenn sie diesbezüglich bislang noch nie auf ihre Kosten gekommen waren, allabendlich allein seinetwegen eigens aus Oldham und Hollinwood anreisten. Was bemerkenswert war und ganz schönen Aufwand erforderte.

An der Qualität seiner Biere konnte es sicher nicht liegen. Die waren nichts Besonderes. Anständig und banal. Nein, seine Boys kamen wirklich gern. Sie mochten, ja liebten ihn, konnten keinen Abend ohne ihn zubringen. Es machte ihnen Spaß, sich als Ruperts Freunde auszugeben, Ruth, ohne es wirklich ernst zu meinen, schöne Augen zu machen und mit dem einen oder anderen jungen Mädchen, das gelegentlich in Begleitung vorbeikam, um im Stehen einen Port oder Sherry zu trinken, möglichst unbemerkt zu flirten. Ganz harmlos war das eigentlich alles.

Hätte jemand Burt und Stuart interviewt, so hätten sie sich, ohne zu zögern, als seine besten Freunde bezeichnet. Aber so jemand wie Rupert Beaufort hatte, wie er nur zu gut wusste, keine Freunde. Nur Bekannte. Das war auch besser so. Das war ihm wichtig, und das schützte ihn. In die Karten schauen ließ er sich von niemandem, und wenn überhaupt, dann nur von Ruth. Und auch von ihr nur ein ganz klein wenig.

Wenn sie ihm gar zu sehr auf die Pelle rückten mit ihrer Neugier, wenn Stuart ihn in die Zange nahm und Burt ihn erneut ausfragte, ja auszuquetschen versuchte, beugte Rupert sich über die Spüle, pfiff einen Gassenhauer, tat so, als sei er von einem anderen Gespräch im Raum abgelenkt, hielt ein abgetrocknetes Glas prüfend gegen das Licht oder beschäftigte sich so lange gedankenverloren mit dem Zapfhahn, bis sie von ihm abließen.

Irgendwann, meist erst zu später Stunde, wenn sie merkten, dass sie wieder nichts aus ihm herausbekommen würden, gaben sie Ruhe, fast zufrieden, dass der Publican nun doch nicht zum Schwätzer geworden war. Dann jedoch trat ihr berühmter Buddy in den Schankraum und war nicht länger zerstreut, wandte sich leutselig einem anderen Gast zu, spazierte von Tisch zu Tisch, ließ joviale, aber folgenlose Bemerkungen fallen und seinen angeborenen Charme spielen. Dass er so gut mit Menschen konnte, die ihm überhaupt nicht am Herzen lagen, die ihm sogar gleichgültig waren, dass er Warmherzigkeit versprühte und mit seinem unverbindlichen Small Talk eine gemütliche Atmosphäre herzustellen vermochte, war der Hauptgrund dafür, dass der Pub immer gut gefüllt war und die meisten Gäste nur sehr ungern von dannen zogen, wenn die Uhr elf geschlagen hatte.

„Du hast sie wieder über den Tisch gezogen“, pflegte Ruth dann anerkennend zu ihm zu sagen, während sie das Geld zählte und er vor dem Ausfegen die Stühle auf die Tische wuchtete, „du bist einfach ein schlauer Fuchs.“

Rupert musste sich indessen gar nicht eigens um eine freundliche Taktik bemühen. Diesen Gelassenheitspanzer, diese Rüstung aus Friedfertigkeit und Liebenswürdigkeit hatte er sich schon vor einer halben Ewigkeit zugelegt. Dieser Selbstschutz funktionierte einwandfrei.

Besonnenheit war seine große Stärke. Nie über den Durst trinken, nie ungefragt ins Erzählen geraten. Nie die Fassung verlieren. Einfach nur nett sein und gesellig. Zuhören. Nicken und von Zeit zu Zeit beipflichtende, triviale Bemerkungen anbringen. Für jeden ein freundliches Wort überhaben.

Mit Leuten umzugehen, das lag ihm von jeher im Blut. Und wenn sie, bei seinen musikalischen Darbietungen buchstäblich an seinen Lippen hängend und ihn mucksmäuschenstill anstarrend, nach dem dritten Rausschmeißer, johlend und wie wild klatschend, noch eine weitere Zugabe verlangten, kam er erst richtig in Fahrt, drehte auf und gab seinem Affen Zucker. Ließ seinen sonoren Bariton ertönen und versorgte sie mit noch einem herzzerreißenden Matrosenliedchen, noch einer irischen Volksweise, noch einer schottischen Ballade, noch einer anzüglichen Moritat, noch einem inbrünstig vorgetragenen Love Song.

Dann tat er ihnen eben den Gefallen. Sein Repertoire – frivole Gassenhauer, Folklieder, bluesige Nummern – war ja unerschöpflich. Sie jubelten. Sie himmelten ihn an.

Beaufort, der war einfach einmalig.

Ein Pfundskerl.

Ein Held noch dazu.

Ein Glücksfall.

Wir sind so froh, dass wir ihn kennen.

Einer von uns.

So hörte er sie raunen und schwärmen.

So manches Männerauge wurde feucht, wenn er seine Stammgäste zum Abschied kurz umarmte und sie damit für den Bruchteil einer Sekunde zu Privilegierten machte. Nie zu lange, stets ohne sentimentale Anwandlung.

Rupert beherrschte die Kunst der richtigen Dosierung von Distanz und Zutraulichkeit. Verfügte – nicht nur beim Hängen – über ein unnachahmliches Timing. Und er wusste, morgen würden sie gleich nach Lokalöffnung wieder zur Stelle sein. Todsicher um Einlass bitten. Zu ihm aufschauen und um seine Gunst buhlen. Das war eine Genugtuung für ihn. Danach konnte er die Uhr stellen.

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