Loe raamatut: «Unterirdisches Österreich», lehekülg 3

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Das Millionengrab

Gleichzeitig geht es bei anderen Stollenanlagen bereits mit den Befundungen los und prompt zeichnen sich erste Schwierigkeiten ab. So auch beim Objekt OÖ 020, dem gewaltigen unterirdischen Labyrinth in St. Georgen an der Gusen, von dem man weiß, dass hier dringend Handlungsbedarf besteht – noch ahnt niemand, dass es zum größten und schwierigsten Fall des BIG-Underground-Teams werden wird.

Der einzige Zugang zum Stollensystem befindet sich auf der Liegenschaft des St. Georgener Hausbesitzers und „Ortskaisers“ Rudolf P. im südwestlichen Teil des Ortes, etwa 150 Meter vom Anwesen des Herrn P. entfernt, der über die neugierigen Besucher, die da plötzlich vor seiner Tür stehen, wenig erfreut ist: Er verweigert Projektleiter Karl Lehner und seinen Begleitern den Zutritt, sein Argument: Der Stollen liege unter seinem Grund und sei daher „bis zum Erdmittelpunkt“ auch sein Eigentum – ein Irrtum, den der streitbare Mann mit anderen Grundstückseigentümern teilt. Für den gefinkelten Begriff „Superädifikat“ und die damit verbundene Rechtslage hat Herr P. wenig Verständnis. Mit dem Hinweis auf die Eigentümerhaftung der BIG gelingt es schließlich im September 2001, ihm die Zustimmung zu ersten Erkundungen des Stollensystems abzuringen; am 8. November 2001 ist es so weit: Es erfolgt die erstmalige Befahrung des Bauwerks, das von seinen Dimensionen her alle anderen Anlagen in den Schatten stellt.

Rudolf P., der von der „Nachnutzung“ des Nazi-Bauwerks – durch den Abbau von Quarzsand 1947 bis 1985 sowie durch Verpachtung dieser Quarzsandgewinnung bis 1997 an eine St. Georgener Firma – nicht wenig profitiert hat, will indes doch nicht so schnell klein beigeben: Über seinen Linzer Anwalt erhebt er Anspruch auf das „uneingeschränkte Eigentum“ an den Stollen, dieser Rechtstitel sei durch „Ersitzung“ gegeben. Die Argumentationslinie des Anwalts: „Dass die Republik Österreich das gegenständliche Stollensystem ab dem Jahre 1945 in keinster Weise genutzt oder gar nur in Anspruch genommen hätte, dass die Republik Österreich als Gewerbebehörde meinem Mandanten mehrfach gewerberechtliche Bewilligungen in Bezug auf die Nutzung des Stollensystems einräumte, lässt wohl unzweifelhaft darauf schließen, dass die Republik Österreich ihre (wie auch immer gearteten) Rechte an diesem Stollensystem nie in Anspruch genommen, sondern erkennbar aufgegeben und damit derelinquiert (sic!) hat.“ Für eine entsprechende rechtsverbindliche Erklärung, die „einzig sinnvolle Lösung des Problems“, räumt er der BIG eine Frist von einem Monat ein, anderenfalls sei er bereit, seinen Anspruch auch gerichtlich zu verfolgen; eventuell würde er sogar Anspruch auf die „gänzliche Entfernung“ des Superädifikates erheben.

Die BIG – inzwischen hat Karl Lehner in Begleitung von Konsulenten am 8. November 2001 das ca. 7,3 km lange System erstmals befahren – stimmt dieser Rückführung prompt zu und stellt die Erkundungsarbeiten ein. Jetzt wird Rudolf P. jedoch klar, was es hieße, Eigentümer des gesamten Stollensystems zu sein und dafür zu haften – er schränkt seine Eigentumsansprüche auf jene unter seiner Liegenschaft gelegenen Stollenabschnitte ein, also einen Bereich von etwa 250 Metern Länge. Da eine „Teilersitzung“ und damit geteiltes Eigentum jedoch nicht möglich ist, muss die BIG diesen Vorschlag ablehnen; schließlich einigt man sich mit Rudolf P. darauf, dass er das zeitlich unbefristete Nutzungsrecht für die Stollenbereiche unter seinen Liegenschaften behält, dafür der BIG allerdings das Wegerecht für einen direkten Zugang zur Stollenanlage eingeräumt wird.

Im April 2002 werden in St. Georgen die Erkundungsarbeiten wieder aufgenommen, die Zeit drängt, denn es drohen neue Verbrüche – so ereignet sich Mitte Mai 2002 in der Stollenstrecke Aa – A0 ein Nachbruch, der den einzigen Zugang zur Anlage gefährdet. Und die mit Rudolf P. getroffene Nutzungsvereinbarung hält nicht lange: Als ihm von der BIG mitgeteilt wird, dass die Kosten für Sicherungsarbeiten an den Stollenbereichen unter seinen Liegenschaften etwa 110.000,- Euro betragen würden, tritt er von der Nutzungsvereinbarung zurück; das Wegerecht bleibt bei der BIG, die im Juni 2002 auf Grundlage der Empfehlungen von Leopold Weber mit umfangreichen Sicherungsarbeiten beginnt. Das Maßnahmenbündel sieht u. a. die vollständige Verfüllung von Streckenabschnitten und die Errichtung eines zweiten Tagzuganges vor – geplant und schließlich auch errichtet wird ein schachtförmiger neuer Zugang. In einer ersten Phase werden sowohl obertage als auch untertage Bohrkerne entnommen, um die statischen Verhältnisse in den Röhren der von den Nazis mit dem Codenamen „Bergkristall“ bezeichneten Stollenanlage zu klären. Dann gilt es den einzigen Zugang zum Stollensystem zu sichern, Karl Lehner findet eine perfekte technische Lösung: Aus Einzelelementen verschraubte Wellstahlröhren, die im Winter 2002/​03 montiert werden, gewährleisten von nun an ein sicheres Betreten des Systems. Mit leicht spöttischem Unterton als „Lehnersche Röhren“ bezeichnet, werden sie zu einem running gag in der Underground-Szene, ihre Effizienz zweifelt bald niemand mehr an.


Für immer sicher verschlossen: „Geobarriers“ in St. Georgen an der Gusen.

In einem nächsten Schritt werden jene Bereiche gesichert, die besonders gefährdet sind, vor allem die Abschnitte unter der Wohnsiedlung Hasenfeld. Hier bleibt nur die vollständige Verfüllung, wobei man an den beiden Enden der zu verfüllenden Stollenstrecke so genannte „Geobarriers“ zum Einsatz bringt: Dabei werden Kunststoffschläuche von obertage über eine Schlauchleitung unter Druck mit einer Zementsuspension aufgefüllt; die Suspension härtet aus und bildet nun im Zusammenwirken mit der außen liegenden Kunststoffarmierung des Geobarriers einen absolut dichten Verschluss, sodass die Stollenstrecke bis zum oberen Rand des Geobarriers mit Beton aufgefüllt werden kann – dann folgen der nächste Geobarrier und die nächste Schicht Beton, bis der Stollen bis zum First „vollständig und kraftschlüssig“, wie es im Jargon der Tiefbauer heißt, verfüllt ist. Bis zum Juni 2005 werden so 73.000 m3 Beton verarbeitet, weitere 55.200 m3 folgen in einer nächsten Phase bis zum November 2009, in der auch die gefährdeten Stollenbereiche unter landwirtschaftlich genützten Flächen gesichert werden, vor allem dort, wo die „Überlagerung“ nur 15 bis 25 Meter beträgt – bei einer Höhe der Stollen von 6,5 Metern und einer Höhe einzelner „Sprengdome“ bis zu 10 Metern ein gefährlich niedriger Wert.

Millionen von Euro werden in den unterirdischen Röhren verbaut. Karl Lehner, der alle technischen Entscheidungen trifft, hat sich inzwischen bei der BIG-Geschäftsführung eine „Jahresrate“, also ein Limit, ausbedungen, das er alljährlich verbauen darf. Allein für „Bergkristall“ beträgt der Sicherungsaufwand bis zum Oktober 2006 etwa acht Millionen Euro; die Gesamtkosten bis heute (2013) für alle 290 Stollen belaufen sich auf über 35 Millionen Euro und werden weiter in die Höhe klettern: Das unterirdische Erbe der NS-Zeit fordert von uns Nachgeborenen seinen Tribut …

Karl Lehner erhält Verstärkung

Im Sommer 2002 erhält das BIG-Underground-Team weitere Unterstützung: Bei einer Baustellenbesichtigung in Innsbruck lernt Karl Lehner einen jungen Ingenieur kennen: Martin Scheiber ist Leiter der örtlichen Bauaufsicht (ÖBA) der Firma ILF Planende Ingenieure Innsbruck, die von der BIG und der IMB-Landesdirektion Tirol mit den Sicherungsarbeiten an den „fünf gefährlichsten“ Innsbrucker Luftschutzstollen T002 (Höttinger Au – Schererschlössl), T005 (Höttinger Au – Schottergrube), T009 (Lohbachsiedlung), T016 (Innstraße) und T022 (Igls – Föhnegg) beauftragt worden ist. Die ILF ist aus einem Ideenwettbewerb als Sieger hervorgegangen, das von ihr vorgelegte Konzept zur Sicherung der Stollen wird ab Herbst 2001 konsequent umgesetzt, die vier vorgesehenen Arbeitsschritte: Erkunden der Stollen durch Bohrungen von Obertage und mit Hilfe einer Bohrlochkamera – Abmauerung der von außen zugänglichen Stollenabschnitte an den Verbruchstellen – Verfüllen der nicht standsicheren Stollenabschnitte – Verpressen der Resthohlräume unterhalb von Wohngebäuden, Zufahrten und Verkehrsflächen.

Martin Scheiber über die Begegnung mit dem Hochbauer Karl Lehner heute: „Ich wusste nicht, wer er war – er stand vor einem Container und hatte einen Doppelpacker in der Hand, wie er im Bohrloch zur Verpressung von Injektionsmaterial verwendet wird, und rang nach einer Erklärung, was denn das sein solle. Ich versuchte ihm dies zu erklären, was jedoch kläglich scheiterte. Es galt die Brücke Hochbauer zu Tiefbauer/​Tunnelbauer zu überwinden, was erst durch einen daneben stehenden Arbeiter gelang – dieser erklärte bildlich, wie denn das, Teil‘ wirklich funktioniert. Von da an war der Bann gebrochen und Karl entwickelte sich zu einem gebrauchsfähigen Tiefbauer am zweiten Bildungsweg.“


„Mr. Underground“: Karl Lehner, der Leiter des BIG-Stollenteams.

Trotz dieser anfänglichen sprachlichen Missverständnisse – Karl Lehner interpretiert das tirolerisch intonierte „Packer“ als „Bagger“ – passt die Chemie zwischen Hochbauer und Tiefbauer auf Anhieb. Karl Lehner war von der Kompetenz und dem Organisationstalent des Tiroler Kollegen schwer beeindruck. Nachdem Martin Scheiber sich 2002 mit seiner Firma S Consult Management GmbH selbständig gemacht hat, wird er zum verlässlichen Partner der BIG: Von nun an steuert er als Projektmanager die Sicherungsarbeiten an den Stollen – von der Ausschreibung und der Vertretung vor den zuständigen Behörden über die Bauaufsicht bis zur Rechnungsverwaltung. Ihm obliegen nicht zuletzt die vorgeschriebenen Sicherheitsbefahrungen und die Dokumentation derselben, Aufgaben, die ihn heute, nach der Pensionierung Karl Lehners, wohl zu einem der besten Kenner der österreichischen Stollenwelt machen. Sein neuer Aufgabenbereich führt ihn bald auch in den Osten Österreichs, wo in den Tälern von Schwechat, Triesting, Piesting und Schwarza zahlreiche Stollen angelegt worden sind; Ziel der NS-Rüstungsmanager war es dabei, die Fertigung von wichtigen Rüstungsgütern wie z. B. Flugzeugkomponenten in „bombensichere“ unterirdische Bereiche zu verlegen.

Explosive Entdeckungen am Petersberg

So findet sich auf der Liste unter der Ordnungsnummer NÖ090 eine Stollenanlage in Rohrbach am Steinfeld mit den ergänzenden Hinweisen „Peterwald, bei Spinnerei Rohrbach“ und „Eingänge gesprengt“, auch die Adresse ist wenig aussagekräftig: „B17 – Feldweg“. Die Zugänge zu dem im „Rohrbacher Konglomerat“ aufgefahrenen Stollensystem werden schließlich von den Sachverständigen der BIG lokalisiert – sie liegen im Naturschutzgebiet am Petersberg über dem Peterwald, zwischen Neunkirchen und Ternitz. Von drei Mundlöchern A, B und C in etwa 380 m Seehöhe aus führten parallele Stollen in westsüdwestliche Richtung; diese drei Stollenröhren waren durch sieben normal dazu verlaufende Stollenachsen verbunden; ein viertes Mundloch bildete einen „rampenartigen“ seitlichen Zugang – eine aufwändig mit Betonformsteingewölbe ausgeführte Stollenanlage, die sicherlich nicht nur Luftschutzzwecken diente. Dazu passt die Beobachtung, dass offenbar mit „Demolierungssprengungen“ an den Kreuzungspunkten versucht worden ist, die gesamte Anlage zu zerstören. Noch gut erkennbare Bombentrichter im Gelände lassen weiters darauf schließen, dass das Stollensystem Ziel eines Luftangriffs war. Was bewog die alliierten Bomberpiloten, hier auf dem Petersberg ihre todbringende Fracht abzuwerfen?

Die Frage nach dem Warum bewegt das BIG-Underground-Team jedoch noch kaum, jetzt geht es darum, der unmittelbaren Gefahr Herr zu werden, und die ist nicht zu unterschätzen: Bei ihrer Befahrung der zum Teil verbrochenen Stollen kommen sie plötzlich auf rostigem Metall zu stehen – eine Entdeckung, die alsbald ein mulmiges Gefühl bewirkt: Die im Verbruchsmaterial auftauchenden Metallkörper entpuppen sich als 250-kg-Fliegerbomben, die alle Sprengversuche „überlebt“ haben und nun vorsichtig vom Entminungsdienst entschärft und geborgen werden müssen. Insgesamt sieben Bomben werden von den Experten behutsam freigepinselt und aus den Stollen gezogen, alles läuft ohne Zwischenfall ab.

Leopold Weber kommt in seinem Gutachten zu einer Einstufung in „Priorität 2“ und empfiehlt als „Sofortmaßnahme“, die „befahrbaren Bereiche auf Explosiva zu sondieren“; nach der Entfernung der Bomben seien die ersten ca. 5 m der Tagzugänge mit einer Betonplombe, die „in das anstehende Konglomerat kraftschlüssig einzubauen ist“, zu verschließen; der Zutritt müsse für „Unbefugte und Abenteurer dauerhaft wirksam“ unterbunden werden. „Knapp bergseits der Streckenkreuze A1, B1 und C1“ seien „statisch bemessene (Kies-)dämme zu errichten und der tagnahe Bereich der Hohlräume von obertage aus über Bohrungen zu verfüllen“. Erst nach Durchführung aller Sicherungsmaßnahmen könne eine „Rückreihung auf Priorität 4“ erfolgen. Inzwischen ist auch die lokale Presse auf die Tätigkeit der BIG am Petersberg aufmerksam geworden; Reporter Thomas Santrucek spricht vor Ort mit Karl Lehner; dann schockt er die Leser des Schwarzataler Bezirksboten vom 25. Juli 2002 mit der Schlagzeile: Nach Bombenalarm zittert eine Stadt! und zitiert prompt einen Zeitzeugen, der zu berichten weiß, dass zwei Bomben von den Russen in den „Bunker“ gebracht worden seien, er habe dies selbst beobachtet; Mitte der 1950er-Jahre habe er Baumaterial aus der Stollenanlage geschafft und sei dabei wiederum auf die Bomben gestoßen. Inzwischen ist auch ein Plan des Systems aus dem Jahre 1947 im Maßstab 1 : 200 bzw. 1 : 500 aufgetaucht und man weiß nun endlich, was es mit ihm tatsächlich auf sich hatte: „Allg. Teilebau f. Vormontage“ liest man in einer streng geheimen Aufstellung zur Untertage-Verlagerung der Wiener Neustädter Flugzeugwerke vom 15. November 1944; der Tarnname des Projekts im „Rohrbach Stollen“ sei „Cyanid“, der Deckname selbst lautet „Hans Bauer & Karl Schranz Schrauben & Nietenfabrik“, Betriebsführer – zumindest auf dem Papier – ein Ing. Bauer. Die Produktionsfläche im Stollen wird mit 3.100 m2 vermerkt, die Zahl der Belegschaft mit 1.653 angegeben, der Sollstand mit 1.400 Arbeitern. Davon arbeiten allerdings nur 53 direkt im Stollen; eingesetzt werden auch Zwangsarbeiterinnen, vor allem Russinnen, aus dem Frauenlager in Rohrbach, das sich in der Nähe des Rohrbacher Steinbruchs befindet und in seinen Anfängen bis auf den Sommer 1941 zurückgeht.


Fliegerbomben warten beim Entminungsdienst auf ihre Entsorgung.


Der „Schwarzataler Bezirksbote“ schockt seine Leser mit einer Aufsehen erregenden Schlagzeile.

Der Standort, zu dem auch die Gebäude der Rohrbacher Spinnerei mit einer mechanischen Werkstätte für die Rumpfvormontage zählen, ist neben Betrieben in Waldegg, Launsdorf, Breitenau, Kottingbrunn, Obergrafendorf, Rabenstein, Zwölfaxing und Wien Teil des „Fertigungsringes Nieder-Donau“; die „Teile“, die hier gefertigt werden, gehören zur Messerschmitt Bf 109, dem meistgebauten Jagdflugzeug der Geschichte, mit dem während des Zweiten Weltkrieges auch die meisten „Luftsiege“ errungen werden. Pro Monat, so der Plan, sollen 500 Rümpfe produziert werden. Die Entscheidung für eine Untertag-Fertigung im „Rohrbach Stollen“ fällt vermutlich irgendwann im Herbst 1943 – wann genau mit den Bauarbeiten am System begonnen worden ist, bleibt noch zu erforschen.

Am Ostersonntag 1945, man schreibt den 1. April, besetzen Soldaten der Roten Armee das Werksgelände der Rohrbacher Spinnerei und damit ist wohl auch die Arbeit im Stollen zu Ende; alle noch vorhandenen Flugzeugteile und Maschinen werden von den Russen beschlagnahmt. Die Demontage und die Räumung dauern bis zum April 1947, dann soll das Stollensystem mit Hilfe von Fliegerbomben gesprengt werden – ein Vorhaben, das wie oben geschildert nur zum Teil gelingt: Die drei Eingangsbereiche zu den Stollen werden zwar vollkommen zerstört, die tiefer liegenden Stollenabschnitte bleiben jedoch intakt.

Die endgültige Entscheidung über die Stollen am Petersberg fällt schließlich am 26. Februar 2003. Bei einem „Gipfel“ mit dem Neunkirchner Bürgermeister Herbert Kauz und Leopold Lindebner von der Bundesforstinspektion Neunkirchen erklärt Karl Lehner, dass eine Nachnutzung der Stollenanlage auf Grund der Versprengungen ausgeschlossen sei, sein Vorschlag daher: Wie von Leopold Weber empfohlen, sollen die drei ehemaligen Haupteingänge nach Bergung aller Explosiva mit 5 Meter starken „Betonpfropfen“ für immer versiegelt und verbrochene Stollenbereiche verfüllt werden, zuvor würde man die Anlage noch genau vermessen und die Daten bei der BIG hinterlegen. Abschließend werde man das in Anspruch genommene Gelände rekultivieren. Das Sicherungskonzept wird angenommen und umgesetzt.


Künstlich geschaffener Zugang für die Sicherungsmaßnahmen am Petersberg.

Der Tiroler Stollenexperte steuert die Arbeiten mit gewohnter Perfektion: Umfangreichen Erkundungsbohrungen, wobei auch Kamerabefahrungen der aufgefundenen Hohlräume vorgenommen werden, folgen ab dem 8. Juli 2003 die Verfüllarbeiten; bis zum 6. August 2003 werden ca, 2.500 m3 Dämmermaterial eingebracht. Der „Bohrraster“ der Verfüllbohrungen wird dabei so engmaschig gewählt, dass, wie Martin Scheiber in seinem Abschlussbericht feststellt, die betroffenen Stollenbereiche „dauerstandsicher“ gestellt sind. Inzwischen sind auch die Spuren der Sanierungsarbeiten am Petersberg verwischt, der Wald ist zurückgekehrt; die letzten Geheimnisse des Geheimprojekts „Cyanid“ werden hier für immer verborgen und begraben bleiben.

Ein „Pingenfall“ in Villach

Man schreibt Freitag, den 3. Mai 2002. Die Villacher Psychotherapeutin Vera Fritz genießt im Garten des Familienanwesens am Jakominirain den strahlend schönen Frühlingstag. Mit von der Partie ist ihre Rottweilerhündin Yucca, die wie immer ausgelassen über den gepflegten Rasen tollt. Doch plötzlich zeigt das Tier ein eigenartiges Verhalten: Es versucht, sein „Herrl“ von einer bestimmten Stelle im Garten, nur wenige Meter vom Swimmingpool entfernt, „wegzubellen“; Frau Fritz ist genervt und geht ins Haus; als sie Sekunden später in den Garten blickt, traut sie ihren Augen nicht: Wo sie zuvor noch mit Yucca gespielt hat, hat sich nun ein Krater im Durchmesser von drei Metern und einer Tiefe von 2,5 Metern gebildet – wäre sie im Garten geblieben, wäre sie wohl mit in das „Loch“ gerutscht. Nicht auszudenken auch, wenn sich der Krater im Bereich des Swimmingpools gebildet hätte …

Der Schock währt nur kurz: Sie alarmiert sofort den Villacher Magistrat, der Katastrophendienst der Stadt ist wenig später zur Stelle und nimmt den Krater in Augenschein, die Diagnose: ein Fall für die BIG. Der Einbruchsbereich wird abgezäunt, am Montag, dem 6. Mai, verständigt man den Geologen Immo Cerny, der mit der Befundung der Kärntner Luftschutzstollen beauftragt ist. Einen Tag später trifft Cerny zu einem Lokalaugenschein am Jakominirain ein und erkennt sofort: Hier gilt es zu handeln. Er informiert Leopold Weber über den Vorfall, für den 10. Mai wird eine Begehung anberaumt, an der auch Gerhard Bachitsch, der Besitzer des Nachbargrundstücks, teilnimmt. Leopold Weber ist sich über die Situation rasch im Klaren und erstellt noch am selben Tag ein vorläufiges Gutachten: Die „Pinge“ – so nennt man im Fachjargon der Bergmänner den Einbruchsbereich – im Garten von Frau Fritz erkläre sich durch das darunter liegende Stollensystem „St. Martin-Am Hügel“, das auf der BIG-Liste die Nummer K113 trage. Der größte Teil dieses Stollensystems sei zwar verbrochen und nicht mehr befahrbar, offenbar gebe es aber noch „Resthohlräume“, die nun für Gefahr sorgen würden. Da sich im „möglichen Beeinträchtigungsbereich“ Wohngebäude, öffentliche Straßen und Gärten befänden, liege somit „ein subjektives und objektives Gefährdungspotential“ vor, es gelte also Priorität 2, dringender Handlungsbedarf sei gegeben.


Der „Pingenfall“ in Villach: Schlagzeile in der „Kleinen Zeitung“.

Leopold Weber ordnet umfangreiche Sofortmaßnahmen an: Da Nachbrüche erwartet werden, wird der Garten der Familie Fritz ab Höhe Swimmingpool abgesperrt; bevor weitere Erkundungsarbeiten gestartet werden können, muss eine Beweissicherung des Wohngebäudes und auch des Gartens erfolgen; aufgetretene Risse im Gebäude sollen mit Hilfe von Glasspionen beobachtet werden. Vor allem benötigt man rasch verlässliche Unterlagen über den Verlauf der Stollenröhren – keine einfache Aufgabe, denn alle vier Eingänge zu den Hauptstollen sind verbrochen; die gesamte Stollenanlage mit einer Gesamterstreckung von etwa 500 Metern befindet sich unterhalb von dicht besiedeltem städtischem Wohngebiet und öffentlichen bzw. privaten Verkehrsflächen. Die Nachforschungen im Villacher Stadtarchiv fördern zwar eine alte Planskizze aus dem Jahre 1944 zutage, doch diese auf einen Maßstab verzichtende Zeichnung deckt sich, wie erste Erkundungsbohrungen zeigen, nur im Wesentlichen mit der Realität; immer neue unbekannte „Stollenäste“ werden entdeckt.

Dass tatsächlich höchste Eile nottut, beweist ein weiteres „Pingenereignis“: Am 15. Juli 2002, inzwischen laufen schon die Verfüllarbeiten, bildet sich auch auf dem Grundstück der Familie A. eine Bodensenkung; Probebohrungen mit tragbarem Bohrgerät in der Nähe des Wohnhauses lassen auf bisher unbekannte Stollenabschnitte schließen; das Schadensbild lässt einen Stollenverbruch vermuten. Unbekannte Hohlräume zeigen auch die Bohrungen auf dem Grundstück der Familie Bachitsch; die verbrochenen Eingänge zum Stollensystem werden mit Schrägbohrungen erkundet, Bohrlochkameras liefern wichtige Informationen über den Zustand des Stollens und die Art des Ausbaus. Für den Bereich unter einem der Grundstücke kann so ein noch intakter Stollen mit Gasschleuse in einer Gesamtlänge von über 100 Metern in Richtung St.-Martiner-Straße nachgewiesen werden.

Unverzüglich werden umfassende Sicherungsmaßnahmen geplant, die Durchführung der Arbeiten erfolgt durch die STRABAG. Der Aufwand ist beträchtlich: Wie der Schlussbericht der ILF Beratende Ingenieure ausweist, werden insgesamt rund 3.000 lfm Verfüll- und Erkundungsbohrungen sowie 100 lfm Kernbohrungen und etwa 700 lfm Verpressbohrungen durchgeführt; über „verlorene Verfüllschläuche“ bringt man ca. 3.200 m3 Verfüllmaterial – den Baustoff „Dämmer Ro V 5016“ der Firma Rohrdorfer Baustoffe – in die gefährdeten Stollenabschnitte ein. Dazu sind begleitende Kontrollen notwendig: Die Grundwasserverträglichkeit des Verfüllmaterials muss ebenso überprüft werden wie seine Druckfestigkeitsentwicklung.

In der Nähe von Wohngebäuden und Verkehrsflächen beschränkt man sich auf Verpressbohrungen – das gilt auch für die „Pinge Fritz“, die so wie die Pinge der Familie A. mit Schotter verfüllt wird, ehe man am 6. Juni 2002 mit Erkundungsbohrungen beginnt; auch hier arbeitet man mit tragbarem Bohrgerät. Verpressbohrungen setzt man nun am Rand des Pools, wo Messungen noch immer geringfügige Setzungen des Bodens – indiziert werden sechs Millimeter – anzeigen; durch eine verstärkte Nachverdichtung sollen mögliche Gefährdungen endgültig ausgeschaltet werden.

Die Verpressung der festgestellten „Auflockerungszonen“ erfolgt mit einem „Blitzdämmer“ – insgesamt 64 Tonnen werden von diesem Gemisch aus Zement, Bentonit und Steinmehl, hergestellt von W & P Wietersdorfer, injiziert; auch bei diesen Verpressarbeiten gilt es, genau auf die Entwicklung der Druckwerte zu achten. Damit das Verfüllmaterial nicht in Kanäle oder Kabelschächte gelangen kann, zieht man unter Tag Verschlüsse aus Mauern oder Betonwänden ein, gleichzeitig wird damit auch ein „sauberer Übergang“ zwischen standsicheren ausgebauten und sanierten Stollenabschnitten geschaffen. Elf Jahre danach zeigt sich Eigentümer Hans Fritz noch immer von der Intensität dieser Sicherungsarbeiten beeindruckt: Ein Jahr lang hätten die Mannen da gewerkt, „zehn Kräne standen da in unserem Garten“, erzählt er und spricht von „Riesentankwägen“, von denen aus die gefährdeten Bereiche verfüllt worden seien, bis hinab in „25 – 30 Meter Tiefe“ – aufwändige Maßnahmen, die sich jedoch ausgezahlt hätten: Ihren Garten kann die Familie Fritz seitdem wieder in Ruhe genießen …