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KLEINE REIHE Theodor-Heuss-Gedächtnis-Vorlesung 2013

Bundespräsident Joachim Gauck

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Über repräsentative Demokratie, Bürgersinn und die Notwendigkeit des Erinnerns

STIFTUNG BUNDESPRÄSIDENT - THEODOR - HEUSS - HAUS

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BUNDESPRÄSIDENT JOACHIM GAUCK

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Über repräsentative Demokratie, Bürgersinn und die Notwendigkeit des Erinnerns

Eine Gedächtnisvorlesung darf vieles sein: Erinnerung und Dank, Bühne für Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Als Bürger Gauck hätte ich vielleicht eine Freiheitsrede gehalten auf Theodor Heuss, den großen Liberalen. Nun aber komme ich zu Ihnen als Bundespräsident. Ich komme mit großer Freude und rede nicht einfach nur als Bürger Gauck, sondern als Amtsnachfolger jenes Mannes, der einmal sagte: »Ich gebe keine Richtlinien, ich gebe Atmosphäre.«[1]

Damit bin ich nicht ganz zufrieden, mit dieser Selbsteinschätzung. Ich verbuche sie unter schwäbischen Humor. Theodor Heuss war einer jener großen Politiker – das wissen wir doch alle –, der der bundesdeutschen Demokratie den Weg gebahnt hat. Und nicht nur über die Demokratie hat er wichtige Dinge neu vermittelt. Er hat auch für eine Erinnerungskultur geworben, die sich später als etwas herausstellen sollte, das geistiger Besitz eines erneuerten Deutschlands wurde. Weil er für diese Erinnerungskultur ein Fundament gelegt hat, kann ich den Satz mit der Atmosphäre überhaupt nicht akzeptieren. Und wenn ich nachlese, wie er über die repräsentative Demokratie gesprochen hat, dann will ich ebenfalls nicht nur über Atmosphäre sprechen. Schließlich will ich über unsere Bürgergesellschaft nachdenken und darüber, was daraus geworden ist.

I.

Bis zur Gründung der Bundesrepublik hatte Theodor Heuss seine Grundüberzeugungen entwickelt: Er stand zum deutschen Weststaat – anders als viele andere Deutsche damals. Den provisorischen Charakter zu unterstreichen, das hätte für ihn bedeutet, die Handlungsfähigkeit und Autorität dieses neuen Staates zu untergraben. Er befürwortete zudem eine starke Kompetenz des Bundes, denn er fürchtete die Übermacht der Länder. Er warb für eine und vertrat eine repräsentative Demokratie – und er hielt die plebiszitären Elemente angesichts der historischen Situation und angesichts der Größe Deutschlands durchaus für schädlich.

Manches hat sich durch die historische Entwicklung erübrigt. Deutschland ist wiedervereinigt. Das Verhältnis zwischen Bund und Ländern ist trotz mancher Debatten wohl geordnet: Im Westen wurde es erprobt, im Osten wurde es 1989 schon erwünscht und dann auch gern übernommen. Heuss‘ Haltung gegenüber der direkten Demokratie dürfte heute allerdings kontroverser sein als damals.

Heuss sah im parlamentarischen System »die Erziehungsschule der politischen Verantwortung«. Dem Sozialdemokraten Walter Menzel, der zu den wenigen zählte, die Volksinitiative und Volksbegehren in das Grundgesetz aufnehmen wollten, entgegnete Heuss 1948: »Cave canem! Ich warne davor, mit dieser Geschichte die künftige Demokratie zu belasten.« Das Volksbegehren drohe in der »großräumigen Demokratie« und in der »Zeit der Vermassung und Entwurzelung«, so Heuss, eine Trophäe der Volksverführer zu werden.[2]

»Es wäre mir unsinnig erschienen«, erklärte er sieben Jahre später, »dem deutschen Volk in seinem soziologisch und seelisch so amorphen Zustand wieder eine Gesetzgebung herzustellen, die für jeden Demagogen, für jede demagogische Forderung einfach eine Lockung und eine Prämie anbietet.«[3] Heuss, der 1932 noch emphatisch die Direktwahl des Reichspräsidenten befürwortet hatte, riet 1949 dann dringend von der Direktwahl eines Bundespräsidenten ab. Ja, da begegnet uns ein Misstrauen, das wir heute nicht teilen mögen, aber das wir verstehen können.

Bezeichnend sind die Umfragen aus den ersten Nachkriegsjahren, denen zufolge mehr als 55 Prozent der Westdeutschen die Ansicht vertraten, der Nationalsozialismus sei prinzipiell eine gute Idee gewesen, nur schlecht ausgeführt. Ja so ist das. Ich kenne ein ähnliches Bevölkerungsverhalten nach dem Ende der DDR. Ganz ähnliche Zahlen. Ich will die Systeme nicht gleichsetzen, aber gleichsetzen kann man durchaus die Langsamkeit von Mentalitätswandel. Mentalitätswandel braucht seine Zeit – und ich denke, Theodor Heuss hat sich dieses Bewusstsein nicht wissenschaftlich erarbeitet, er hatte das im Gefühl. Weil er mit seinen Landsleuten auch die Prägungen der Zeit, die nun vergangen war, gespürt hatte. Er war ein Zeitgenosse, er musste sich die Dinge nicht erarbeiten, die ihm intuitiv bewusst waren.

Plebiszite waren nach dem Krieg diskreditiert, weil ihre Instrumentalisierung durch den NS-Staat noch in allzu guter Erinnerung war. Die meisten von uns wissen das heute nicht mehr, die historisch Interessierten schon: Adolf Hitler hat die Bürger bei der Reichstagswahl 1933 zeitgleich über den Austritt aus dem Völkerbund abstimmen lassen. Und nur wenig später ließ er sich auch in einer Volksabstimmung die Zusammenlegung der Ämter von Reichskanzler und Reichspräsident bestätigen.

Angesichts solcher Umstände in der gerade zurückliegenden Zeit sollte dem Wahlvolk der frühen Bundesrepublik allein zugestanden werden, gegebenenfalls über die Neugliederung des Bundesgebiets zu entscheiden. Und so hatte auch Theodor Heuss nichts einzuwenden, dass hier eine Volksabstimmung stattgefunden hat, ob die Badener und die Württemberger 1951 tatsächlich einen neuen gemeinsamen Südweststaat haben sollten.

Heute ist die Sorge vor einer unaufgeklärten Volksseele geschwunden. Viele Bürgerinnen und Bürger sind politisch interessiert. Sie sind informiert, sie sind demokratisch gefestigt – und stehen nicht in Versuchung, sich eine autoritäre Regierung herbeizuwählen. Sie tun, was in einer Demokratie nötig ist: Sie mischen sich ein in die öffentlichen Angelegenheiten, in die »res publica«. Sie wollen nicht nur betroffen, sondern sie wollen beteiligt sein.

Plebiszit als kreativer Impuls, der Bewegung in verkrustete Strukturen und Denkmuster bringt.

Plebiszitäre Elemente sind in Deutschland weit verbreitet. Sie sind es in den Bundesländern, sie sind es auf lokaler Ebene. Sogar in den Parteien haben wir jüngst ein sehr attraktives Beispiel, wie die meisten finden, erlebt. Plebiszitäre Elemente sind also Realität. Hier wurden gute Erfahrungen gemacht mit direkter Demokratie. Es lassen sich Sachfragen oft hautnah lösen, sie werden hautnah erlebt. Es bedeutet besonderes Engagement, bei einer Lösung mitzuwirken. So kann die Bevölkerung aktiviert werden. Oftmals wissen die Bürger vor Ort ja sehr genau, wo die Probleme liegen.

Nun aber kreist die Debatte darum, ob auch der Bund mehr direkte Demokratie braucht. Fürsprecher finden sich in verschiedenen Parteien. Sogar in den jüngsten Koalitionsverhandlungen spielte diese Frage eine Rolle. Es wurde darüber beraten. Volksentscheide sollen ja eigentlich dazu da sein, die Politik das Laufen zu lehren. Basisdemokratie gilt als innovatives Element, als Jungbrunnen der Demokratie: Plebiszit als kreativer Impuls, der Bewegung in verkrustete Strukturen und Denkmuster bringt – und zwar in jenen vier langen Jahren, die es abzuwarten gilt, bevor die Bürger wieder einen Stimmzettel in die Urne werfen dürfen.

Ich selber habe in diesem bürgerbewegten Herbst 1989, der heute schon angesprochen worden ist, ganz intensiv empfunden – und manchmal auch geäußert –, dass Misstrauen gegenüber unserer Bevölkerung längst nicht mehr angezeigt sei. Und als in den vergangenen Jahren der Überdruss an der Politik zum Thema wurde, da erschien auch mir die Beteiligungsform der Volksabstimmung geradezu als Verheißung.

Mehr Einbeziehung, so hoffte ich mit den Anhängern plebiszitärer Elemente auf Bundesebene, bedeute auch gleichzeitig weniger Entfremdung zwischen Staat und Bürger. Und darum muss es uns ja immer wieder gehen. Untersuchungen belegten zudem für verschiedene Staaten, dass direkte Demokratie Bürger tatsächlich zufriedener macht – oft sogar die Verlierer von Abstimmungen. Es fällt offenbar leichter, sich in eine Niederlage zu fügen, wenn man selbst aktiver Teil der Kontroverse war, als sich einem Beschluss unterzuordnen, den andere getroffen haben. Dieser Satz ist freilich in Berlin formuliert worden und nicht in Stuttgart. Richten wir einen Blick in unsere Nachbarschaft. In der abstimmungsfreudigen Schweiz stieg die Zufriedenheit mit der Demokratie in jenen Kantonen noch an, in denen Referenden und Initiativen häufiger als andernorts eingesetzt wurden. So wird der Wunsch verständlich, über Volksentscheide quasi automatisch mehr Demokratie und stärkere Berücksichtigung des Volkswillens zu schaffen.

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