Seewölfe - Piraten der Weltmeere 58

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 58
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Impressum

© 1976/2014 Pabel-Moewig Verlag GmbH,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-375-6

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Die Dämmerung senkte sich über die graugrünen Wogen des Kanals, und die Nacht stieg am westlichen Horizont empor. Die „Isabella VIII.“ lief vor dem Wind mit schäumender Bugwelle nach Süden. Sie war ein prächtiges Schiff mit hervorragenden Segeleigenschaften, das spürten die Seewölfe schon auf diesen ersten Meilen, die sie mit ihrem neuen Schiff zurücklegten.

Aber sie registrierten es nur am Rande. Denn noch immer stand die wüste, unheimliche Szene vor ihrer Erinnerung, die makabren Umstände, unter denen sie Plymouth verlassen hatten.

Dan O’Flynn, der sich zu dieser Zeit auf dem Achterkastell aufhielt, fuhr plötzlich herum.

„Warum hast du diesen Bastard, diesen Keymis, nicht einfach abgeknallt wie einen räudigen Hund, Hasard?“ fragte er. „Immer wieder läßt du dieses Gelichter entkommen und gibst solchen Kreaturen wie diesem Friedensrichter und diesem Burton Gelegenheit, neue Schandtaten zu begehen und neue Intrigen gegen uns auszuhecken. Himmel und Hölle, warum haben wir diese lackierten Affen nicht einfach mit unseren Geschützen vom Kai geblasen? Müssen wir es uns denn eigentlich gefallen lassen, daß man uns immer wieder verleumdet, daß man uns verfolgt, daß man uns nach dem Leben trachtet? Haben wir nicht jahrelang für England und für unsere Königin unser Leben riskiert? Wie viele von uns sind nicht nach England zurückgekehrt? Haben nicht alle Mann der ‚Maygold‘ ihren Einsatz für England mit dem Leben bezahlt? Sind wir es unseren Toten nicht schuldig, endlich einmal unter diesen Mördern, Betrügern, Spitzbuben und Verleumdern aufzuräumen? Haben wir es denn nötig, immer wieder, alles hinzunehmen, mit unserem Schiff vor diesen Bastarden zu fliehen? Sie haben angefangen. Sie wollen uns vernichten. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Blut um Blut – so steht es in der Bibel, Hasard. Ich jedenfalls habe es satt, diese Kerle noch länger zu schonen. Der nächste, der mir unter die Finger gerät, dem schlage ich den Schädel ein!“

Dan hatte sich richtig in Wut geredet. Seine Augen blitzten den Seewolf an. Auf der Kuhl hatte sich ein Teil der Crew versammelt. Zustimmendes Gemurmel erhob sich bei den Worten Dans. Die Geduld der Seewölfe war erschöpft. Keiner von ihnen vertrug es, daß man sie in dem Land für das sie gekämpft, gehungert, gefroren und geblutet hatten, wie Dreck behandelte. Und Hasard verstand sie nur zu gut, denn auch in ihm gewannen allmählich derartige Gefühle die Oberhand.

Ben Brighton, Ferris Tucker, Ed Carberry und Big Old Shane, die sich ebenfalls auf dem Achterdeck befanden, weil Hasard sie zu einer Besprechung heraufgebeten hatte, blickten den Seewolf an.

Pete Ballie, der am Ruder stand, schob sich aus seinem Ruderhaus heraus, ohne dabei das mächtige Ruderrad auch nur einen Augenblick loszulassen.

„Dan hat völlig recht, Hasard. Bis jetzt haben wir uns immer wieder zurückgehalten. Du hast diesen Keymis geschont, als er sein Leben längst verwirkt hatte. Du hast Burton laufenlassen, als wir das Recht hatten, ihn wie einen räudigen Hund zu erschlagen. Ich habe deinen Schwur gehört, den du auf dem Kai in Plymouth geleistet hast, und ich werde dich daran erinnern, sobald uns einer dieser beiden Bastarde wieder in die Finger gerät. Wäre es nach mir gegangen, dann hätte ich bereits in Plymouth mit diesem ganzen Spuk Schluß gemacht, damit du’s nur weißt!“

Pete verschwand voller Groll in seinem Ruderhaus.

Der Seewolf blickte seine Männer an – auf allen Gesichtern stand das gleiche. Die Männer fühlten sich gedemütigt, verletzt, verraten. Und ihm, ihrem Anführer und Kapitän, erging es nicht anders. Denn jetzt waren sie Rebellen, Piraten, vogelfrei für jedermann, trotz des Kaperbriefs der Königin, der noch immer in der Schatulle in seiner Kajüte lag. Denn dieses Dokument war von der Königin widerrufen worden. Statt dessen hatte sie Haftbefehl gegen ihn und seine ganze Besatzung erlassen.

Nein, der Seewolf verstand die Welt in diesem Augenblick auch nicht mehr. Trotzdem – er durfte jetzt die Zügel auf keinen Fall schleifen lassen. Er gab sich innerlich einen Ruck.

„Ich habe euch zugehört – und jetzt werdet ihr mir zuhören“, sagte er. „Hätten wir ein Blutbad unter den Soldaten und Berittenen anrichten sollen, die wahrscheinlich nur einen Befehl auszuführen hatten und von den Zusammenhängen nicht das geringste ahnten? Das wäre in meinen Augen glatter Mord gewesen, Mord an unseren eigenen Landsleuten. Ich war bei der Königin, ich habe mit ihr gesprochen. Und wenn sie hundertmal gegen uns einen Haftbefehl erlassen hat – ich kann nicht glauben, daß sie es getan hat, weil sie an unsere Schuld glaubt, sondern weil das geltende Recht sie aufgrund all der verlogenen Anklagen dazu zwang. Es wird der Tag kommen, an dem wir mit diesen Verleumdern abrechnen, nur dürfen wir uns jetzt nicht dazu hinreißen lassen, irgend etwas zu tun, was unseren Widersachern hilft, uns auch in den Augen der Königin als Verbrecher und Rebellen hinzustellen. Denn noch sind wir Rebellen um Ehre, Männer, die sich nicht in den Kerker werfen oder hängen lassen, weil sie sich keiner Schuld bewußt sind!“

Die Crew hatte ihm aufmerksam zugehört. Hasard ließ ihnen keine Zeit, wieder anderen Sinnes zu werden.

„Meinen Schwur halte ich. Sollte uns Keymis oder Burton wiederum in die Hände fallen, weil sie wieder neue Intrigen gegen uns angezettelt haben, dann ist ihnen der Tod sicher. Diese beiden Schurken haben keinerlei Gnade mehr zu erwarten!“

Zustimmung drang von der Kuhl herauf. Der Seewolf bat durch eine energische Handbewegung um Ruhe.

„Da wäre noch etwas. Wir haben Ray Bow noch als Gefangenen an Bord. Ich habe nicht die Absicht, ihn an Bord zu behalten, ich kann und will ihn auch nicht aufknüpfen. Auch das wäre Mord. Denn für die Vergehen, die er begangen hat, gehört er vor ein englisches Gericht.“

Ferris Tucker meldete sich zu Wort.

„Und wie willst du das anstellen?“ fragte er. In seiner Stimme war ein unheilvolles Grollen. „Er hat sich an Bord unseres Schiffes geschlichen und versucht, uns zu bestehlen. Er hat Blacky angefallen und ihn verwundet. Er hat Ed Carberry um ein Haar erschossen. Nur die Gürtelschnalle hat das verhindert. Dieser Kerl hat den Tod verdient, du kannst ihn nicht einfach laufenlassen. Das ist meine Meinung, und ich denke, das ist die Meinung vieler Männer hier an Bord.“

„Ferris hat recht!“ brüllte der alte O’Flynn und stampfte mit seinem Holzbein auf. „Dieser Kerl gehört an die Rah! Schluß mit dieser ganzen ...“

Hasard richtete sich hoch auf.

„Er wird auf diesem Schiff nicht gehängt!“ sagte er scharf. „Die Planken dieses Schiffes werden nicht mit einem Mord beschmutzt.“ Er wehrte den aufbrandenden Unwillen mit einer energischen Handbewegung ab. „Allerdings denke auch ich nicht daran, diesen Verbrecher laufenzulassen.“

Die Männer waren plötzlich mucksmäuschenstill und sahen den Seewolf an.

„Ferris, du wirst diesem Kerl jetzt ein Floß bauen. Gerade so groß, daß es ihn und ein kleines Faß Wasser trägt. Dann wird er ausgesetzt, und Gott soll sein Richter sein.“

In der Kuhl herrschte schweigen. Jeder der Männer wußte, was das für den Gefangenen bedeutete. Die Chance, daß ihn irgendein Schiff fand oder er lebend das Land erreichen würde, war jedenfalls äußerst dünn.

Niemand erhob Widerspruch. Sollte dieser Mörder und Leuteschinder ruhig eine Weile über seine Untaten nachdenken, ehe er zur Hölle fuhr!

Hasard verschaffte sich durch Handzeichen erneut Aufmerksamkeit.

„Zweitens habe ich beschlossen, heute nacht mit der ‚Isabella‘ zur Küste zurückzusegeln. Ich muß dafür sorgen, daß Gwen und die Kinder in Sicherheit sind, während wir uns in der Karibik befinden. Wir segeln zur Wembury Bay. Dort gibt es eine versteckte Bucht, in der wir unser Schiff verbergen können. Außerdem wird uns dort niemand suchen. Ben kennt diese Bucht.“

Ben Brighton nickte, aber die anderen, die sich bei dem Seewolf auf dem Achterkastell befanden, blickten überrascht hoch.

Dan trat näher an den Seewolf heran.

„Befürchtest du etwa, daß Keymis oder Burton sich an Gwen heranmachen werden?“ fragte er, und seine Brauen zogen sich drohend zusammen.

„Nein, Dan, ich glaube nicht, daß sie das wagen werden. Doktor Freemont hat zu mächtige Freunde bei Hof. Aber ich muß mit Freemont reden, ich muß Gwen genügend Mittel dalassen, damit sie in materieller Hinsicht völlig unabhängig ist. Ich weiß ja gar nicht, wann wir England wieder anlaufen werden. Außerdem muß Gwen erfahren, was geschehen ist – von mir erfahren, nicht durch andere. Und zum letzten: Ich weiß, das Jean Ribault und Karl von Hutten sich wieder in England befinden, ich kenne ihre Adressen. Doktor Freemont wird sich in meinem Auftrag an sie wenden. Bei ihnen und unter ihrem Schutz ist Gwen mit den Kindern sicher. Das kann und das muß ich für meine Familie tun!“

 

Der alte O’Flynn, der mitgehört hatte, stelzte mit seinem Holzbein die Stufen zum Achterkastell hoch.

„Recht so, Hasard! Wenn Doktor Freemont, Ribault und von Hutten sich um Gwen und die Kinder kümmern, dann sind sie so sicher wie in Abrahams Schoß! Aber nimm dir ein paar Leute mit, wenn du zu Gwen fährst – man kann nie wissen!“

Der Seewolf nickte.

„Dan und ich werden fahren. Dan wird DoktorFreemont verständigen, während ich schon zu Gwen und den Kindern reite. Mehr als zwei Mann sind zu auffällig.“

„Recht so.“ Der alte O’Flynn nickte wieder, anschließend humpelte er auf die Kuhl zurück.

„Ferris, nimm dir ein paar Mann, beginne damit, das Floß für den Kerl in der Vorpiek zu zimmern. Wir werden ihn aussetzen, sobald es dunkel ist!“

Der rothaarige Hühne verschwand. Auf der Kuhl angelte er sich noch zwei Mann und verschwand mit ihnen unter Deck.

„So wahr ich Ferris Tucker heiße und Schiffszimmermann der ‚Isabella‘ bin“, brummte er. „ich werde dafür sorgen, daß dieser Dreckskerl bis zu seiner Höllenfahrt einen nassen Hintern hat. Der soll sich wundern!“

Ferris Tucker war sonst weder grausam noch rachsüchtig, aber auch bei ihm war das Maß endgültig voll.

Schon ein paar Minuten später schleppte er mit Bahuti und Big Old Shane ein paar Bohlen aus dem Schiffsinneren an Deck. Gleich darauf klangen die Schläge schwerer Zimmermannsäxte über Deck.

An diesem Nachmittag und Abend war in Plymouth die Hölle los. Der Friedensrichter Keymis, der an diesem Tag dem Tod nur ganz knapp entronnen war und das auch genau wußte, stürzte in der „Bloody Mary“ des dicken Plymson einen Whisky nach dem anderen herunter. Sein Spießgeselle Burton tat das gleiche.

Der Kai, an dem noch vor wenigen Stunden die „Isabella VIII.“ gelegen hatte und auf dem der Seewolf samt seiner Crew hatte verhaftet und das nagelneue Schiff beschlagnahmt werden sollen, glich einem Heerlager. Die Soldaten hatten ihre Musketen zusammengestellt, die Berittenen ihre Pferde an den Pollern angebunden. Irgendein Schlaukopf hatte Holz aufgetrieben, und so flackerten auf dem Kai Feuer auf, an denen die Soldaten sich wärmten.

Der königliche Hofbeamte war längst wieder in der Kutsche in Richtung London unterwegs, um dem Lordkanzler, Sir Battersby, Bericht zu erstatten. Keymis und Burton wußten das, und sie zitterten davor, obwohl sie ihre Schmach und Furcht hinter wüsten Beschimpfungen verbargen. Ihre Anweisung, ebenfalls in Plymouth zu verbleiben, bis man sich über die nächsten Schritte im klaren sei, hatte der königliche Hofbeamte einfach ignoriert und den beiden Verbrechern, die er längst durchschaute, auf diese Weise seine grenzenlose Verachtung ausgedrückt.

Keymis und Burton saßen in einem Hinterzimmer der „Bloody Mary“. Ihre Sinne waren bereits umnebelt. Aber mit jedem Glas, das sie tranken, wuchs ihre Wut über die erneute Niederlage, die der Seewolf ihnen zugefügt hatte. Mehr noch: Sie waren beide vor ihm über das Kopfsteinpflaster der Pier gekrochen wie Hunde, die man gerade fürchterlich verprügelt hat. Keymis hatte sich vor Aufregung, Wut und Angst sogar in der Kutsche übergeben, in die er sich schließlich geflüchtet hatte.

Der Friedensrichter fuhr aus seinem dumpfen Brüten hoch.

„Wir müssen jetzt etwas unternehmen, Burton. Wir brauchen Erfolge, und zwar schnell, oder wir sind erledigt. Wir ...“

Burton rülpste und sah Keymis aus seinen blutunterlaufenen Augen an.

„Noch ist gar nichts verloren, Keymis. Es wäre vielleicht besser gewesen, wenn wir den Seewolf und seine Kerle jetzt dort vorn in Ketten auf der Pier liegen hätten. Aber so, wie die Dinge jetzt stehen, ist er der Rebellion schuldig. Ob die Krone will oder nicht, sie muß ihn jagen. Nur – um ihn zu jagen, müssen wir wissen, wohin er segeln wird. Das heißt, wir müssen herauskriegen, wo seine Frau steckt. Ich gehe jede Wette ein, daß die seine Pläne kennt.“

Als ob seine Worte bestätigt werden sollten, erhob sich am Kai plötzlich allgemeiner Lärm. Die Soldaten waren aufgesprungen und blickten den beiden Schiffen entgegen, die soeben in den Hafen einliefen und sich anschickten, an der Pier festzumachen.

Keymis war aufgesprungen, als der erste Böllerschuß über den Hafen dröhnte. Dann rannte er durch das Hinterzimmer, stieß die Tür zur Schankstube auf und stürzte ins Freie.

Burton folgte ihm. Sie erkannten die beiden Schiffe sofort.

„Die Kriegsgaleone – und da, etwas seitlich hinter ihr, die Kriegskaravelle! Der Lordadmiral hat sie also doch entsandt! Los, Burton“, stieß Keymis voller Erregung hervor. „Wir müssen sofort an Bord, sobald die Schiffe vertäut sind. Ich muß mit dem Kommandanten dieses Geschwaders reden, ihm meine Instruktionen geben!“

Seine Rechte glitt in eine der Taschen seiner Jacke. Die Legitimation, aus der er seine Vollmachten bezog, war noch da. Er überlegte einen Moment.

„Plymson!“ schrie er dann. „Plymson, du verfluchter Fettwanst, sofort her mit dir!“

Der Wirt hörte das Geschrei, und ihm schwante nichts Gutes. Er sollte recht behalten.

Plymson hastete heran. Er fürchtete Keymis, trotz der Demütigung, die der Friedensrichter in den vergangenen Stunden durch den Seewolf erlitten hatte. Aber den Seewolf uns seine Männer fürchtete der Schankwirt noch weit mehr Er hatte da so seine persönlichen Erfahrungen mit den Seewölfen hinter sich und nie auch nur eine Sekunde lang daran geglaubt, daß aus der Verhaftungsaktion etwas werden könnte.

„Sir, Sie wünschen?“ fragte er und vollführte dabei einen Bückling, der ihm trotz seiner Körperfülle hervorragend gelang. Gleichzeitig angelte er nach seiner speckigen Perücke, die ihm schon wieder vom Schädel zu rutschen drohte.

„Schaff mir Pete Bow herbei!“ blaffte der Friedensrichter ihn an. „Sofort! Ich will den Kerl noch einmal befragen. Er muß etwas über den Aufenthalt dieses Rebellenweibsbilds herausgefunden haben. Durch meinen überraschenden Aufbruch nach London hatte ich noch nicht genügend Zeit, mich mit diesem Bow zu befassen. Wenn er nicht innerhalb der nächsten Stunde hier auftaucht, dann ergeht es dir schlecht. Verstanden?“

Plymson dienerte abermals. Dabei rasten seine Gedanken. Natürlich hatte Pete Bow ihm Bericht erstattet. Und natürlich war klar, daß der Seewolf damals nach Bere Ferrers gefahren war und dort auch die Nacht verbracht hatte. Nur wußte auch Bow nicht, wo. Ebensowenig hatte er herauskriegen können, ob der Seewolf überhaupt bei seiner Frau oder bei jemand ganz anderem gewesen war.

Und jetzt war Pete Bow nicht erreichbar, weil er nach seinem verschwundenen Bruder suchte, den die Seewölfe entweder umgebracht hatten oder noch gefangenhielten.

„Sir – in einer Stunde, ich fürchte, das – das wird leider nicht möglich sein. Mister Bow stellt zur Zeit Nachforschungen nach seinem verschollenen Bruder an, ich weiß nicht, wo er sich im Moment aufhält, ich ...“

„Es ist mir völlig gleichgültig, wo du ihn findest und wie du ihn herbeischaffst!“ schnarrte der Friedensrichter. „Sobald ich mit dem Geschwaderkommandanten der beiden Schiffe dort gesprochen habe, will ich ihn sehen, oder ...“

„Sir, ich hätte da noch einen anderen Vorschlag, ich meine, wir sollten ganz unabhängig von Mister Bow in Bere Ferrers ...“ Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern, das kaum noch der unmittelbar neben Keymis stehende Burton verstand.

Keymis hörte ihm aufmerksam zu. Hin und wieder zuckte sein Ziegenbart. Dann sah er den dicken Plymson nachdenklich an.

„Du bist gar nicht so dumm“, sagte er. „Also los, besorge ein paar Männer, aber solche, die ihr Handwerk verstehen, klar? Und diesen Pete Bow will ich trotzdem sprechen!“

Plymson zog sich dienernd zurück. Weder Keymis noch Burton ahnten, daß er über alles, was gerade besprochen worden war, längst seine eigenen Vorstellungen hatte. Das, was unlängst da vorn auf dem Kai passiert war und die erbärmliche Rolle, die Keymis und Burton dabei gespielt hatten, hatten ihn auf ein paar Ideen gebracht.

Burton und Keymis verließen die „Bloody Mary“. Sie stolzierten zum Hafen hinüber, wo sich die beiden Schiffe eben anschickten, am Kai festzumachen.

2.

Die „Isabella VIII.“ hatte beigedreht. Carberry und Blacky hatten die dicke Bohlentür zur Vorpiek geöffnet.

Ray Bow zuckte zurück, als er die beiden sah, deren Gesichter nichts Gutes verhießen. Seine Ketten klirrten, seine tiefliegenden Augen schienen im Schein der blakenden Öllaterne zu glühen.

Der Profos hielt sich nicht mit langen Vorreden auf.

„Los, her mit dir!“ fuhr er den Hageren an. Dabei hatte er schon den Schlüssel für die Hand- und Fußfesseln aus einer der Taschen seiner Jacke geangelt.

Ray Bow war bis zur Wand zurückgewichen.

„Was wollt ihr, ich verlange ...“

Blacky sprang vor und wischte den viel schwereren Profos mit einer einzigen Bewegung seines rechten Armes zur Seite.

„Du verlangst?“ brüllte er. „Was verlangst du? Daß ich dir jetzt gleich den Strick um den Hals lege und dich hochziehe? Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gern ich dir diesen Wunsch erfüllen würde!“

Er packte den Hageren und zog ihn zu sich heran.

„Damit du es weißt, unsere Geduld mit Mördern und Taugenichtsen, wie du einer bist, ist zu Ende. Gelichter von deiner Sorte wird zertreten wie eine Kakerlake, die sich zu weit vorgewagt hat. Wir hatten bisher nur leider noch keine Zeit, uns um dich zu kümmern.“

Er zerrte den Mann zu Carberry hinüber, und weidete sich dabei an der Todesangst, die den Hageren befiel, denn er hatte Blackys Worte durchaus für bare Münze genommen.

Der Profos schloß die Fesseln auf. Als auch die Beine frei waren, zog er eine Pistole aus dem Gürtel und spannte den Hahn.

„Vorwärts. Bei der ersten Bewegung, die mir nicht gefällt, schieße ich!“

Carberry und Blacky trieben den Hageren von der Back zum Hauptdeck und von dort zur Kuhl. Dort hatte sich die Mannschaft bereits versammelt. Finstere, verschlossene Gesichter blickten Ray Bow entgegen.

Der Hagere taumelte unter einem Stoß Blackys. Dann befand er sich auch schon in dem Kreis der Männer, der sich vor ihm, Blacky und Carberry geöffnet hatte, sich aber sofort wieder schloß.

Der Seewolf trat auf den Hageren zu. Seine eisblauen Augen blickten erbarmungslos.

„Du bist des versuchten Mordes und des vollendeten Diebstahls in zwei Fällen am Eigentum dieser Männer hier überführt. Wir könnten dich hängen, denn das wäre die Strafe, die auf diese Verbrechen steht.“

Hasard legte eine kleine Pause ein. Ihm war nicht entgangen, daß der Hagere bei seinen letzten Worten aufgeatmet hatte, und der Seewolf verpaßte ihm sofort einen gehörigen Dämpfer.

„Du freust dich zu früh. Ungesühnt bleiben diese Verbrechen nicht. Darum haben wir beschlossen, dich auszubooten. Jetzt und hier. Du erhältst ein Floß, etwas Wasser, etwas Proviant. Gott sei dir gnädig!“

Der Hagere war bei den letzten Worten des Seewolfs zurückgefahren. Sein Gesicht wurde kreidebleich.

„Nein – das könnt ihr nicht tun – das ...“

Hasard reagierte auf sein Gestammel nicht.

„Du und dein Bruder, ihr habt auch nie danach gefragt, was eure Opfer empfanden. Wir lassen dich nur frei, weil wir uns an dir nicht die Finger beschmutzen wollen. Profos, walte deines Amtes.“

Carberry trat auf den Verurteilten zu.

„Vorwärts!“ befahl er. „Keine Faxen, du Bastard, oder ich werfe dich über Bord!“

Der Kreis der Seeleute öffnete sich. Carberry trieb den Hageren zum Hauptdeck hinunter und dann zum Steuerbordschanzkleid hinüber.

Er deutete auf ein Tau, das am Schanzkleid befestigt worden war.

„Da ’runter mit dir, und ein bißchen plötzlich! Und sag deinem sauberen Bruder, falls du ihn je wiedersehen solltest: Wen wir von euch das nächstemal an Bord unseres Schiffes erwischen, den knüpfen wir auf. Sofort und ohne jede Verhandlung!“

Er verpaßte dem Hageren einen derben Tritt in den Hintern, der ihn ans Schanzkleid katapultierte.

Ray Bow begriff, daß er von dieser Crew keinen Pardon zu erwarten hatte. Er enterte über das Schanzkleid, hielt sich dort aber noch einen Augenblick fest.

„Ihr denkt, ihr bringt mich um!“ schrie er in die Dunkelheit hinein, die sich inzwischen über das Schiff gelegt hatte. „Aber ihr hättet mich aufhängen sollen. Ich werde leben, und ich werde euch wieder begegnen, und dann rechne ich mit euch ab, wenn euch bis dahin nicht die beiden Kriegsschiffe erwischt haben, die Keymis und Burton euch auf den Hals gehetzt haben! Ich werde euch hängen sehen, euch alle, einen nach dem anderen, denn ihr seid Rebellen, dreckige Piraten, vogelfrei für jedermann!“

 

Carberry stieß einen Wutschrei aus, aber noch schneller war Blacky. Er hechtete auf das Schanzkleid zu und wollte den Hageren packen, aber der war bereits weg.

In seiner Wut zerrte Blacky wie ein Wahnsinniger an dem Tau und versuchte, den daranhängenden Ray Bow wieder hochzuziehen, aber Hasard gebot ihm Einhalt.

„Ferris, kapp das Tau!“ wies er den Schiffszimmermann an.

Der rothaarige Hüne holte aus. Die scharfe Schneide seiner Axt durchtrennte das Tau beim ersten Hieb.

Ein lauter Fluch ertönte, dem das Geräusch eines ins Wasser klatschendes Körpers folgte.

Blacky beugte sich über das Schanzkleid. Er sah das abtreibende Floß und den Hageren, der sich daran festklammerte und versuchte, sich hinaufzuziehen.

„Gut so!“ brüllte Blacky, immer noch tobend vor Wut, „mit einem nassen Arsch wirst du an der Floßfahrt auch viel mehr Freude haben, du Dreckskerl! Grüß den Teufel von mir, wenn dich die Fische gefressen haben. Hoffentlich weißt du, daß es vor Cornwalls Küsten Haie gibt ...“

Abermals tönten wüste Beschimpfungen herauf, aber Hasard bereitete dem Ganzen ein Ende.

„An die Brassen! Ruder hart Backbord!“ übertönte seine Stimme das Durcheinander.

Die Männer lösten sich vom Schanzkleid und eilten auf ihre Stationen.

Die „Isabella“ schwang herum. Haßerfüllt starrte Ray Bow ihr nach, wie sie in der Dunkelheit verschwand. Schon in diesem Augenblick spürte er die erbarmungslose Kälte, die nach ihm griff, an seinem Körper emporkroch und ihn zu lähmen drohte.

Ben Brighton kannte sich an der Küste Cornwalls bestens aus. Er hatte die Führung der „Isabella“ übernommen, während Hasard sich in seine Kammer zurückgezogen hatte. Ihn beschäftigte die Bemerkung des Hageren, daß man zwei englische Kriegsschiffe auf sie gehetzt hätte.

Der Seewolf befand sich in diesem Moment in einem schweren Konflikt. Einerseits konnte er sich nicht erklären, wieso Keymis oder Burton oder beide schon vor Tagen Schiffe auf sie gehetzt haben sollten. Wer gab ihnen dazu denn die Vollmachten? Besonders Burton, der sich doch auch in höfischen Kreisen bestimmt keines guten Rufes erfreute. Anderseits mußte Hasard aber auch an die Schlappe denken, die sie dem Lordkanzler, dem Lordadmiral und dem Schatzkanzler an der Themse zugefügt hatten. Vielleicht wehte von daher der Wind.

Der Seewolf ging in seiner Kammer hin und her.

Wenn die Drohung dieses Verbrechers stimmte, konnte er es dann überhaupt noch riskieren, zur Wembury Bay zu segeln und von dort aus zu Gwen und den Kindern zu fahren? Anderseits aber mußte er es tun, denn Gwen war in Gefahr. Er wollte und konnte die englischen Gewässer nicht verlassen, ohne für Gwen alles getan zu haben, was in seinen Kräften stand.

Der Seewolf warf einen Blick auf die Karte, die vor ihm auf dem schweren Mahagonitisch ausgebreitet lag.

Es war nicht weit. Die Wembury Bay bot hervorragende Verstecke für das Schiff. Außerdem – wer würde schon damit rechnen, daß die „Isabella“ dorthin segelte?

Hasard entschloß sich rasch. Er verließ seine Kammer und stieg an Deck.

„Ben“, sagte er zu seinem ersten Offizier. „es bleibt dabei. Wir segeln zur Wembury Bay in das Versteck, das du kennst. Aber für heute nacht erhöhte Wachsamkeit für alle. Ich durchschaue den schlimmen Plan, den sich Keymis und Burton wieder ausgeheckt haben. Sie wollen, daß ich englischen Schiffen in englischen Gewässern ein Gefecht liefere und die ‚Isabella‘ schließlich zusammengeschossen oder aufgebracht wird. Geschieht das, kann uns keine Macht der Erde mehr vor dem Galgen bewahren.“

Ben Brighton nickte düster. Auch er hatte schon über diese Möglichkeit nachgedacht.

„Du solltest Gwen und die Kinder an Bord holen und mitnehmen“, sagte er nach einer Weile. „Hier, bei uns, sind sie am sichersten. Du kannst ihnen dann irgendwo eine Bleibe verschaffen, wo du sie regelmäßig besuchst.“

„Ich habe mit Gwen auch über diese Möglichkeit gesprochen. Aber sie lehnt das ab. Und ich verstehe auch, warum. Sie will, daß aus den Kindern etwas wird, daß sie unter normalen Verhältnissen aufwachsen. Außerdem, Ben“, er sah seinen ersten Offizier an, „dir brauche ich doch wohl über das monatelange Leben an Bord eines Schiffes wie der ‚Isabella‘ nichts zu sagen. Sie ist ein herrliches Schiff. Aber Hasard und Philip, meine beiden Söhne, sind noch Säuglinge. Denk an die Stürme, in die wir geraten werden, denk an die Kämpfe, an die Breitseiten, denen auch wir bestimmt nicht immer entgehen werden. Und denk daran, daß, wenn wir von der Krone zu Gesetzlosen, zu Piraten erklärt werden sollten, daß dann auch Gwen und die beiden Kinder darunter fallen würden, sofern sie sich bei uns an Bord befinden, weil sie sich damit ebenfalls gegen die Krone stellen!“

Der Seewolf atmete schwer. Plötzlich legte er Ben Brighton die Rechte auf die Schulter.

„Du zermarterst dir den Kopf nach einem Ausweg, Ben. Genau wie ich. Du hast genauso scharf erkannt, in welch eine üble Situation uns diese beiden Schurken hineinmanövriert haben. Der Plan war teuflisch, er hat nur bis jetzt noch nicht ganz so geklappt, wie diese beiden sauberen Herren sich das vorgestellt haben. Ich werde mit Gwen nochmals sprechen, ich werde ihr noch einmal vorschlagen, mit uns zu segeln. Aber zwingen werde ich sie nicht. Das könnte und das wollte ich nicht, weil ich sie und die Kinder liebe.“

Ben Brighton nickte. Ihm war völlig klar, in was für einem Dilemma der Seewolf steckte.

Die nächsten Stunden schwiegen die beiden Männer auf dem Achterkastell. Auf dem ganzen Schiff herrschte äußere Wachsamkeit.

Zwei Stunden vor Mitternacht warf die „Isabella“ ihren Anker in einer kleinen Bucht unweit von Newton Ferrers. Die Männer bargen die Segel, alle Lichter auf dem Schiff wurden gelöscht. Felsen schirmten die Galeone gegen Sicht von See her ab.

Eine Stunde später hatten sich Hasard und Dan Pferde besorgt. An einer Weggabelung zügelte der Seewolf sein Pferd.

„Dan, sieh zu, daß du Doktor Freemont erwischst. Dann reitest du mit ihm sofort nach Bere Ferrers. Ich warte dort bei Gwen auf euch. Aber, Dan“, er sah das zum Mann herangewachsene einstige Bürschchen an, „keine Eigenmächtigkeiten, keine Händel, gleich welcher Art, solange du nicht direkt bedroht bist. Es hängt diesmal alles davon ab, daß wir nicht entdeckt werden!“

„Ich weiß“, erwiderte Dan. Die Züge des Jüngsten der „Isabella“-Crew wirkten ungewöhnlich ernst. „Ich werde aufpassen, du kannst dich auf mich verlassen.“

Damit wendete er sein Pferd und galoppierte davon. Niemand hätte diese beiden Reiter als Seeleute erkannt, denn der Seewolf hatte dafür gesorgt, daß sie unauffällige Kleidung trugen.

Trotzdem nahmen die Dinge eine dramatische Wendung.

In der zweiten Nachthälfte entdeckte der Ausguck einer von der französischen Küste nach England segelnden Schaluppe den halberfrorenen Ray Bow durch puren Zufall auf seinem Floß.

Die Männer stürzten an Deck und die Schaluppe drehte bei. Erst nach mehreren Anläufen gelang es der Besatzung, den nahezu Bewußtlosen an Bord zu ziehen.

Sie versorgten ihn, so gut es ging. Vor allem mit einer tüchtigen Portion Rum und trockenen Kleidern. Anschließend setzte die Schaluppe ihren Weg fort.

Das war genau zu der Zeit, in der sich die „Isabella“ unter ständigem Loten und bei Dunkelheit in die Wembury Bay und später auch in den engen Wasserarm der Bucht hineinmogelte, hinter dessen zweiter Biegung jene Stelle lag, die Ben Brighton als Versteck außerkoren hatte.

Ray Bow besaß eine äußerst kräftige Konstitution. Um jedoch unbequemen Fragen zu entgehen, deren Beantwortung ihm verdammt schwergefallen wäre, stellte er sich während der ganzen Fahrt auch weiterhin halbtot, obwohl er sich ziemlich rasch erholte.

Die Schaluppe machte eine Stunde vor Mitternacht in der Wembury Bay unweit des kleinen Ortes Wembury fest. Und dort verschwand Ray Bow von Bord, ohne daß einer der Seeleute etwas davon bemerkte. Erst viel später, am nächsten Morgen, entdeckten die Männer, daß mit dem Geretteten auch ihre Geldschatulle verschwunden war.

Ray Bow, der sich in dieser Gegend hervorragend auskannte, lief, so schnell ihn seine Beine trugen, nach Knighton, einem Ort, der nur aus ein paar Häusern bestand, in dem aber jemand wohnte, dem er vertrauen konnte. Nur nahm er nicht den kürzesten Weg, sondern er schlug einen Bogen an der Bay entlang, um eventuelle Verfolger abzuschütteln. In Knighton würde er ein Pferd kriegen können, denn er wollte so rasch wie möglich nach Plymouth, wo er seinen Bruder wußte.

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