Seewölfe - Piraten der Weltmeere 225

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 225
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Impressum

© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-561-3

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Es war, als hätte der Teufel selbst seine Hand im Spiel. Im selben Augenblick, als Dan O’Flynns Ruf aus dem Fockmars schallte, daß sich das Schiff, dessen Masten er vor einer Stunde über der Kimm hatte auftauchen sehen, schnurstracks der Mündung des breiten Flusses näherte, in dem sie vor Anker gegangen waren, drehte der Wind schlagartig und begann, das ablaufende Wasser zu peitschen.

Ben Brighton trat unruhig von einem Bein aufs andere. Er sah, daß Pete Ballie im Ruderhaus auf seine Anweisungen wartete, genau wie die anderen unten in der Kuhl, die voller Spannung zum Achterdeck hinaufstarrten. Bens Blick glitt zwischen dem Ufer der breiten Flußmündung und Hasard hin und her.

Der Seewolf stand am Backbordschanzkleid des Achterdecks neben der Drehbasse. Er ließ die Bresche des Trockenwaldes, in dem seine Männer vor mehr als eineinhalb Stunden verschwunden waren, um den Frischfleischvorrat der „Isabella VIII.“ aufzufüllen, nicht aus den Augen.

Verdammt, warum ließen sich die Kerle so lange Zeit? Hasard drehte den Kopf und hob das Spektiv. Er kniff das linke Auge zusammen. Das Schiff, das sich der Insel näherte, war schon deutlich zu erkennen. Es war eine Karacke, die vor dem Wind mit Steuerbordhalsen segelte. Die Fock war teilweise abgedeckt. Es stand außer Zweifel, daß es sich um Piraten handelte, und Hasard wußte, was das bedeutete.

Er fluchte leise auf den Wind, der sich so plötzlich gedreht hatte. Er war es, der die Piraten so schnell heranführte. Vom Kutscher, Matt Davies, Batuti, Blacky und Stenmark war immer noch nichts zu sehen. Ebensowenig wie von den Zwillingen, die ihn, Hasard, so lange gelöchert hatten, bis er ihnen die Erlaubnis gegeben hatte, mit den fünf Männern an Land zu gehen.

Hasard nahm das Spektiv vom Auge und drehte sich ruckartig zu Ben Brighton herum. Seine Stimme war leise, aber fest, als er sagte: „Los, Ben, raus hier! Wenn wir länger warten, schießen sie uns in aller Ruhe zusammen und setzen uns auf Grund.“

Ben Brighton reagierte sofort. Seine laute Stimme hallte über Deck und brachte die Männer in Bewegung. Der Anker wurde gelichtet, Carberry scheuchte die Männer in die Wanten, und nur wenig später waren beide Marssegel gesetzt, die sich knatternd mit Wind füllten.

Die „Isabella“ drehte sich in der Strömung des ablaufenden Wassers, und mit Fahrt voraus trieb sie die Flußmündung hinunter.

„Braßt die Großmarsrah back!“ brüllte Carberry, nachdem er Ben Brightons Zeichen gesehen hatte.

Die Großmarsrah schwang herum, das Großmarssegel wurde vom immer mehr auffrischenden Wind gegen den Mast gedrückt, und die „Isabella“ trieb dwars weiter stromab. Ben Brighton ließ eine Minute später auch die Vormarsrah backbrassen, und mit Fahrt achteraus nahm die „Isabella“ den Bogen der Flußmündung, quer zwischen den Ufern stehend.

Hasard wußte, daß er sich nicht um seine Mannschaft zu kümmern brauchte. Ben Brighton würde die „Isabella“ heil aus der Flußmündung manövrieren. Aus den Augenwinkeln sah er, daß Al Conroy und Ferris Tucker schon dabei waren, das Schiff gefechtsbereit zu machen.

Hasards Blick klebte an der Bresche, die in den dichten Wald führte. Noch immer war niemand zu sehen. Er hoffte inständig, daß dieses kleine Eiland von den Jungferninseln unbewohnt war, so daß die Männer und die Zwillinge nichts von kriegerischen Eingeborenen zu befürchten hatten. Wenn sie den Piraten aus dem Weg gegangen waren oder sie im Kampf bezwungen hatten, würden sie in die Flußmündung zurückkehren, um die Männer und die Zwillinge wieder an Bord zu nehmen.

Er schaute nach oben, als das Knattern der Segel in seinen Ohren dröhnte. Ben Brighton hatte die Rahen lebendbrassen lassen. Die „Isabella“ verlor an Fahrt und trieb mit dem Strom.

„Braßt die Vormarsrah!“ brüllte Carberry.

Das Vormarssegel füllte sich und zog die „Isabella“ voraus. Nach dem Brassen der Großmarsrah vermehrte sich die Fahrt. Nachdem Ben Brighton das Schiff hatte abfallen lassen, weitere Segel gesetzt hatte und die Rahen am Wind getrimmt wurden, waren sie klar von der Flußmündung und liefen mit Steuerbordhalsen unter Vollzeug seewärts.

Ben Brighton trat neben Hasard ans Schanzkleid und blickte der Karacke entgegen, die keinen Zweifel daran ließ, welche Absichten ihr Kapitän hatte. Eine schwarze Flagge mit einem hellen Punkt in der Mitte flatterte am Topp. Sowohl Hasard als auch Ben Brighton konnten schon bald mit bloßem Auge erkennen, daß der weiße Fleck nichts anderes als ein Totenkopf war.

Hasard sah an Ben Brightons bedenklichem Gesichtsausdruck, daß er die Situation für genauso kritisch hielt wie er selbst. Die Piraten hatten alle Vorteile auf ihrer Hand. Sie hatten die Luvseite, und wenn ihr Kapitän nicht ein ausgemachter Trottel war, sah es schlecht aus um die „Isabella“.

Hasard preßte die Lippen aufeinander. Er war sich bewußt, daß es sein Fehler war, wenn sie hier von Piraten zusammengeschossen wurden. Er hatte mit seiner Entscheidung, aus der Flußmündung auszulaufen, zu lange gezögert.

Die „Isabella“ nahm langsam mehr Fahrt auf, aber es war fraglich, ob sie weit genug vom Land klarkam, um weiträumig manövrieren zu können.

Der Pirat ging härter an den Wind. Wie ein Pfeil schoß die Karacke auf die „Isabella“ zu und schob eine weiße, gischtende Bugwelle vor sich her.

„Schiff ist klar zum Gefecht!“ Ferris Tuckers dröhnende Stimme brachte Hasard in die Wirklichkeit zurück. Auf einmal dachte er nicht mehr an die Zwillinge, die er auf der kleinen Jungferninsel hatte zurücklassen müssen. Der alte Kampfgeist erwachte in ihm. Waren es nicht diese aussichtslos erscheinenden Situationen, die ein Mann brauchte, um sich immer wieder beweisen zu können?

Seine Stimme war klar und fest, als er seine Befehle gab. Sie alle wußten, was ihnen bevorstand. Sie hatten schon immer unter der geringen Anzahl der Mannschaft gelitten, und nun fehlten ihnen obendrein noch fünf Männer, die sonst das Schiff fast allein manövrieren konnten.

„Ferris und Al“, rief er hinunter zur Kuhl, „konzentriert euch auf je zwei Culverinen an Steuerbord und Backbord! Smoky und Sam unterstützen euch! Alle anderen braucht Ben!“

Er warf einen kurzen Blick zur Karacke hinüber, aber die hatte, wie nicht anders erwartet, den Kurs auf die „Isabella“ beibehalten.

„Wir werden im letzten Augenblick halsen“, sagte er zu Ben Brighton, der den Mund zu einer Erwiderung öffnete. Hasard ließ ihn gar nicht erst reden. „Fahr sie, so eng es geht.“

„Aye, aye“, erwiderte Ben trocken, „aber sie werden uns in den Grund bohren, bevor Ferris auch nur eine Culverine abgefeuert hat.“

„Das ist Ferris’ Sache“, sagte Hasard kalt.

Sie konnten schon einzelne Männer an Bord der Karacke erkennen. Hasard sah, wie sie sich schon darauf vorbereiteten, die „Isabella“ zu entern. Entermesser und Säbelklingen blitzten in den Strahlen der Sonne, die sich noch einmal einen Weg zwischen zwei dunklen Wolkengebilden gesucht hatte.

Hasard gab Ben Brighton ein Zeichen, dann lief er zur Balustrade des Achterdecks und schwang sich mit einem Satz zur Kuhl hinunter. Federnd landete er auf den Planken und war mit wenigen Schritten bei Ferris Tucker, der die beiden Culverinen auf der Backbordseite mit Sam Roskill bedienen sollte. Hasard schickte Roskill zur Steuerbordseite.

„Lade vier Culverinen, Al!“ rief er hinüber. „Feuere aber nur zwei ab, wenn es Ben gelingen sollte, die Luvposition zu gewinnen!“

Sie wußten alle, daß es unmöglich war, aber Hasard wollte alle Eventualitäten in seine Berechnungen einbeziehen. Zusammen mit Ferris Tukker bereitete er auch zwei weitere Culverinen auf der Backbordseite zum Feuern vor.

„Es muß blitzschnell gehen“, stieß er hervor. „Nimm ganz kurze Lunten. Der Pirat wird wie ein Seevogel an uns vorbeifliegen. Wir müssen feuern, wenn er uns noch nicht ganz erreicht hat. Ich zuerst, dann du, klar?“

„Aye, aye.“ Ferris Tucker tat, als sei das nahende Gefecht eine alltägliche Angelegenheit, aber Hasard wußte, daß der Schiffszimmermann genauso angespannt war wie er selbst.

Der Pirat war fast schon auf Musketenschußweite heran. Hasard hob die Hand, und keine Sekunde später schallten Ben Brightons Befehle über Deck.

„Klar zum Halsen!“

Jeff Bowie und Sam Roskill bargen den Besan, Pete Ballie im Ruderhaus wirbelte das Rad nach Backbord, und Carberry ließ die Großrahen vierkant brassen. Die „Isabella“ fiel sofort ab und lief plötzlich vor dem Wind. Aber bevor sie Fahrt aufnehmen konnte, befahl Carberry, die Vorrahen anzubrassen und kurz hinterher die Großrahen. Jeff Bowie und Sam Roskill setzten den Besan schon, bevor Carberry seinen Befehl gebrüllt hatte.

 

Die „Isabella“ lag jetzt mit Backbordhalsen hart am Wind. Hasard hätte Ben Brighton am liebsten beglückwünscht. Für einen Moment glaubte er, daß sie die Piraten übertölpelt hätten, doch dann sah er, daß der Kapitän auf der Karacke im letzten Moment reagierte und noch härter an den Wind ging, um die Luvposition nicht zu verlieren.

Sie konnten es nicht schaffen. Wie ein Albatros jagte die Karacke auf sie zu. Fast schien es, als wolle sie die „Isabella“ mit ihrem Bugspriet aufspießen.

„Tief halten!“ brüllte Hasard Ferris Tucker zu, obwohl er wußte, daß Ferris wahrscheinlich besser mit der Culverine umgehen würde als er. Er jagte den Richtkeil zwischen Geschütz und Stellbock mit ein paar Schlägen tiefer, und die Mündung der Culverine neigte sich. Das Gebrüll der Piraten drang an seine Ohren. Er wartete noch, bis der Bugspriet der Karacke fast auf gleicher Höhe mit dem Bugspriet der „Isabella“ war, dann hielt er die Pechfackel an die kurze Lunte der Culverine.

Er sah, wie weiße Rauchwolken an Steuerbord der Karacke aufwölkten, und für einen kurzen Moment glaubte er, daß es diesmal nicht gutgehen könne; dann brüllte seine Culverine auf, schoß polternd auf den hölzernen Lafettenrädern zurück und wurde von ächzenden Brooktauen aufgefangen. Nur einen Sekundenbruchteil später jagte Ferris Tuckers Culverine ihre Kugel den Piraten entgegen.

Hasard wollte jubeln, als er sah, wie der Großmast und wenig später der Besan der Karacke wie ein Kienspan knickte, aber da ließ ein dumpfer, mächtiger Schlag die „Isabella“ erzittern.

Die Piraten hatten mindestens ein Dutzend Kanonen abgefeuert, aber an den Fontänen, die zwischen beiden Schiffen aufgestiegen waren, hatte Hasard gesehen, daß sie fast alle zu kurz gelegen hatten. Eine von ihnen hatte jedoch offensichtlich den Rumpf der „Isabella“ getroffen.

Hasard jagte Ferris Tucker los, er selbst lief zum Achterdeck, nahm den schmalen Niedergang hinauf und starrte zur Karacke hinüber, die voll aus dem Ruder gelaufen war. Der Großmast war aufs Deck geschmettert. Die Piraten waren damit beschäftigt, Wanten, Stage und Taue zu kappen. Es herrschte Zustand, das war sogar auf diese Entfernung zu erkennen.

Ben Brighton schaute Hasard fragend an.

Hasard wußte, was Ben wollte. Sicher, die Gelegenheit, den Piraten den Rest zu verpassen, war günstig, aber erst mußte er wissen, wie schwer der eigene Schaden war.

Ferris Tuckers Gesicht war bedenklich verzogen, als er auf dem Achterdeck erschien.

„Ich kann das Leck nicht während der Fahrt abdichten“, sagte er zerknirscht. „Wir müssen so schnell wie möglich an Land, wenn wir nicht absaufen wollen.“

Hasard verlor ein wenig Farbe aus dem Gesicht. Er wußte, was das bedeutete. Sie konnten die kleine Insel, auf der sie fünf Männer und die Zwillinge hatten zurücklassen müssen, nicht anlaufen. Wahrscheinlich würden die Piraten mit ihrer Karakke dort vor Anker gehen, um ihren Schaden in der Takelage auszubessern. Hasard hatte die Mannschaftsstärke der Karacke nur grob überschlagen, aber er war davon überzeugt, daß sie über hundert betrug. Gegen hundert Piraten konnten sie nicht kämpfen. Das würde ihrer aller Tod bedeuten.

Hasard gab Befehl, Kurs auf die größere Insel zu nehmen, die sie am vorigen Tag passiert hatten. Dort würde es wahrscheinlich Eingeborene geben, aber auch verschwiegene Buchten, in denen sie das Leck der „Isabella“ ausbessern und die sie gut gegen alle Angriffe von Land aus verteidigen konnten.

Hasard sah an Ben Brightons Gesicht, daß auch dieser an die Männer und die Zwillinge dachte. Sie konnten nur hoffen, daß Matt Davies, der Kutscher, Stenmark, Blacky und Batuti klug genug waren, sich vor den Piraten zu verbergen.

Hasard konnte sich eines unguten Gefühles trotzdem nicht erwehren. Er schalt sich einen Narren, weil er wieder einmal den beiden Quälgeistern nachgegeben hatte. Er kannte seine beiden Söhne zur Genüge. Wenn die Männer die Geduld aufbrachten, sich ein paar Tage vor den Piraten zu verbergen, Hasard und Philip würden vor Neugierde fast platzen. Der Seewolf hoffte nur, daß Matt Davies und die anderen Manns genug waren, die beiden Bengel im Zaum zu halten.

„Wie lange wirst du brauchen, das Leck abzudichten?“ fragte Hasard den Schiffszimmermann.

Ferris Tucker druckste ein wenig herum.

„Mindestens drei Tage“, murmelte er.

„Also eineinhalb“, erwiderte Hasard. Er wandte sich an Ben Brighton. „Nimm Kurs auf Anegada“, sagte er. „Ich möchte die Insel möglichst erreicht haben, bevor wir abgesoffen sind.“

„Aye, aye“, sagte Ben Brighton und dachte still bei sich: Da bist du nicht der einzige, der sich das wünscht, Sir.

2.

Sie brüllten sich die Seele aus dem Leib, aber die Entfernung von der kleinen Lichtung auf der Anhöhe, von der sie zum Fluß hinunterblikken konnten, bis zum Schiff war zu groß.

Matt Davies und die anderen konnten es nicht begreifen, was sie sahen, bis der Kutscher auf die See deutete und sagte: „Deshalb also.“

Jetzt sahen auch die anderen die schnelle Karacke, die vierkant vor dem Wind segelte, genau auf die Flußmündung zu, in der die „Isabella“ Anker geworfen hatte.

Sie wußten plötzlich, daß dem Seewolf keine andere Wahl geblieben war, als ankerauf zu gehen und die See zu gewinnen, wenn er nicht ein Opfer von beutehungrigen Piraten werden wollte, von denen es zwischen den Inseln über dem Winde zur Zeit nur so zu wimmeln schien.

„Sie werden die Hunde zu den Fischen schicken und zurückkehren, um uns zu holen“, sagte Blacky grimmig. „Laßt uns schon mal zum Fluß runtermarschieren, damit wir rechtzeitig beim Boot sind, wenn die ‚Isabella‘ wieder auftaucht.“

Die anderen nickten.

Der Kutscher, der den Zwilling Hasard am Schlafittchen hielt und immer noch zur „Isabella“ hinunterschaute, wie sie den Fluß hinuntertrieb und schließlich mit Steuerbordhalsen seewärts lief, schüttelte den Kopf.

„Vom Ufer aus können wir nicht sehen, was die Piraten vorhaben“, sagte er. „Wir bleiben hier oben und warten ab, was passiert.“

„Seit wann hast du zu bestimmen, was geschieht?“ Blacky war rot angelaufen vor Zorn. Er konnte es von anderen schon schlecht vertragen, wenn seine Vorschläge nicht akzeptiert wurden, vom Kutscher aber ganz und gar nicht.

„Hier gibt’s weder einen Kapitän noch einen Bootsmann oder einen Profos“, erwiderte der Kutscher mit erhobenem Kopf. „Also hat der zu bestimmen, der am meisten Grips im Kopf hat.“

„Dann bestimme ich“, sagte Hasard junior und versuchte, sich mit einer geschickten Körperdrehung aus dem Griff des Kutschers zu befreien. Der Stoff seines Kalikohemdes knirschte, hielt aber dem festen Griff des Kutschers stand.

„Du hältst die Klappe, du kleiner Stint“, sagte Blacky. Er starrte den Kutscher wütend an. „Ich …“

Der Schwede Stenmark unterbrach ihn. Seine Hand wies hinaus auf See.

„Sie wollen die ‚Isabella‘ angreifen“, stieß er hervor. „Mann, seht ihr, wie viele Kerle an Bord der Karacke sind? Das sind mehr als hundert Piraten! Wenn die die ‚Isabella‘ entern, dann gute Nacht.“

Selbst Blacky vergaß seinen Streit mit dem Kutscher. Gebannt starrte er mit den anderen auf die See hinaus, wo sich für ihr Schiff eine Katastrophe anzubahnen schien. Der Kutscher hatte Hasard losgelassen, der sich sofort mit ein paar Schritten in Sicherheit brachte, dann aber neben seinem Bruder stehenblieb und wie die anderen gespannt das Geschehen beobachtete.

Batuti, der große, breitschultrige Neger aus Gambia, stöhnte auf, als er sah, wie die „Isabella“ zu halsen begann und plötzlich auf die Karacke der Piraten zuhielt.

Keiner der Männer sagte ein Wort. Sie wußten, daß die Entscheidung dicht bevorstand. Sie alle glaubten daran, daß der Seewolf wie immer ein Loch finden würde, durch das er noch schlüpfen konnte, aber diesmal sah es verdammt trübe aus.

Der Kanonendonner hallte über das Meer und erreichte die Ohren der Männer erst, nachdem sie gesehen hatten, wie die Kugeln, die von der „Isabella“ abgefeuert worden waren, in die Takelage der Karacke einschlugen und den Großmast und Besanmast knickten.

Die Männer auf der Lichtung begannen vor Begeisterung zu brüllen. Sie hieben sich auf die Schultern, als die Karacke aus dem Ruder lief und manövrierunfähig in der aufgewühlten See lag.

„Dad hat’s geschafft!“ rief Philip mit heller Stimme. „Jetzt wird er sie zur Hölle schicken!“

Er hatte ausgesprochen, was alle dachten. Doch die „Isabella“ wendete nicht. Sie lief ihren Kurs, den sie nach der Halse eingeschlagen hatte, unbeirrt weiter.

„Verfluchtes Scheiße!“ sagte Batuti inbrünstig. „Die Piraten haben geschossen Loch in ‚Isabella‘!“

Jetzt sahen es auch die anderen. Die Krängung der Galeone konnte nicht nur daher rühren, daß sie hart am Wind lief. Eine oder mehrere Kugeln, die von der Karacke aus abgefeuert worden waren, mußten den Rumpf der „Isabella“ getroffen haben. Nur so war es zu erklären, daß der Seewolf abdrehte. Wenn sein Schiff voll Wasser lief, war es bald manövrierunfähiger als die Karakke, wenn die Piraten sich von den abgeknickten Masten befreit hatten.

„Und wir?“ fragte Philip. „Sie können uns doch nicht einfach hier zurücklassen!“

„Das hat uns noch gefehlt“, murmelte Matt Davies und wies mit seinem Haken an der rechten Hand zur Karacke hinunter, die vom Wind genau auf die Flußmündung zugetrieben wurde, in der vor einer halben Stunde noch die „Isabella“ vor Anker gelegen hatte.

„Wenn die hier vor Anker gehen, reißen wir uns das Schiff unter den Nagel und segeln hinter Dad her“, sagte Hasard grimmig.

Die Männer starrten ihn wütend an. Nur Batuti fragte grinsend: „Willst du ganz allein entern, oder soll Batuti dir helfen?“

„Pfff“, äußerte sich Hasard, als er die grimmigen Gesichter vom Kutscher, Stenmark, Matt Davies und Blacky sah. „Und ihr wollt Männer sein.“

Der Kutscher war mit einem Satz wieder bei ihm, und ehe Hasard sich bükken konnte, hatte die Faust des Kochs ihn wieder am Wickel. Er versuchte, sich aus dem Griff des Kutschers herauszuwinden, kassierte dafür aber eine Ohrfeige, die ihn ruhig werden ließ.

„Jetzt hör mal zu, mein Junge“, sagte der Kutscher mit einer scharfen Stimme, die auch die anderen aufhorchen ließ. „Bis jetzt war für dich alles nur Spaß. Daß du vorhin durch deine vorlaute Klappe das Bergschaf verscheucht hast, das unseren Speisezettel mal wieder ein bißchen abwechslungsreicher hätte aussehen lassen, habe ich noch hingenommen, aber hier und jetzt ist Schluß mit deinen Mätzchen, verstanden? Jetzt geht es um mehr, Freundchen. Du hast gesehen, daß die anderen uns nicht mehr an Bord nehmen konnten. Dein Vater erwartet von uns, daß wir noch am Leben sind, wenn er zurückkehrt, um uns hier abzuholen. Wenn die Piraten hier an Land gehen, werden sie mindestens zwei Tage bleiben, um ihre beiden Masten wieder in Ordnung zu bringen. Das heißt, sie werden die Insel durchstreifen. Wenn sie uns sehen, werden sie uns gefangennehmen, und wenn sie kapieren, daß wir zur ‚Isabella‘ gehören, was wohl nicht schwer zu merken ist, werden sie uns die Hälse durchschneiden, bevor wir einen Ton über die Lippen bringen. Ab sofort haltet ihr beide die Klappe, verstanden? Jetzt reden nur noch die Erwachsenen. Jedesmal, wenn du deine Luke aufreißt, fängst du eine, Hasard, ist das klar?“

In jeder anderen Situation hätte Hasard die richtige Antwort auf so viele Belehrungen gewußt, aber er spürte, daß es dem Kutscher und auch den anderen Männern ernst war. Wahrscheinlich meinten sie alle, sie müßten auf ihn und Philip aufpassen. Verdammt, wann würden die Kerle endlich begreifen, daß sie keine Kinder mehr waren?

Ausgepumpt und keuchend lagen sie in Deckung und starrten auf die Karakke, die nur noch die Fock gesetzt hatte und vom stürmischen Wind in die Flußmündung gedrückt wurde.

Sie hatten es gerade noch geschafft, das Boot stromaufwärts zu schleppen und zu pullen und es zwischen dichten Büschen zu verstekken, nachdem sie es über das sandige Flußufer gezerrt hatten. Es war ihnen nur unvollständig gelungen, die Spuren im Sand zu verwischen. Sie konnten nur hoffen, daß die bald eintretende Flut das Ufer überspülte und alle Zeichen auslöschte, die den Piraten verraten konnten, daß sich jemand auf der Insel aufhielt.

Von ihrem Versteck aus konnten sie deutlich die finsteren Burschen an Bord der Karacke erkennen. Es mußten tatsächlich über hundert Mann sein.

 

Auch der kleine Hasard war ein bißchen blaß um die Nase geworden. Er sah ein, daß gegen diese Übermacht selbst Tollkühnheit und Mut nichts ausrichten konnten.

Laute Stimmen wehten zu ihnen herüber. Auf dem Achterdeck der Karacke stand ein Mann, der alle anderen überragte. Sein Haar hatte er mit einem roten Kopftuch zusammengehalten, das im Nacken verknotet war. Sein Oberkörper war bloß. Nur ein Bandelier, in dem mehrere Messer und eine Pistole hingen, schlang sich von der rechten Schulter zur linken Hüfte um den Brustkasten. Dicke Muskelstränge spielten unter der bronzefarbenen Haut. Er fuchtelte mit der rechten Hand herum, in der er einen Krummsäbel hielt, und brüllte seine Männer an, die sich in der Kuhl darum bemühten, das Deck aufzuklaren.

„Wie redet der denn?“ fragte Hasard den neben ihm liegenden Matt Davies leise.

„Das ist ein Schneckenfresser“, erwiderte Matt Davies grollend. „Das hat uns gerade noch gefehlt. Mit den Kerlen ist nicht gut Kirschen essen.“

„Warum nicht?“ fragte Philip, der auf der anderen Seite von Matt Davies lag.

„Die meisten von ihnen mögen uns Engländer nicht“, sagte Matt. „Sie haben uns den Hundertjährigen Krieg noch nicht vergessen.“

„Mann, hundert Jahre?“ Hasard pfiff durch die Zähne. „Bist du auch noch dabeigewesen?“

„Nee, der ist schon über hundert Jahre aus“, sagte Matt.

„Meinst du, daß das Bukaniere von Espanola sind, von denen Dad uns erzählte?“ fragte Hasard.

Matt schüttelte den Kopf. „Die Bukaniere jagen die wilden Rinder und Schweine auf Espanola“, erwiderte er. „Aber es können Flibustier sein, die wildesten unter den Korsaren und Piraten. Es heißt, daß sie eines Tages ganz Westindien beherrschen und die Spanier zum Teufel jagen werden.“

„Erzähl den Bengels nicht so ’n Quatsch“, sagte Blacky. „Sie können den Dons vielleicht mal die eine oder andere Galeone abknöpfen oder mal eine Siedlung überfallen, aber gegen die großen Flotten müssen sie den Schwanz einkneifen.“

„Still!“ zischte der Kutscher.

Die anderen hatten es ebenfalls gesehen. Der Anker der Karacke schlug platschend aufs Wasser und versank. Gleichzeitig wurde an Steuerbord ein Boot zu Wasser gelassen, und eine Gruppe von wild aussehenden Piraten pullte wenig später ans Ufer. Wahrscheinlich sollten sie die Umgebung absuchen, damit sie vor unliebsamen Überraschungen sicher waren.

„Hoffentlich gehen sie nicht am Ufer entlang flußaufwärts“, flüsterte der Kutscher.

Es war, als hätten die Piraten die Worte gehört. Ein halbes Dutzend von ihnen stampfte durch den Ufersand auf die Stelle zu, an der sie ihr Boot in die Büsche gezogen hatten. Die anderen Piraten verschwanden in der Bresche des Trockenwaldes, durch die auch Matt Davies und die anderen auf der Suche nach etwas Eßbarem die Erkundung der Insel in Angriff genommen hatten.

„Wenn sie unser Boot finden, sind wir geliefert“, sagte Blacky grimmig. „Sie werden die Insel durchkämmen, und ich hab bisher keinen Ort gesehen, an dem wir uns vor ihnen verstecken könnten.“

Niemand gab ihm darauf eine Antwort. Sie starrten den Piraten entgegen, die sich immer weiter der Stelle näherten, an der die Schleifspuren des Bootes noch zu erkennen waren. Die Flut ließ den Fluß zwar schon wieder ansteigen, aber noch lange nicht genug, um die verräterischen Spuren zu löschen.

„Wir müssen was unternehmen!“ stieß Stenmark hervor.

Der Kutscher richtete sich plötzlich auf.

„Los!“ sagte er hastig. „Wir laufen ihnen entgegen. Wir dürfen nicht warten, bis sie anfangen, nach uns zu suchen. Wir müssen uns freiwillig zeigen!“

„Bist du verrückt?“ Blacky packte die Schulter des Kutschers und wollte ihn wieder zu Boden zerren. Aber der Kutscher befreite sich von dem harten Griff.

„Ich hab eine Idee“, sagte er. „Ich glaube, es müßte hinhauen.“

„Und wenn nicht, werden wir in ein paar Stunden von den Aasvögeln gefressen, wie?“ knurrte Blacky.

„Verdammt, sie haben gleich die Spuren erreicht!“ Die Stimme des Kutschers überschlug sich fast vor Erregung. Er nahm jetzt keine Rücksicht mehr auf die anderen. Mit ein paar schnellen Schritten hatte er die Deckung der Uferbüsche verlassen und trat aufs freie Ufer hinaus.

Die Piraten, die nur noch fünfzig Yards von den Schleifspuren entfernt waren, blieben abrupt stehen und griffen nach ihren Waffen. Sie starrten dem Kutscher entgegen, als sei er ein Geist. Sie mußten wohl erst ihre Überraschung überwinden, daß sich auf dieser Insel Menschen aufhielten.

Matt Davies hatte inzwischen begriffen, welchen Plan der Kutscher ausgeheckt hatte. Er scheuchte die beiden Jungen hoch und sagte zischend zu den anderen: „Hinterher, Jungs! Der Kutscher hat recht. Wenn wir uns ihnen freiwillig zeigen, können wir ihnen eine Geschichte erzählen, die sie uns glauben.“

Sie liefen hinter dem Kutscher her, und Matt schärfte Blacky, Stenmark und Batuti ein, die Hände von den Waffen zu lassen.

Der Kutscher kümmerte sich nicht um die ihm entgegengestreckten Entermesser und Säbel. Sein Gesicht war ein einziges Strahlen.

„Willkommen, Freunde!“ rief er begeistert. „Wir hätten nie daran geglaubt, daß wir von dieser verdammten Insel so schnell wieder befreit würden!“

„Assez!“ brüllte einer der Piraten und wollte sich mit blitzender Klinge auf den Kutscher werfen.

Einer seiner Kumpane hielt ihn am Arm zurück. Er sagte etwas zu ihm, das der Kutscher nicht verstand.

„Bist du Engländer?“ fragte er dann, und an seiner gedehnten Sprechweise und dem rollenden R hörte der Kutscher, daß der Mann ein Schotte war.

Der Kutscher atmete auf. Wenigstens war einer unter den Piraten, der ihre Sprache sprach und mit dem sie sich verständigen konnten.

„Ich und zwei weitere meiner Kameraden sind Engländer“, sagte er. „Einer ist Schwede und der letzte ein Schwarzer aus Gambia.“

Der Schotte starrte am Kutscher vorbei auf die restlichen Männer, die sich den Piraten zögernd näherten.

„Kinder habt ihr auch dabei?“ fragte er verwundert.

„Es sind meine Söhne“, sagte der Kutscher ein bißchen zu hastig. „Zwillinge. Ihre Namen sind Hasard und Philip.“

Der Franzose, ein schmächtiger Mann mit einem Sichelbart und einem Zinken im Gesicht, der bestimmt die Hälfte des ganzen Kopfes wog, redete zornig auf den Schotten ein, aber der winkte nur ab.

„Wir wollen wissen, was ihr hier auf der Insel zu suchen habt“, sagte er. „Habt ihr was mit der verdammten Galeone zu tun, die uns die Masten weggeschossen hat?“

„Wir hatten“, erwiderte der Kutscher. „Der Kapitän dieser Teufelsgaleone ist der übelste Leuteschinder und Betrüger, unter dem wir je gefahren sind. Er wollte uns hier an Land bei lebendigem Leib rösten, weil wir unseren gerechten Anteil an einer Beute gefordert hatten. Zum Glück tauchtet ihr auf, und Bloody James mußte ankerauf gehen. Aber er wollte zurückkehren, um seine Strafe an uns zu vollziehen, wenn er euch auf den Grund des Meeres geschickt hätte.“

Der Schotte begann zu grinsen. „Dann sind wir also eure Lebensretter, wie?“ Er wandte sich an den kleinen Franzosen, dessen schwarze Augen rollten, als würde er sich von niemandem davon abhalten lassen, mindestens einen der Engländer zu massakrieren. Sie sprachen eine Weile miteinander, und der Kutscher hörte ein paarmal den Namen „Bloody James“. Anscheinend kannten sie ihn nicht.

Was Wunder, dachte der Kutscher.

„Sind sonst noch Menschen auf der Insel?“ fragte der Schotte.

Der Kutscher zuckte mit den Schultern.

Wir haben noch nicht viel Zeit gehabt, uns umzusehen“, sagte er. „Aber Bloody James kannte die Insel und sagte, sie sei unbewohnt.“

„Wer ist dieser ‚Bloody James‘?“ fragte der Schotte. „Wir haben noch nie von ihm gehört.“

„Sei froh“, antwortete der Kutscher, „das ist der übelste Höllenhund, unter dem ich je gefahren bin. Es heißt, daß er nach jeder erfolgreichen Beute die Hälfte seiner Mannschaft umbringt, damit sein Anteil größer wird.“

Der Schotte starrte den Kutscher mit schiefgelegtem Kopf mißtrauisch an. So ganz schien er die Geschichte von Bloody James nicht zu glauben. Der kleine Franzose mit dem riesigen Riechkolben redete wieder auf ihn ein und vollführte mit seinem Entermesser die Bewegung des Halsabschneidens.

„Euer Freund mit dem niedlichen Gesichtserker würde sehr gut in die Crew von Bloody James passen“, sagte der Kutscher zum Schotten, dessen Gesicht sich zu einem Grinsen verzog.

„Ich kann den Kerl auf den Tod nicht ausstehen“, sagte er, ohne die Stimme zu senken. „Beim nächsten Gefecht werde ich ihm eine Kugel in den Rücken verpassen, das habe ich mir fest vorgenommen.“ Er grinste den kleinen Franzosen an, als hätte er ihm ein Kompliment gesagt.

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