Loe raamatut: «Das große Littlejohn-Kompendium», lehekülg 8

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6. DIE VORBEUGENDE UND HEILDENDE WIRKUNG DER WISSENSCHAFT DER OSTEOPATHIE

Vortrag vor der Royal Society of Literature, London.57 Journal of Osteopathy (VI), 1900, S. 366–383.

Zum ersten Mal in Europa und in dieser Weltmetropole möchte ich die Behauptungen dieser neuen Wissenschaft darstellen. Ich trete als deren Verteidiger auf, weil ich ihre Behauptungen überprüft und dabei festgestellt habe, dass sie auf wissenschaftlichen Prinzipien beruhen, die zum Gemeinbesitz der medizinischen Profession gehören. Es trifft sich ausgezeichnet, dass die erste Darlegung und Verteidigung der Osteopathie vor dieser ehrwürdigen wissenschaftlichen Vereinigung geschieht. Ihre verbrieften Rechte als Königliche Gesellschaft verschaffen Ihnen den Vorzug und die Ehre, jede wissenschaftliche Wahrheit mit dem Siegel der Echtheit zu versehen. Und Sie haben das Recht, sie unter den gewöhnlichen Leuten zu verbreiten. Mich ermutigen die Worte, mit denen sich Hamlet an Horatio wendet:

„Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf der Erde als sich Ihre Philosophie träumen lässt.“

Es ist wunderbar, das Privileg zu besitzen, in diesen letzten Jahren des 19. Jahrhunderts zu leben und an all den wissenschaftlichen Anstrengungen und Bewegungen teilzuhaben, die versprechen, die Zivilisation mit ihrem höchsten Ruhm zu krönen. Im Bereich der Medizin finden Veränderungen statt, die den vergangenen Generationen noch gänzlich unbekannt waren. Auch in anderen Sparten der Kultur- und Naturwissenschaft weicht die Künstlichkeit der Natürlichkeit. Es gab in der Wissenschaft allerlei Ballast, der nun abgeladen wird, und wir werden mehr und mehr zu den einfacheren und sichereren Methoden der Natur zurückgeführt. Von einem alten Gelehrten stammt diese begeisterte Lobpreisung der Heilkunst:

„Bei nichts kommt der Mensch den Göttern näher als bei der Gesundmachung seiner sterblichen Mitmenschen.“

Die Wissenschaft schreitet unentwegt fort. Jedes neue Jahrzehnt eröffnet im wissenschaftlichen Bereich Tiefen und Einsichten, wie man sie sich bis dahin noch gar nicht hatte vorstellen können. Keine Wissenschaft und keine Kunst ist jedoch derart vielen Veränderungen unterworfen wie die der Medizin – wobei wir hier den Begriff Medizin im weitesten Sinn verwenden. Nach der Definition von Dr. Malcom Morris, F.R.C.S., der über den medizinischen Fortschritt während der Regierungszeit der Königin schreibt, umfasst Medizin „[…] die gesamte Heilkunst und jene Gesetze, auf denen diese Praxis beruht.“ Die Wissenschaft der Medizin ist nicht auf Medikamente bzw. deren Verschreibung oder Gebrauch beschränkt. Tatsächlich bringt die Therapie der modernen medizinischen Colleges Medikamente rasch in Misskredit. Das Enzyklopädische Wörterbuch definiert Medizin als „Wissenschaft und Kunst, die in erster Linie auf die Verhütung von Krankheiten und in zweiter Linie auf deren Heilung zielt.“ Nur ein sehr kleiner Teil des Ausbildungsprogramms ist den Medikamenten gewidmet. Anatomie, Physiologie, Pathologie, Symptomatologie und Diagnose haben ihre Bewahrer, Förderer und Verteidiger in diesen Schulen gefunden. Und wenn wir die Pharmakologie beiseite lassen, sehen wir immer noch ein großes Feld der medizinischen Ausbildung vor uns liegen.

Allmählich verstehen die Menschen, dass man Krankheiten durch wissenschaftlichere Methoden heilen kann als durch die Anwendung mysteriöser und unsicherer Medikamente. Nahezu instinktiv scheinen sich Menschen in allen Ländern in die gleiche Richtung einem System zuzuwenden, dessen Hauptprinzip es ist, den Körpermechanismus an sich selbst anzupassen und seine organischen Funktionen zu harmonisieren. Drückt ein verspannter Muskel auf einen sensiblen Nerv, entsteht Schmerz, drückt er auf einen motorischen Nerv, hat das den Verlust der Muskelfunktion oder Lähmung zur Folge. Die Dislozierung eines Knochens, Ligaments oder Muskels mit Behinderung eines Blutgefäßes erfordert die mechanische Kunstfertigkeit eines Maschinisten, um die Dislozierung zu beheben oder die Behinderung zu entfernen, sodass das System in Freiheit und normal arbeiten kann. Die Inaktivität von Nerven, eine Flüssigkeitsstauung oder die Ansammlung verseuchter und keimhaltiger Flüssigkeiten im System erfordern die mechanische Befreiung der verursachenden Teile. Und in dieser Befreiung liegt das Geheimnis der Wiederherstellung der Gesundheit und der Beseitigung von Leiden und Krankheit. Wissenschaftliche Forscher in der gesamten Welt beginnen zu erkennen, dass wir bei der Therapie auf der Basis der Anpassungsfähigkeit Struktur und Funktionen des Körpers beachten müssen. Dr. Willock, M. R. C. S., der mehr Aufmerksamkeit für neue, die Brust betreffende Behandlungsformen fordert, ist der Ansicht, diese Methoden zur Behandlung derartiger Krankheiten

„[…] haben die Medikamente aus ihrer Monopolstellung vertrieben. Sie zeigen, dass etwas anderes als pharmazeutische Produkte eine entscheidende Heilwirkung auf pathologische Zustände des Atmungs- und des Kreislaufsystems hat. Unter allen Organsystemen, von deren ununterbrochener funktioneller Aktivität das Fortbestehen des Lebens abhängt, sind es diese beiden, über die wir am meisten mechanische Kontrolle haben. Und wir können über mechanische Mittel eine beachtliche und bedeutende therapeutische Wirkung bei bestimmten Erkrankungen von Herz und Lungen erzielen.“

Durch die Anwendung der mechanischen Behandlung wird, wie Dr. Willock hinzufügt,

„[…] die Belastung des geschwächten Gewebes vermindert und seine Vitalität verlängert. Zusätzlich wird die Wirkung andauernder Bewegungen auf elastische und Muskelgewebe diese stärken – vorausgesetzt übertriebene Anstrengung wird vermieden.“

Mechanische Bewegungen verschaffen uns demnach verstärkte funktionelle Aktivität und verstärkte Ernährung. Ergänzen wir dies noch durch die Tatsache, dass durch mechanische Mittel die Nervenstimulation physiologisch gefördert, Blut und Lymphe befreit und sämtliche Behinderungen aus dem Weg geschafft werden können – dann besitzen wir die fundamentale Basis der Osteopathie.


ABB. 12: LITTLEJOHNS EINBÜRGERUNGSURKUNDE (1899)

In jenem Jahr, in dem Littlejohn zum Präsidenten der A.S.O. gewählt wurde, erhielt er auch seine amerikanische Einbürgerungsurkunde.

Unsagbar viel Dank schulden wir unseren Vorläufern, welche die Felder der normalen und der morbiden Anatomie und Physiologie gepflügt und es uns so ermöglicht haben, die Prinzipien der Osteopathie mit Präzision und Bestimmtheit auf das menschliche System anzuwenden. Das Prinzip der Osteopathie ehrt das similia similibus curantur wieder in jenem Sinn, dass die einzige vernünftige und wissenschaftliche Methode des Heilens von Krankheiten auf der Natur basiert: Die Natur hat auch in anderen Bereichen Siege errungen – etwa im Bildungsbereich, wo sie das alte Pauksystem abgelöst und aus Bildung die Anregung mentaler Entwicklung durch geschickte Wissensvermittlung mit Hilfe der Methode Natur gemacht hat. Das Gleiche kann sie auch im Bereich der Medizin leisten, wenn alles entfernt wird, was unnatürlich ist. Sie erlaubt den Rückgriff auf das vollkommene medizinische Labor des Lebens, aus dem die beruhigenden Ströme der Natur zu den erkrankten Teilen fließen.

In Allbuts neuem System der klinischen Medizin findet sich folgende Feststellung:

„Wir verschreiben Medikamente zu zwei Zwecken:

(1)um durch Entfernen sämtlicher Zustände, die Krankheit hervorbringen, Gesundheit direkt wiederherzustellen. Dabei gehen wir empirisch vor, ohne spezifische Kenntnisse – sehr oft sogar ohne eine genaue Kenntnis des Wirkmechanismus unserer Medikamente.

(2)um anomale Gewebe bzw. Organe in Richtung Normalzustand zu beeinflussen. Dies erreichen wir durch den Einfluss, den die chemischen Eigenschaften der Medikamente auf die Struktur und Funktion der verschiedenen Gewebe und Organe ausüben.“

Medikamententherapie ist also empirisch und ermangelt damit der Exaktheit und wissenschaftlichen Genauigkeit. Wir hingegen versuchen auf dem weitaus größeren Anwendungsfeld der Medizin zu einer wissenschaftlich begründeten Therapie vorzustoßen, insofern wir feststellen wollen, warum ein Organ oder Gewebe sich in einem anomalen Zustand befindet. Dabei benutzen wir Symptome und morbide Zustände, um die Ursachen zu erfassen – oder sie zumindest als sekundäre Ursachen zu entlarven. Durch sorgfältige physische Untersuchung des Status der neuronalen und vaskulären Versorgung im lokalen Bereich mit dem Ziel, jede Irritation oder Behinderung der Kräfte, die diesen Teil versorgen, aufzufinden und zu entfernen, wird die Grundlage für das therapeutische Anpassen mittels Manipulation geschaffen – und das ist Osteopathie.

Die Theorie der Medizin bzw. der Heilkunst – Ausdrücke, die ich bewusst synonym verwende – besteht darin, wissenschaftliche Mittel aus physiologischer Sicht so einzusetzen, dass das Leben geschützt und verlängert wird. Und sofern das Leben durch eine Krankheit, einen Unfall oder falsche Verwendung angegriffen oder bedroht wird, können bestimmte physiologische Prinzipien in Bezug auf das Körpersystem angewendet werden, um diese Zustände zu heilen oder zu lindern. Seit jeher versucht der Mensch, das menschliche System zu diesem Zweck zu behandeln. Aus diesen Versuchen entstand auch die medizinische Profession. Diese hat von der frühesten Antike an ihr Recht erworben, Krankheiten zu behandeln, wobei sie ihre moralische und rechtliche Verantwortung beim Umgang mit menschlichem Leben und Gesundheit anerkannt hat. Und sie hat versucht, das Leben angenehmer und folglich glücklicher zu machen – für die Lebenden, aber auch für die Sterbenden. Mit ihren national unterschiedlich formulierten Gesetzen wurde die Profession moralisch legalisiert, da ihre Ziele eben die Bekämpfung von Krankheit, das Verlängern des Lebens und die Mehrung der Annehmlichkeiten im Leben sind.

Bis heute gibt es allerdings in Bezug auf allgemeine Anwendungen keinen empirischen Standard, der von allen anerkannt ist. In der Frühzeit spielten magische Zeremonien und hypnotische Einflüsse in den Händen einer Priesterklasse von Ärzten die bedeutendste Rolle. Mit der Entdeckung der medizinischen Eigenschaften von Pflanzen, Mineralien und bestimmten Auszügen tierischer Gewebe und Organe, wurden diese als medizinische Agenzien eingesetzt. Zu Aderlass und Zugpflaster nahm man Zuflucht, um spekulativen Einflüssen im Körperorganismus entgegenzuwirken. Schließlich wurden bestimmte Schwingungs- und Massagebewegungen entdeckt, um auf den Stoffwechsel des Körpers und die organische Funktion einzuwirken. Diese wurden als heilende Agenzien akzeptiert. Hilton und andere stellten fest, dass das Prinzip der Ruhe, sofern es auf den Organismus oder seine Teile angewendet wird, die sonst in Gebrauch oder überlastet sind, ein neues und therapeutisches Prinzip erbrachte, wobei der Natur mit Unterstützung einer guten Ernährung die Harmonisierung aller Teile und mithin die Regeneration der Gesundheit überlassen wird. Andere haben festgestellt, dass die Anwendung von Wärme und Kälte auf den Körper einen entscheidenden Einfluss auf die Modifikation der Zustände von Kreislauf und Nerven hat, sodass thermale Agenzien aktiv verwendet werden können, um den Normalzustand wiederherzustellen. Weiterhin hat man herausgefunden, dass Licht eine markante therapeutische Wirkung auf den animalischen Organismus besitzt; Licht mit niedriger Frequenz beeinflusst beispielsweise die chemischen Prozesse und Licht mit hoher Frequenz ruft durch Modifizierung der Gewebespannung in Bezug auf die organischen Bewegungen mechanische Veränderungen im Organismus hervor. Den jüngsten Versuch in dieser Reihe, die Therapie der Natur anzuwenden, stellt die Osteopathie dar. Sie kann am besten als physiologisch-medizinischer Versuch beschrieben werden, die Harmonie der Natur auf der Basis des menschlichen Organismus als eines vollkommenen Mechanismus wiederherzustellen, ohne dass dabei äußere Medikation verwendet wird. Insbesondere seit Virchow sind Männer in anderen Bereichen durch das Studium der Biologie und Physiologie dazu gebracht worden, die Zelle als vitale Einheit zu betrachten, die zu Ernährung und Reproduktion fähig und auf der Grundlage dieser funktionellen Basis auch in der Lage ist, sich zu erneuern und in Verbindung mit der Masse anderer lebendiger Zellen einen Organismus als „Gesamtsumme lebendiger Einheiten“ zu bilden „[…] von denen jede alle Eigenschaften des Lebens offenbart.“ Parallel dazu stellen wir fest, dass die Nervenkraft als Hauptgewebe des Körpers, in sich das verborgene Prinzip der trophischen funktionellen Kontrolle über sämtliche Gewebe im Organismus enthält. Die winzigsten Nervententakel insbesondere im vegetativen bzw. unwillkürlichen Nervensystem kontrollieren jene vitalen Prozesse, die wesentlich für das Leben des Organismus sind. In nahezu jedem Labor in unseren europäischen Universitäten finden wir Männer, die tief in diesen physiologischen und biologischen Prozessen graben, um das Geheimnis des Lebens in der Zelle und im Organismus zu lüften, und – sofern möglich – all jene vitalen Prozesse zu erklären, die bei der Erneuerung der Zelle und des Lebens des Organismus stattfinden.

Die alte, durch Medikamente repräsentierte Wissenschaft der Medizin begann schon vor langer Zeit zu stürzen aufgrund der Angriffe des Skeptizismus, der stets der Wahrheit vorausgeht. In Molieres Theaterstücken finden wir das unnachahmlich gezeichnete Bild eines Mannes, der von Natur aus ein halber Narr war und künstlich in einen Arzt verwandelt wurde. Sein Geist war, wie es Goethe ausdrückte „[…] gut in spanische Stiefel eingefasst und festgeschnürt.“ „Nach mehreren Hammerschlägen auf das Eisen […]“ erhielt er sein Diplom. Seine größte Empfehlung bestand darin, dass er blind den Meinungen seiner Ahnen folgte. Heute leben wir jedoch in einem Zeitalter der Freiheit. 1566 stieß die medizinische Fakultät in Paris die Bewegung an, indem sie auf einstimmigen Beschluss hin folgende Resolution verabschiedete:

„[…] Gegenmittel sind schädlich und unter die Gifte zu zählen. Auch durch andere Aufbereitung lassen sie sich nicht so verbessern, dass man sie ohne Schädigung zu sich nehmen kann.“

1615 untersagte dieselbe Fakultät einstimmig den Medikamentenverkauf und rief alle Richter dazu auf, streng mit jenen zu verfahren, die besagte Medikamente verschrieben, verordneten oder zum Verkauf anboten. Beide Beschlüsse wurden vom Französischen Parlament ratifiziert und behielten gut 100 Jahre ihre Gültigkeit. Dennoch blieb es der Osteopathie vorbehalten, das Blut nicht nur als bedeutendes Mittel des Lebens zu behandeln, als jenen Faden, der die verschiedenen Gewebe des Körpers unter der Leitung und Kontrolle des Nervengewebes zu einer Einheit zusammenfügt, sondern auch Blut und Nervenkraft als Medizin der Natur einzustufen. Erst seit sehr kurzer Zeit beginnen wir, den Körper als einen großen, lebendigen Mechanismus zu erkennen, und damit seine Lebenskraft ungehindert sein kann, müssen die verschiedenen Teile der Maschine in Harmonie arbeiten, das Skelett muss an jede Bewegung von Knochen, Ligament und Muskel angepasst sein, reine Luft muss jede winzige Zelle einer unbehinderten Lunge und jede winzige Mulde gesunden Gewebes durchdringen, reines Blut muss in jedem Organ und Gewebe zirkulieren und eine vollkommene Nervensubstanz mit einer unbezähmbaren organischen Kraft muss jedes Gewebe beleben und durch jeden Bereich des Körpers verlaufen. So sieht die Osteopathie die Funktionen im menschlichen Körper.

Sie geht davon aus, dass die Verschreibung anorganischer Medikamente das physiologische System schädigt. In dieser Ansicht wird sie von den meisten bedeutenden Ärzten unterstützt, die eine Therapie ohne Medikamente praktizieren. Der berühmte Hilton, der weltweites Ansehen genießt und Rest and Pain geschrieben hat, verteidigte einst die inzwischen überall gefeierte Ruhekur. Weiter findet sich u. a. Dr. Keith, der in seinen Plea for a Simpler Life und Pads of an old Physician dasselbe Prinzip entschieden verteidigt und in einigen seiner Überlegungen die osteopathische Behandlung bereits antizipiert, insbesondere bei Angina pectoris. Die gefeierte manuelle Behandlung von Ling besitzt viele Aspekte, welche die osteopathische Therapie andeuten. Dr. William Osler lehnt in seinem glänzenden Werk über die Practice of Medicine den Gebrauch von Medikamenten als vergebliche und unzureichende Therapie rundweg ab. Den Höhepunkt erreicht er, indem er beim Erörtern von Krankheitsursachen „[…] die Einnahme von Medikamenten, jene schädlichste aller Gewohnheiten“ als eine der nahezu beständigen Ursachen von Krankheit bezeichnet.

Dr. Lauder Brunton vom St.-Bartholomäus-Krankenhaus in London macht in Bezug auf Kopfschmerzen diese im Prinzip osteopathische Feststellung:

„[…] Bei Migräne erfolgt eine Dilatation der proximalen Teile der Arteria carotida zusammen mit einer Kontraktion des peripheren Teils, und sobald ich die Belastung von den Gefäßen wegnehme, indem ich die Arteria carotida drücke, wird der Schmerz sofort erleichtert.“

Die Osteopathie nimmt die von solchen über den Bereich der Medizin verstreuten Männern verkündeten Prinzipien auf und fügt deren logischen Schlussfolgerungen jene Prinzipien hinzu, die ihrer Arbeit zugrunde liegen, nämlich: dass mechanische therapeutische Maßnahmen, sofern sie systematisch und physiologisch angewendet werden, die Grundlage der Vorsorge gegen und der Behandlung von Krankheiten bilden können. Die medizinische Wissenschaft schreitet nun von der Kindheit ins Mannesalter. Sie sammelt die fruchtbaren Verallgemeinerungen der vergangenen Geschichte, um sie jener induktiven Untersuchung zu unterziehen, die für ihre Überprüfung nötig ist. Wir versuchen in der Osteopathie, eine Kunst auf eine Wissenschaft zurückzuführen. Darin drückt sich der moderne Geist der wissenschaftlichen Forschung aus, und wir hoffen, dadurch aus den toten Dogmatismen der Vergangenheit als neue Wissenschaft aufzuerstehen – nicht nur in Bezug auf die klinische Arbeit im Krankenhaus, sondern auch auf die wissenschaftliche Arbeit im Labor.

Damit markieren wir den Anfang einer Entwicklung, von der wir glauben, dass sie den Bereich der Medizin mit Sicherheit revolutionieren wird. Die Osteopathie umfasst mit der Therapie sämtlicher körperlicher und mentaler Erkrankungen ein sehr weites Gebiet. Sie belegte ihren therapeutischen Wert erstmals bei angeblich unheilbaren Zuständen und hat sich bis heute in alle Bereiche der Medizin verzweigt. Formuliert wurde sie erstmals 1874 von Dr. A. T. Still. Dessen eigene Darstellung zeigt uns den ursprünglichen Blickwinkel, von dem aus er sie betrachtete. Er behauptete

„[…] dass ein natürlicher Blutfluss Gesundheit repräsentiert; dass Krankheit in der Wirkung lokaler oder allgemeiner Störung des Blutes besteht; dass die Erregung der Nerven die Muskeln dazu bringt, zu kontrahieren und den venösen Blutfluss zum Herzen zu pressen; und dass die Knochen als Hebel benutzt werden könnten, um den Druck auf Nerven, Venen und Arterien zu erleichtern.“ 58

Das menschliche System betrachtete er als vom Schöpfer perfekt konstruierte Maschine, die, im Zustand angemessener Anpassung gehalten, lange Zeit zu überleben fähig ist. Er stellte weiterhin fest, dass Manipulationen im Blick auf die skelettale Struktur nahezu beliebig durchführbar seien, woraus sich ergebe, dass man alle Organe dazu anregen könne, ihre normalen Funktionen wieder auszuführen. Aus diesem Anfang hat sich inzwischen ein System manipulativer Therapie entwickelt, die darauf abzielt, alle anomalen strukturellen und funktionellen Störungen des Systems anzupassen.

Obgleich die Osteopathie Medikamente ablehnt, behauptet sie dennoch, Erbin aller wissenschaftlichen Leistungen der vergangenen Medizin zu sein. Ihre Prinzipien lagen begraben unter der massiven Literatur aller anderen Heilungssysteme und wurden dennoch gelegentlich beim Kampf gegen Krankheiten eingesetzt. Doch die grundlegenden Prinzipien wurden bisher hinsichtlich ihrer Anwendung im prophylaktischen und heilenden Sinn noch nie vollständig systematisiert. Obgleich die Osteopathie hauptsächlich wissenschaftliche Manipulationen verwendet, beschränkt sie sich nicht ausschließlich auf die Wissenschaft und Kunst der Manipulation. Sie schließt vielmehr auch all jene therapeutischen Prinzipien ein, die von der Natur überprüft worden sind. Oft sind eine kräftige Konstitution und die natürliche Stärke eines Körpers fähig, Veränderungen selbst zu richten. Doch nicht selten ist die Natur zu schwach, um den Normalzustand wiederherzustellen. Hier setzt die Osteopathie an und unterstützt die Natur, indem sie den Körper derart manipuliert, dass dieser sich wieder selbst anpassen kann.

Die Osteopathie verkennt nicht die Tatsache, dass es viele indirekte, unter der Überschrift Prädisponierende Ursachen zusammenfassbare Ursachen gibt, die sich von den direkten Ursachen für Krankheit oder erkrankte Zustände unterscheiden. Vererbung, Umwelt, insbesondere aus gesundheitlicher und hygienischer Sicht, unterschiedlichste Bazillen, infizierte Keime müssen hierbei ebenfalls berücksichtigt werden, da sie alle Funktionsstörungen hervorrufen und sowohl lokal wie auch systemisch eine Störung der Körpergewebe verursachen können. Die Osteopathie behauptet, dass sich hinter diesen Faktoren oft eine tatsächliche Krankheitsursache verbirgt und dass deren Auswirkungen schlicht als Mittel oder Medium für Störungen und Unordnung der Gewebefunktionen dienen.

Liegen entsprechende Befunde vor, stellt sich natürlich die Frage: Wie kann die Störung beseitigt werden? Wo immer eine strukturelle Veränderung, eine gestörte Funktion oder eine Unordnung des Gewebes besteht, erscheint es nur logisch, die Anpassung der ursächlichen Läsion vorzuschlagen. Stellt der Chirurg ein ausgekugeltes Gelenk oder einen gebrochenen Knochen fest, wendet er seine mechanische Kunstfertigkeit an, um das Gelenk und den Knochen zu richten. Ist eine Rippe disloziert, ein Wirbel aus seiner normalen Position geraten oder ein Muskel verspannt – was eine Behinderung des Blut- und Lymphkreislaufs sowie der Aktivität der Nervenkraft mit einschließt: Was spricht dann dagegen, die chirurgische Wissenschaft mechanisch zur Anwendung zu bringen, um diese anomalen Zustände zu richten? Darin liegt das Geheimnis der Osteopathie – sie ist ein medizinisch-chirurgisches, kein medizinisches und chirurgisches System. Dass die besagten strukturellen Störungen die inneren Organe des Körpers beeinflussen, kann kaum bezweifelt werden. Das erste grundlegende Prinzip der osteopathischen Therapie besteht folglich darin, eine zuvor diagnostizierte derartige strukturelle Läsion zu entfernen bzw. die Dislozierung anzupassen, ob es sich nun um einen Knochen, Knorpel, ein Ligament oder einen Muskel handelt. Im Anschluss daran besteht das zweite Prinzip darin, den Allgemeinzustand des Patienten durch allgemeine Manipulation der Körpergewebe, die eine freie Zirkulation ermöglichen, zu verbessern und auch eine Begleitung im Hinblick auf Hygiene und Ernährung zu gewährleisten.

Nach Entfernen der Störung kann das Blut wieder frei fließen und die Nervenkraft in freien Bahnen wirken. Der Druck auf die Nervenfaser oder das Blutgefäß kann an jedem Punkt der skelettalen Struktur auftreten, und die Wirkung kann entweder direkt oder reflektorisch erfolgen. Im ersten Fall sind die Wirkungen nahe am Punkt der Behinderung zu erwarten, im zweiten Fall werden sie wahrscheinlich an einem entfernten Teil des Körpers oder in entfernten affizierten Reflexorganen festgestellt. Hieraus erklärt sich, warum in der Osteopathie die Wirbelsäule und die Rippen die wichtigsten Teile des Skeletts darstellen. Läsionen in diesen Bereichen beeinflussen ernsthaft die organischen Zentren im Rückenmark, die Medulla oblongata und das Gehirn als Grundlage des Lebens. Und sie bewirken eine Störung der trophischen Aktivitäten, die von der Wirbelsäule zu den vegetativen Ganglien und Nerven verlaufen und als Versorgungszentren für die funktionelle Aktivität in Thorax und Abdomen dienen. Die Osteopathie zielt darauf ab, Dislozierungen von Rippe und Wirbel und die Gewebeverspannung oder -dislozierung so anzupassen, dass die Natur ihre normale Aktivität wieder aufnehmen kann. Dies ist nur möglich, sobald die Gewebe und Knochen sich in ihrer normalen Position befinden und ihre normale Funktion wieder aufgenommen haben. In der Entfernung besagter Behinderungen, Irritationen und Hindernisse zur Befreiung der natürlichen Aktivitäten des Körpers, liegt das große Geheimnis des osteopathischen Erfolges.

Osteopathie beruht auf dem genauen Wissen über die anatomische Struktur und die physiologischen Funktionen des Körperorganismus. Die Natur hat im Körper bestimmte Lebenskräfte, vitalisierende Flüssigkeiten und vitalisierende Prozesse sowie Aktivitäten platziert, die in harmonischem Einklang miteinander das Gleichgewicht des Körpermechanismus aufrechterhalten. Jede Störung dieser Kräfte, Flüssigkeiten oder Prozesse und jede Störung ihrer Aktivität, ihres Kreislaufs oder ihrer Verteilung führt im Körper zu Dysharmonie und Störung der natürlichen Ordnung. Die osteopathischen Manipulationen schaffen wieder normale Bedingungen im Körper, sodass dieser sein funktionelles Gleichgewicht und die entsprechende Form wiedergewinnen kann. Die Osteopathie konstatiert, dass das Leben durch Lebenskräfte, vitalisierende Flüssigkeiten und Prozesse revitalisiert und gestärkt wird. Krankheit wird nur insofern beseitigt oder überwunden, als eine anomale Struktur verschwindet, die Disharmonie im Körper hervorruft und normale funktionelle Aktivität verhindert.

Technisch repräsentiert die Osteopathie jenen Zweig der Wissenschaft der Medizin in Diagnose und Therapie, der auf einem exakten und umfassenden Wissen über die Struktur des menschlichen Körpers, seine chemische Grundlage bzw. die chemische Zusammensetzung seiner Flüssigkeiten und Sekrete, über die physikalischen und physiologischen Prinzipien, welche die Körperaktivitäten regulieren, über Bewegung, Lokomotion, Ernährung, Vaskularisation, Atmung, Muskel, Nerven- und Drüsenaktion aufgebaut ist. Es geht weiterhin um das Wissen über die ausgearbeitete Synthesis dieser vitalen Prinzipien an der Basis des organischen Lebens. Dadurch soll jede Abweichung vom Normalzustand in Form von Dislozierung, Unordnung oder mangelnder Koordination leicht entdeckt und wissenschaftlich durch mechanische Operationen wiederhergestellt werden.

Allem voran steht die Annahme, dass der Körper ein vollkommener Mechanismus ist, der aus vielen Teilen besteht. Die zwei größten nennen wir Körper und Geist. Die aktive und harmonische Arbeit aller Teile im vollkommenen Mechanismus konstituiert Gesundheit. Der vollkommene Mechanismus stellt sowohl die Summe als auch den Höhepunkt alles Seienden dar, sodass jeder niedrigere Organismus oder jede Form der Existenz dem Aufbau und der Entwicklung dieses Meisterstücks der Natur und Gottes dient oder hauptsächlich hierzu beiträgt. Ein gesunder Körper besteht aus dem angemessenen Spiel und der korrekten Beziehung aller integralen Bestandteile des Organismus. Dies umfasst die korrekte Artikulation des gesamten Skeletts, der angemessenen Beziehungen der Muskeln, Ligamente, Knorpel und Sehnen zueinander und zu ihren skelettalen Befestigungen und die exakte anatomische Struktur und physiologische Aktion der Blutgefäße und der Nerven im Körper. Sie alle stehen nicht nur in wechselseitiger Abhängigkeit zueinander, sondern auch in Korrelation zum Organismus als Ganzem und bilden so die Basis der Lebenskraft.

Wir glauben zudem, dass ein bestimmter trophischer Einfluss in der zerebrospinalen Flüssigkeit entsteht, die im Gehirn sekretiert wird. Sie fließt vom Gehirn entlang des Spinalkanals und der Bahnen sämtlicher Hirnnerven, um zu jedem peripheren Teil des Organismus verteilt zu werden, sodass der Körper in der Lage ist, nicht nur angemessene Nährstoffe aus dem Blut auszuwählen, sondern mit der vitalisierenden Nervenkraft auch die lokale Ernährung zu regulieren. Besagte zerebrospinale Flüssigkeit übt weiterhin einen ölenden und antiseptischen Einfluss auf das Nervengewebe und die anderen Körpergewebe aus, in denen sie verteilt wird.59 ies macht die so versorgten Teile normalerweise immun gegen Krankheiten bzw. hilft erkrankten Organen bei der Regeneration. In den blutbildenden Organen des Körpers wird das Blut produziert, welches sich an den gesamten Körper bzw. an seine Teile so anpasst, dass die ernährenden Materialien und geeigneter Sauerstoff zu jedem Organ und Gewebe des Körpers transportiert werden können. Sofern die angemessene Nervenkraft wirkt, wird eine geeignete Substanz ausgewählt, durch einen sekretorischen Prozess vom Blut getrennt und lokal in den verschiedenen Körpergeweben verwendet. In diesen trophischen, selektiven und sekretorischen Prozessen liegt das Geheimnis des gesunden Bluts, eines gut ernährten Gewebes und eines aktiven Gewebestoffwechsels – Grundlage für einen gesunden Körper. Wenn die Muskeln einen angemessenen Tonus aufweisen, das Skelett und seine Ursprünge und Ansätze von Anomalien frei gehalten werden, das Zerebrospinale Nervensystem, das Hirnnervensystem und das Vegetative Nervensystem ungehindert arbeiten können, und das Angebot von Blut und Lymphe im gesamten Körper sich ausbalancieren kann, ist der Körper gesund. Jede Behinderung, Störung oder Fehlanpassung dieser Prozesse ruft einen ungesunden Zustand des Organismus hervor, da jegliche Unterbrechung oder Störung der physiologischen Prozesse die Versorgung der Einzelteile mit Nährstoffen unterbricht.

Die wesentliche Grundlage jeder therapeutischen Wirkung auf den Körperorganismus, ob sie nun durch Medikamente wie in der alten Schule der Medizin oder durch mechanische, thermische oder elektrische Stimulation wie in der neuen Schule der Medizin hervorgerufen wird, besteht darin, dass die Wirkung durch einen ernährenden Kanal oder mittels ernährender Prozesse hervorgerufen werden muss. Krankheit impliziert mit anderen Worten Fehlernährung. Die beiden hauptsächlichen physiologischen Prozesse, welche die ernährenden Prozesse kontrollieren, sind: