Gott in der Welt feiern

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Sari: Edition IGW #3
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1.2 Gottesdienst in der Erlebnisgesellschaft

Als bewusste Alternative zu den Kasualiengottesdiensten verstehen sich all jene Vorschläge zur Gottesdienstgestaltung, die sich darum bemühen, den modernen Menschen da abzuholen, wo er sich wirklich befindet. Einen „menschengerechten Gottesdienst“ fordert beispielsweise Winfried Blasig (1981). Im Zeitalter der Unterhaltung ist persönliches Erleben von zentraler Bedeutung. Die Erlebnisgesellschaft unserer Tage verlangt nach der Befriedigung persönlicher Erlebnisbedürfnisse.6 Der Gottesdienst kann und soll, so wird argumentiert, jenen religiösen Raum bieten, wo die Erlebnisdefizite auf spiritueller Ebene abgebaut werden.7 Wo Unterhaltung zum Gestaltungsprinzip des gesellschaftlichen Daseins erhoben wird, muss der Gottesdienst zur Unterhaltung werden. Der Gottesdienst wird somit zu einem Kunstwerk (Grözinger 1998:98ff), zu einer „theatralischen Inszenierung“ (Kunz 2006:65), die „fantastisch inszeniert ist, die Menschen in Staunen versetzt, aber keine […] praktischen Konsequenzen zur Folge hat“ (Beck 2007:47).

Doch ist eine solche Schlussfolgerung nicht auch gefährlich? Ist eine Veranstaltung, in der die Besucher ihren spirituellen Kick bekommen, allein deshalb Gottesdienst, weil es hier um Spiritualität geht? Und ist der Geist der Unterhaltung gleichzusetzen mit der Gegenwart des Heiligen Geistes? Oder muss man vielmehr davon ausgehen, dass die Unterhaltungsmentalität am Ende zum Leichenhaus der Kirche wird? Mit dem berühmten Buchtitel von Neil Postman (2000) gesprochen, amüsieren wir uns nicht auch in der Kirche zu Tode, wenn wir unsere Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie dem Zeitgeist überlassen? Nicht wenige vermuten genau das, wie H.-G. Heimbrock in seinem Artikel „Gottesdienst in der Unterhaltungsgesellschaft“ anschaulich darstellt (Heimbrock 1999:143f).

Und offen gefragt: Womit unterscheiden sich denn Erlebnisgottesdienste von jenen verpönten traditionellen Kasualgottesdiensten? Wesentlich geht es doch hier wie da darum, dass der Mensch auf seine Kosten kommt. Hier wie da wird in der Religion eine Quelle ausgemacht, die man für sich persönlich nutzbar machen kann. Hier wie da ist der Mensch selbst im Zentrum dessen, was wir Gottesdienst nennen.

Könnte es sein, dass gerade hier das eigentliche Problem verborgen liegt? Könnte es sein, dass wir eine radikale Wende vollziehen müssen, wenn wir zu einer anderen geistlichen Qualität des Gottesdienstes in unseren Kirchen und Freikirchen kommen wollen?

1.3 Was ist Gottesdienst?

Theo Sorg kommt in seinen Überlegungen zum Thema Gottesdienst zur entscheidenden Feststellung: Es kommt darauf an, was denn die Kirche mit ihrem Gottesdienst will (Sorg 1987:55). Gottesdienst muss Gottesdienst bleiben. Aber was heißt das? Wie sehen Gottesdienste aus, wenn sie so ablaufen, wie sie biblisch gesehen sein müssten? Was findet da statt? Wie werden sie gestaltet, wie geleitet? Mit anderen Worten – was ist das Wesen des evangelischen Gottesdienstes; eines Gottesdienstes, der vom Evangelium her kommt und Gottes ursprüngliche Vision wiedergibt?

„Was Gottesdienst ist, das weiß doch jeder“, wird man vielleicht sofort einwenden. Berge von Büchern sind dazu bereits geschrieben und publiziert worden. Warum also die Mühe? Ich bin nicht sicher, ob die Fülle an Literatur eine eindeutige Antwort geben kann. In den christlichen Gemeinden, die ich besuche, staune ich über die allgegenwärtige Unkenntnis zum Thema. Will man aber Erneuerung, dann muss zu allererst der Status quo geklärt werden. „Wir sind dem Leben aus Gott entfremdet“, sagt der Apostel Paulus, „aufgrund unserer Ignoranz und der Verhärtung des Herzens“ (Eph 4,17f). Wir müssen erst einmal die Ignoranz und die Verhärtung der Positionen notieren, bevor wir diese verändern können. „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch freimachen“, dieser Grundsatz Jesu (Joh 8,32) gilt auch hier.

Was ist also unser Gottesdienstverständnis? Was ist Ihr Gottesdienstverständnis? Folgende Übung soll Ihnen helfen, Klarheit zu gewinnen. Bitte ergänzen und vervollständigen Sie folgende Sätze:

Unter Gottesdienst verstehe ich:

Zu einem richtigen Gottesdienst gehören unbedingt folgende Elemente:

Folgende Personen spielen im Gottesdienst eine entscheidende Rolle:

Meine Rolle im Gottesdienst ist:

Gottes Rolle im Gottesdienst ist:

Es wäre hilfreich, wenn Sie diese Fragen auch Ihren Mitchristen in der Gemeinde stellen würden. Ideal wäre es, wenn sogar die Gesamtgemeinde einmal darauf antworten würde.

Jeder Weg hat einen Anfang. Der Weg der Erneuerung nimmt seinen Anfang immer an dem Punkt, wo die zu erneuernde Wirklichkeit bloßgestellt wird. „Perestroika beginnt mit Glasnost“, dieser Satz des ehemaligen Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der UdSSR, Michail Gorbatschow, der eine radikale Neustrukturierung der Welt eingeleitet hat, bleibt auch in unserem Zusammenhang in Kraft. „Perestroika“ bedeutet Transformation, „Glasnost“ heißt Transparenz. Veränderung beginnt also mit Offenheit und Ehrlichkeit.

Und dann fragen Sie einmal Menschen, die keinen christlichen Gottesdienst besuchen: Was denken sie darüber, was in den vier Wänden Ihrer Kirche Sonntag für Sonntag stattfindet? Fragen Sie Nachbarn in der unmittelbaren Umgebung Ihrer Kirchengemeinde. Sie werden staunen, was diese alles für möglich halten!

Und dann vergleichen Sie Ihre eigenen Vorstellungen mit denen anderer Menschen. Sind diese Vorstellungen kompatibel? Wird den Menschen geboten, was sie erwarten oder vermuten? Wenn nicht, dann sind Probleme vorprogrammiert. Warum sollten Menschen in eine Veranstaltung gehen, die sie missverstehen? Warum sollten sie von Gottesdiensten begeistert sein, die ihnen nichts sagen?

Und schließlich ist da ja noch Gott. Was denkt er über Gottesdienst? Wollte und will er das, was wir Gottesdienst nennen? Wenn ja, wo finde ich in der Bibel eine entsprechende biblische Bestätigung? Oder hat auch er sich längst aus unserer Mitte verabschiedet, weil er in der Veranstaltung, die wir anbieten, für sich selbst keinen Platz findet?

Zugegeben, es sind einfache und direkte Fragen. Sie sind leicht zu beantworten. Doch leider wird genau das kaum gemacht. Wagen Sie es!

Die Lektüre dieses Buches wird eine andere Qualität erhalten, wenn Sie jetzt erst einmal nicht weiter lesen, sondern die vorgeschlagene Übung machen. Und wenn Sie damit fertig sind, füllen Sie die Tabelle auf der folgenden Seite aus. Vergleichen Sie die einzelnen Aussagen miteinander. Wenn Sie Widersprüche und Spannungen in den Aussagen ausmachen, notieren Sie diese in der Spalte „Spannungen“.


Gemacht? Klasse! Jetzt gehen wir an die Arbeit. Welche Fragen in Bezug auf den Gottesdienst sind bei Ihnen offen? Welche Fragen sollte dieses Buch beantworten? Notieren Sie sich diese Fragen!

Kapitel 2
Keine Gemeinde ohne Gottesdienst
2.1 Die Korrelation Gemeinde und Gottesdienst

Nichts ist so typisch für eine christliche Gemeinde wie der Gottesdienst. Wo immer sich Christen versammeln, feiern sie zusammen Gottesdienst. Das war seit Anbeginn des Christentums so. Der Gottesdienst ist „das wichtigste Treffen der Gemeinde“ (Kuen 1998:1). Theo Sorg schreibt dazu:

Würden durch äußeren Druck oder Krieg alle Kirchen geschlossen und keine Glocken mehr läuten, so kann doch eine Gemeinde ohne die Versammlung im Namen Jesu nicht wirklich Gemeinde sein. Sie kann in Roms unterirdischen Katakomben oder in einem sibirischen Arbeitslager zusammenkommen, aber versammeln muss sie sich. Die christliche Gemeinde und ihr Gottesdienst sind nicht voneinander zu trennen (Sorg 1987:54).

Eindrücklich beschreibt Plinius, der Abgesandte des römischen Kaisers Trajan, das gottesdienstliche Geschehen unter Christen, die er um das Jahr 110 am Schwarzen Meer kennenlernt:

Sie versammeln sich gewöhnlich an einem festgesetzten Tag vor Sonnenaufgang und singen Christus als ihrem Gott im Wechsel Lob; und verpflichten sich mit einem Eid, nicht etwa zu irgendeinem Verbrechen, sondern geradezu zur Unterlassung von Diebstahl, Raub, Ehebruch, Treulosigkeit und Unterschlagung von anvertrautem Gut. Danach ist es bei ihnen Brauch gewesen, auseinanderzugehen und später wieder zusammen zu kommen, um ein Mahl einzunehmen, allerdings ein ganz gewöhnliches und unschuldiges.8

Die unmittelbare Verknüpfung zwischen Gottesdienst und Leben der Christen ist hier deutlich evident. Gottesdienste gehören damit zur eigentlichen Mitte dessen, was eine christliche Gemeinde ist. Die heute weit verbreitete Haltung, dass Christsein auch ohne Gottesdienst möglich wäre, ist biblisch nicht zu halten. Unmissverständlich lehrt uns der Schreiber des Hebräerbriefes:

„Verlasst eure Gemeindeversammlungen nicht, wie es sich einige angewöhnt haben, sondern ermahnt euch gegenseitig, und das um so mehr, als ihr seht, dass sich der Tag neigt“ (Hebr 10,25).

Und Eberhard Hahn fasst die Theologie des Gottesdienstes im Neuen Testament zusammen und schreibt:

„Wo der Gottesdienst nicht im Zentrum der Gemeinde und des persönlichen Christenlebens steht, da regiert bald Gesetzlichkeit, Krampf oder Zwang. Alles kommt darauf an, dass die Prioritäten richtig gesetzt werden“ (Hahn 1998:7).

 

Walt P. Kallestad, Gemeindepastor aus den USA, bezeichnet den Gottesdienst mit Recht als „das Herz der Gemeinde“ (Kallestad 2002:88).

Doch was ist Gottesdienst? Wie verstehen wir in der Gemeinde Gottesdienst? Einen Gottesdienst zu leiten, ohne zu verstehen, was er ist, wäre mehr als fatal.

Gottesdienst steht für eine wöchentliche religiöse Veranstaltung, die in der Regel von den Christen am Sonntag, den Juden am Samstag und den Muslimen am Freitag veranstaltet wird.9 Inhalt, Formen und Gestaltung des Gottesdienstes unterscheiden sich zum Teil erheblich voneinander, je nachdem, wo man gerade in dieser Welt lebt.10 Doch was ist Gottesdienst biblisch gesehen? Wie sehen die Autoren des Alten und Neuen Testaments Gottesdienst? So einfach die Frage, so kompliziert die Antwort.

2.2 Gottesdienst aus der Sicht des NT

Eine einheitliche Sicht dessen, was die Bibel unter Gottesdienst versteht, vor allem unter der einen „richtigen“ Form des Gottesdienstes, fehlt in der Schrift. Diese Tatsache wird von verschiedenen Autoren unterstrichen.11 Das NT lehnt sich nicht an die in der Antike bekannten Vorstellungen vom Gottesdienst an. Die von Jesus bevorzugte Form der Versammlung im Haus ließ die Gemeinde zu einer Art „Oikosgesellschaft“ werden, die keine Parallelen kennt, wie Gehring sie einmal bezeichnet hat (Gehring 2000:51ff).

Der neutestamentliche Gottesdienstbegriff hat eine doppelte Bedeutung, die sowohl die Versammlung als auch eine im Alltag gelebte Haltung des Gehorsams meinen kann.12 Es geht hier um den Vollzug des Glaubens. Volker Gäckle kann daher mit Recht über die apostolischen Gemeinden schreiben:

„Die Gemeinden ‚lebten‘ Gottesdienst im ganzheitlichen Sinne, integriert in ihren Alltag“ (Gäckle 2005:39).

Die alten Griechen bezeichneten ihre religiösen kultischen Dienste, die sie einer Gottheit gegenüber brachten, mit dem Wort latrea. Das Verb latreuein steht für kultisches Dienen und wurde von den Übersetzern des AT nur an vier Stellen verwandt – Jos 22,27; Ex 12,25.26; 13,5. Dabei geht es um die kultische Verehrung Jahwes, vor allem durch Opfer.13 Wichtig hierbei ist die innere Haltung des Opfernden. Der Gottesdienst ist demnach nicht nur eine äußere Opferhandlung, sondern schließt bewusstes Teilnehmen am Gottesdienst mit ein. Opferbereitschaft setzt also Hingabe voraus.

Im NT kommt der Begriff latreia an fünf Stellen in drei Büchern vor: Joh 16,2; Röm 9,4; 12,1; Hebr 9,1.6. Charakteristisch für den Gebrauch des Begriffs im NT ist die Ausweitung der kultischen Verehrung auf die Hingabe des Lebens an Gott (vgl. Röm 12,1). Das Opfer kann hier sowohl ein Gebetsopfer (Lk 2,37; Apg 26,7) als auch die Hingabe des Leibes (Röm 12,1) meinen, so Kittel (1942:65). Daraus wird anschaulich deutlich, wie schwierig eine direkte Übernahme dieses griechischen Terminus als Bezeichnung für den Gottesdienst der ersten Christen war. Konsequenterweise sprachen die ersten Christen daher auch nicht vom Gottesdienst, wenn sie zusammenkamen, sondern benutzten Umschreibungen, wie „Zusammenkommen im Namen Jesu“, „Brot brechen“ (Apg 2,42), „sich versammeln“ (Apg 4,31; 13,44; 14,27; 1Kor 5,4; 11,17f; 14,23–26) oder „Versammlung“ (Hebr 10,25; Jak 2,2). In 1Kor 14,26 wird eine solche gottesdienstliche Versammlung mit folgenden Worten beschrieben:

„Wenn ihr zusammenkommt, so hat jeder einen Psalm oder eine Lehre oder eine Offenbarung oder eine Zungenrede oder eine Auferbauung. Lasst es alles zum Aufbau der Gemeinde dienen.“

Die Gemeinde kommt also zusammen, um Gemeinde zu sein. Wohl am deutlichsten findet dieser gottesdienstliche Charakter der Gemeinde in ihrer Selbstbezeichnung als Versammlung – griechisch ekklesia – seinen Ausdruck.

Andere Begriffe, die in der Bibel zur Beschreibung des Gottesdienstes gebraucht werden, sind Ehre (Verherrlichung), Herrlichkeit (Verherrlichung), Anbetung und Liturgie. Diese bestimmen den Inhalt des Gottesdienstes des Volkes Gottes. Was bedeuten sie?

a) Gottesdienst ist Verherrlichung Gottes. Im AT wird hierfür das hebräische Wort kabod gebraucht. Das Wort bedeutet Ehre, Gewicht und Herrlichkeit. In Jes 6,3 wird dieser Begriff in der gottesdienstlichen Formel gebraucht, die da heißt: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen; die ganze Erde ist erfüllt von seiner Herrlichkeit.“ Im NT wird dieser Sachverhalt mit dem Wort doxa wiedergegeben (Segler 1996:6). In Lk 2,14 heißt es beispielsweise: „Herrlichkeit ist bei Gott in der Höhe und Friede auf Erden …“ Der Gottesdienst ist somit ein Ereignis, bei dem Gott erhoben und seine Ehre und Herrlichkeit unterstrichen werden (:6). Es ist im wahren Sinne des Wortes ein doxologisches Ereignis, eine Feier. Segler hat recht, wenn er schreibt:

„Gottesdienst ist essenziell die Feier der Taten Gottes in der Geschichte – Gottes Schöpfung, Gottes Fürsorge, Gottes Bund der Erlösung; Gottes erlösende Offenbarung in der Fleischwerdung Jesu Christi, dem Kreuz, der Auferstehung und der Manifestation der Macht Gottes durch das Kommen des Heiligen Geistes“ (:6).

b) Gottesdienst ist Anbetung Gottes. Das Wort shachah wird im AT für Anbetung gebraucht. Es bedeutet den Akt des sich „Herabbeugens“ und „Niederfallens“. Als die Israeliten hörten, dass Gott zu Moses gesprochen hatte, da fielen sie auf ihr Angesicht und beteten an (Ex 4,31). Im NT wird shachah mit dem griechischen Wort proskyneo übersetzt. Jesus gebrauchte den Begriff zum Beispiel in Joh 4,24, als er der samaritanischen Frau sagte: „Gott ist Geist und die ihn anbeten, müssen ihn in Geist und Wahrheit anbeten.“ Im Gottesdienst soll daher gerade der Anbetung ein wichtiger Platz eingeräumt werden.

c) Aber Gottesdienst ist nicht nur ein Ritual der Anbetung und Bewunderung Gottes. Er ist ein Ereignis der Begegnung zwischen Gott und Mensch. Er ist ein Ort der Offenbarung Gottes und der Antwort des Menschen. Diese Begegnung ist weder zeitlich noch räumlich begrenzt. Sie erschöpft sich nicht mit einer Veranstaltung, sondern zielt auf das ganze Leben des Menschen. Gottesdienst ist Dienst an Gott. Der neutestamentliche Begriff hierfür ist leitourgia. Der Begriff heißt wörtlich „Dienst der Menschen“ und wird bereits in der griechischen Kultur für das religiöse Zeremonial gebraucht. Im NT wird leitourgia verwendet zur Beschreibung des Dienstes der Priester (Lk 1,23), es qualifiziert den Dienst Jesu Christi (Hebr 8,6) und den Dienst der Gemeinde (Apg 13,2). Paulus beschreibt das Leben im Glauben als Dienst an Gott (Gal 5,22) und fordert die Opferung des Leibes für den Dienst Gottes (Röm 12,1; Segler 1996:6). Der Gedanke des Opfers ist sowohl im AT wie auch im NT ein zentraler Ausdruck für den Gottesdienst. Der Psalmsänger ruft den Gläubigen auf, alle Ehre Gott zu geben, ihm zu opfern und so in seinen Vorhof einzutreten (Ps 96,8). Opfer waren hier materielle Opfer, entsprechend dem Opfergesetz Israels. Im NT ist damit die totale Hingabe des eigenen Lebens an Gott und seinen Dienst gemeint (Phil 4,18; Röm 12,1).

d) Gottesdienst ist also ein konstituierendes Ereignis der ekklesia, der Versammlung von Menschen, die zur Verantwortung gerufen werden. In ihrem Versammeltwerden werden sie zu dem, was sie sein sollen! Den Gottesdienst als bloße kirchliche Veranstaltung für religiös interessierte Menschen zu deklarieren, bedeutet am eigentlichen Wesen dessen, was der neutestamentliche Gottesdienst ist und sein will, vorbei zu handeln. Erst die theologische Positionierung des Gottesdienstes macht die praktische Gestaltung des Gottesdienstes möglich.

e) Gottesdienst als Versammlung von Menschen ist jedoch nicht nur Gott-, sondern auch menschenzentriert. Hier begegnen Menschen Gott, indem sie einander begegnen. Wolfgang Klippert spricht daher mit Recht von dem einen Gottesdienst mit zwei Zielen (Klippert 2000:13f). Es geht im Gottesdienst um Gott und seine Ehre. Und es geht im Gottesdienst um den Menschen und seine Wiederherstellung.

2.3 Ekklesia – die Versammlung der Verantwortungsträger

Der Gottesdienst konstituiert die Gemeinde. Gemeinde wird im NT ekklesia genannt. Etymologisch leitet sich der Begriff vom griechischen ek-kaleo ab und heißt so viel wie „die Herausgerufene“ (Mauerhofer 1998:20). Der Begriff kommt 116 mal im NT vor, wovon 109 mal unmittelbar die Gemeinde als Versammlung der aus der Welt Herausgerufenen gemeint ist. Der Begriff wurde außerbiblisch seit dem fünften Jahrhundert vor Christus für die Vollversammlung der wahlberechtigten Bürger der griechischen Stadt, der polis, gebraucht (Coenen 1977:784). Diese politische Versammlung war nur den freien Bürgern einer Stadt zugänglich. Nur sie wurden zur ekklesia gerufen. In der Septuaginta (LXX) wird der Begriff als Übersetzung des hebräischen qahal gebraucht, mit dem die Versammlung des alttestamentlichen Bundesvolkes bezeichnet wurde (:785). Die inhaltlichen Parallelen von qahal und ekklesia müssen den Übersetzern der LXX deutlich vor Augen gestanden haben: In beiden Fällen handelt es sich um einen Begriff völkischer Gemeinschaft, die infolge ihrer besonderen Stellung auch eine besondere Verantwortung für das Wohl dieser Gemeinschaft hat. Sowohl qahal als auch ekklesia meinen diese Gemeinschaft umfassend, ganzheitlich. Es sind politische Begriffe mit weitreichenden Folgen für ihre zugehörigen Mitglieder. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang erscheint Dt 23,2–9 in seiner frühjüdischen Auslegungsgeschichte. Gerhard Lohfink (1982:90) schreibt dazu:

„Hier wird die ekklesia als das wahre Gottesvolk verstanden, das sich von aller Unheiligkeit und Unreinheit absondert.“

Bezeichnend ist die Verbreitung des Begriffes im NT. Ekklesia fehlt weitgehend in den Evangelien, mit Ausnahme der drei Erwähnungen in Mt 16,18 und 18,17.14 Die Apostelgeschichte und dann vor allem die paulinischen Briefe führen den Begriff häufig. Meist bezeichnet ekklesia hier die lokale Gemeinde, so in 1Thess 1,1 die Gemeinde zu Thessaloniki oder in 1Kor 4,17 „jede Gemeinde“. Ekklesia kann auch eine Gruppe von Gemeinden (Gal 1,22; 2Kor 11,8) oder alle Gemeinden (1Kor 7,17) meinen. Der Ortscharakter der ekklesia ist dabei bezeichnend, da hier eine erstaunliche Anlehnung an die ekklesia der griechischen polis vorgenommen wird, ganz im Gegensatz zum alttestamentlichen qahal. Damit wird auch klargestellt, dass es sich hierbei nicht nur um eine Übernahme der LXX-Terminologie handelt, sondern eine neutestamentliche Neuschöpfung.

Es ist von Bedeutung, die Sinnstruktur des Begriffs zu erfassen, wenn man an das Wesen und den Auftrag der Gemeinde als ekklesia denkt. Die politische ekklesia wurde einberufen, wenn es um das Wohl der polis, der antiken Stadt, ging. Die Entscheidungen der wahlberechtigten Bürger gingen nie nur sie selbst an, sondern alle Einwohner der Stadt. Sie hatten unmittelbare Konsequenzen für das Leben in der Stadt. So gesehen ist der Begriff voller politisch-sozialer Spannkraft.

Diese Dimension des Begriffs in seiner Anwendung auf die Gemeinde Gottes zu übersehen, kann fatale Folgen haben. Als Vollversammlung der Erwählten Gottes, die zum Wohl der von Gott geliebten und abgefallenen Welt versammelt wird, ist die Gemeinde ein Botschafter des Friedens für die Welt (2Kor 5,17ff) und damit ein Agent der politischen und sozialen Transformation. Was sie entscheidet, hat Folgen. Was sie bindet, bleibt gebunden, was sie löst, kann nicht mehr gebunden werden (Mt 18,18). Und das nicht nur in geistlichen Belangen, sondern umfassend, ganzheitlich. Als ekklesia ist die Gemeinde Jesu die für das Wohl und das Heil der Welt verantwortliche Instanz. Gott berät sich mit ihr, wenn es um die Menschen innerhalb der Grenzen ihres Einflussbereiches geht. Nimmt man aber der ekklesia diesen öffentlichen Charakter, dann gestaltet sich die Versammlung zu einer aus der Welt herausgerissenen Masse, die keinerlei Verantwortung für die Welt mehr empfindet, sondern sich nur um das eigene Heil kümmert. Das aber wäre eine völlige Verkennung des hier gebrauchten Bildes. Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, dass sowohl der neutestamentliche Begriff ekklesia als auch das alttestamentliche qahal eigentlich die „zur Entscheidung versammelte Gemeinde“ meint. Gemeinde als Versammlung hat daher nur dann ihre Existenzberechtigung, wenn sie sich von Gott zur Verantwortung rufen lässt.

 

Ekklesia war in der antiken Welt eine ortsgebundene Erscheinung. Die polis oder die griechische Stadt hatte klar umrissene geografische und soziale Grenzen. Ganz ähnlich geht das NT auch mit den christlichen Gemeinden um. Diese werden als Ortsgemeinden15 gedacht. Sie erhalten ihre Bezeichnungen nicht von ihren Gründern, sondern von der geo-politischen Lokalität, in der sie liegen. Es ist bezeichnend, mit welcher Vehemenz Paulus vorgeht gegen eine Aufteilung der Ortsgemeinde zu Korinth in Gruppen, die sich nach ihren Gründern nennen (siehe dazu 1Kor 1,10ff). Offensichtlich verband er mit dem Ortsbezug der Gemeinde weit mehr als nur eine bloße geografische Identifikation. Es sind Gemeinden zu Rom, Ephesus, Philippi usw. Auch die primäre Verantwortung dieser Gemeinden ist ortsgebunden. So sind die Korinther zunächst einmal Botschafter an Christi statt für die Korinther selbst (2Kor 5,17ff). Hier werden sie herausgerufen, Gottes Heil und Wohl für die Stadt, „ihr Bestes“, zu suchen.

Ein wesentliches Instrument, das zum Gelingen dieser Mission beiträgt, ist dabei die kulturelle Adaption. Der Apostel Paulus ermutigt daher die Korinther, den Juden ein Jude und den Griechen ein Grieche zu werden, damit wenigstens einige von ihnen für Jesus gewonnen werden können (1Kor 9,20ff). Offensichtlich stand Jesus selbst Paulus als Vorbild vor Augen, als er diesen Lebensgrundsatz formulierte. Er, das ewige Wort Gottes, Gott in Person, wurde Mensch und nur so erhielten wir Menschen Zugang zu Gottes Herrlichkeit (Joh 1,1ff). Diesem Inkarnationsprinzip getreu, muss eine Gemeinde vor Ort so kontextualisiert werden, dass sie den Menschen, unter denen sie lebt, verständlich und zugänglich erscheint.

„Herausgerufen“ darf also nicht im Sinne eines Abschieds von der Welt, sondern eher im Sinne der „Vollversammlung“ für die Belange der Welt verstanden werden. Sicher sind die Mitglieder dieser besonderen Versammlung, der Welt, in der sie leben, in gewisser Hinsicht enthoben. Sie sind nicht mehr von der Welt. Und doch, das ist ja gerade das Ekklesiale an der Gemeinde – sie ist in der Welt und für die Welt im Einsatz. Das Gebet Jesu in Joh 17,16–18 trifft hier den Nagel auf den Kopf. Jesus betet für seine Gemeinde und sagt:

„Sie sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin. Heilige sie in der Wahrheit. Dein Wort ist die Wahrheit. Wie du mich gesandt hast in die Welt, so sende ich sie auch in die Welt.“

Gesandt, wie Christus gesandt wurde (Joh 20,21). In der Welt, und doch nicht von der Welt. Die Gemeinde hat eine Mission. Sie ist Gesandte, Botschafterin Gottes, Gesandte in eine Welt, für die sie ekklesia sein soll!

Die Praxis der Urgemeinde bestätigt diese Annahme. Unmissverständlich ruft Paulus seine Mitstreiter auf, nicht mehr wie die Heiden zu leben, „dem Leben aus Gott entfremdet“, versunken in der Befriedigung der eigenen Begierden (Eph 4,17ff). Das neue Leben in Christus verlange unter anderem viel mehr, „mit eigenen Händen Besitz zu erwerben, um mit den Notleidenden zu teilen“ (Eph 4,28b). So gehören die Witwen und die Waisen zum besonderen Kreis von Menschen, für den die Gemeinde zu sorgen hatte (Apg 6,1–6; 1Tim 3,8–12.5,10). Das christliche Diakonat hat wohl unter anderem hier seine Wurzeln (Riesner 1978:82f). Dabei ist keineswegs nur an die eigenen Glaubensgenossen zu denken. Ausdrücklich schließt Paulus alle Menschen ein, wenn er im Brief an die Galater formuliert: „Darum, solange wir noch Zeit haben, lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen.“16 Jedermann ist jedermann, also alle Menschen in der unmittelbaren Umgebung der Gemeinde.

Freilich hat der heidnische Staat der jungen christlichen Gemeinde harte Grenzen für ihr sozial-transformatives Engagement gesetzt. Das Christentum war eine vernichtend kleine Gruppe im Meer von Völkern und Religionen des gewaltigen römischen Imperiums. Und doch haben sie, wo immer möglich, solche Akzente gesetzt. In der Frage der Arbeitsmoral zum Beispiel. Wenn Paulus die Thessalonicher zur Arbeit aufruft und somit jedem Schmarotzertum einen Riegel vorschiebt (1Thess 4,10–12; 2Thess 3,6–12), dann tut er das nicht nur, weil bestimmte Glieder der Gemeinde einer übertriebenen Parusie-Erwartung anheimgefallen sind. Der freie römische Mann, soweit er keinen Kriegsdienst leistete, gehörte auf die agora, auf den Marktplatz. Hier nahm er an politischen und philosophischen Diskussionen teil. Die Arbeit verrichteten die Frauen und Sklaven. Paulus greift diese Arbeitsmoral nicht nur frontal an, sondern sucht mit seinem eigenen Vorbild (2Thess 3,7–9) den Gläubigen ein Vorbild zu geben.

Die frühe Geschichte der Gemeinde Jesu kennt herrliche Beispiele des sozialen Engagements der Christen für ihre Umwelt. So lässt der christenfeindliche Kaiser Julian zwischen 361 und 363 an den heidnischen Oberpriester Arsakios in Galatien schreiben, „dass die gottlosen Galiläer außer ihren (Armen) auch noch unsere ernähren“ (Riesner 1978:33).

Fazit: Ekklesia als Versammlung der Herausgerufenen definiert die Gemeinde als ortsgebunden mit einer klar definierten Verantwortung für das umfassende Leben der Einwohner des Ortes. Wenn sie sich in der Versammlung ereignet, dann hat das Konsequenzen für alle Menschen in ihrer Umgebung. Gottesdienst als Mitte der versammelten Gemeinde, ja als ihr wesentliches konstituierendes Element, muss somit als Gottesdienst im Angesicht der Welt, als missionales Ereignis begriffen werden. Im Gottesdienst tritt Gott seiner geliebten Welt entgegen, die er retten will und für deren Rettung er seinen geliebten Sohn geopfert hat. Im Gottesdienst feiert die Gemeinde ihren missionarischen Gott. Im Gottesdienst beugt sie sich vor ihm, fällt vor ihm nieder und betet ihn an, weil sie bereit ist, ihm und ihm allein zu dienen.