Der ewige Protest

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Der ewige Protest
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INHALT

COVER

TITEL

DER ANDERE BLICK

DIE REFORMATION FRISST IHRE KINDER

1. Reformation als Depression

2. Befreiung aus babylonischer Gefangenschaft: Martin Luther

3. Über Luther hinaus: Die Reformationen Europas

4. Der vergessene Schatten der Reformation

5. Die ewige Gefangenschaft der Kirche

VOM SINN DER REFORMATION

1. Alles bricht: Reformation als Epochenzäsur

2. Alles fließt: Der Neuprotestantismus als veränderte Fortführung der Reformation

REFORMATION HEUTE

1. Jubiläumsrauschen

2. Verlustangst und Gedankenverarmung: Die babylonische Gefangenschaft der Kirche heute

3. Ecclesia semper reformanda: Denkende Frömmigkeit

4. Gestaltwandel und Aufbruch der Kirche

WEITER UND WEITE: DIE REFORMATION ALS ÖKUMENISCHES PRINZIP

RELIGION FÜR FREIE GEISTER

ENDNOTEN

IMPRESSUM

Der andere Blick

Ein halbes Jahrtausend Reformation bietet willkommenen Anlass, über Herkunft und Zukunft des europäischen Christentums nachzudenken. In dem vielstimmigen Jubiläumschor ist von Seiten der evangelischen Kirche eine Stimme nur sehr leise zu hören, die einstmals zum Vornehmsten gehörte, das den Protestantismus auszeichnete. Der liberale Kulturprotestantismus sieht sich als Fortführung des Reformatorischen unter den Bedingungen der Moderne. Er steht für eine Religion, die ohne Heldenverehrung ihrer Vätergestalten, ohne eifernden Dogmatismus und ohne institutionelle Selbstgefälligkeit auskommt. Der liberale Kulturprotestantismus lebt unter Berufung auf die christliche Freiheit von einer Offenheit des Christentums gegenüber Welt und Kultur, er praktiziert ökumenische Aufgeschlossenheit und bestärkt Christinnen und Christen, in nachdenklicher und weiter Religiosität ihr Leben vor Gott und den Menschen zu führen. Man hat dieser Haltung viele Namen gegeben: liberale Theologie, Kulturprotestantismus und Neuprotestantismus. Sie alle treffen Aspekte und doch nie das Ganze. Wie immer man diesen anderen Blick nennt, eine Erinnerung verdient er allemal – in der religiösen Lage unserer Tage mehr denn je. Man kann aus liberaler Perspektive schwerlich mit allem einverstanden sein, was das Reformationsjubiläum zutage fördert. Der Aufwand der Feierlichkeiten ist immens, die Botschaft jedoch alles andere als klar. Auf Nachdenklichkeit und Tiefgang, nicht auf Lautstärke zielt die liberale, kulturprotestantische Perspektive. Denn der andere Blick auf das halbe Jahrtausend Reformation ermuntert zur Besinnung auf das, was den Protestantismus auszeichnet: denkende Frömmigkeit und Mut zum Gestaltwandel.

Die Reformation frisst ihre Kinder

1. REFORMATION ALS DEPRESSION

Am Ende waren es nur noch wenige. Erschöpft von einem langen, glühenden Sommer war die Natur, müde von einem ereignisreichen Leben war der einst mächtigste Mann seiner Zeit. An einem heißen Septembertag im Jahre 1558 starb Kaiser Karl V., zurückgezogen mit wenigen Vertrauten in einem abgelegenen Kloster in der Extremadura, fernab vom Treiben seines einstigen Hofes. Eineinhalb Jahre später wollte in Wittenberg der Frühling nicht kommen, feuchte Kälte drang bis über Ostern in Häuser und Knochen. Am 19. April 1560 starb Philipp Melanchthon im Kreise der Seinen. Er hatte es kommen sehen, Fieber und Husten waren nicht mehr abzuschütteln. Auf seinen letzten Zettel notierte er sich, warum er den Tod nicht zu fürchten hatte: „Du wirst befreit von aller Mühsal und entkommst der Wut der Theologen.“1

Karl V. und Philipp Melanchthon, Menschen wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten, zählen zu den großen Protagonisten der Ereignisse der Reformation, der eine als der mächtigste Verteidiger des alten, der andere als der klarste Lehrer des neuen Glaubens. Über beider Lebensende lag der Schatten der Resignation. Karl V. hatte sich wenige Jahre zuvor vom Amt des Kaisers in das Kloster zurückgezogen, ein Verzicht, den die Reichsverfassung noch nicht einmal als Möglichkeit vorgesehen hatte. Auf die Zeitgenossen konnte das kaum weniger spektakulär gewirkt haben, als der Rücktritt des Papstes Benedikt XVI. in unseren Tagen. Die Gründe für Karls Rückzug waren vielfältig und mitunter sehr persönlicher Art. Dazu zählten aber auch die rasanten religiösen Zerwürfnisse in seinem großen Reich, von dem der junge Kaiser einst kühn behauptete, dass in ihm niemals die Sonne unterginge. Gut dreißig Jahre später musste Karl einsehen, dass er als der Kaiser in die Geschichte eingehen würde, unter dessen Regentschaft die Einheit des christlichen Abendlandes auseinanderbrach. Müde war auch Philipp Melanchthon am Ende seiner Tage. Seine Sehnsucht, von der Wut der Theologen befreit zu werden, gewährt tiefe Einblicke. Als junger, hoffnungsvoller Gelehrter war er nach Wittenberg gekommen, von Anfang an war er fasziniert von Luthers Einsichten und Absichten, die Kirche von Grund auf im Geiste Christi zu reformieren. Der andere Blick auf die Reformation kann die Augen davor nicht verschließen: Karl V. und Melanchthon eint, dass sie in einer Zeit lebten, die die Hoffnungen und Träume ihrer Jugend in wenigen Jahrzehnten in Nichts auflöste. Im Reich der niemals untergehenden Sonne war eine Generation später die Einheit des Christentums untergegangen.

2. BEFREIUNG AUS BABYLONISCHER GEFANGENSCHAFT: MARTIN LUTHER

Am Anfang stand die Hoffnung. Die Klage über die Reformbedürftigkeit der Kirche lag seit dem späten Mittelalter allgegenwärtig in der Luft. Doch aus der drängenden Sehnsucht nach Erneuerung der Kirche allein kann die Reformation in ihrer historischen Ereignisabfolge nicht abgeleitet werden. Sie ist gebunden an die Wirkkraft einer Person. Luthers Auftreten ist ein Lehrstück dafür, dass es an entscheidenden Wendepunkten Personen und nicht Strukturen oder abstrakte Kräfte sind, die der Geschichte ihre Richtung geben. Dies ist das Einfallstor des Unberechenbaren in den Lauf der Welt. Luther hat im Rückblick ein Sommergewitter zu seiner entscheidenden Lebenswende gemacht. Die Angst vor Blitz und Donner rang ihm das Gelübde an die heilige Anna ab, in ein Kloster einzutreten, wenn er von den Naturgewalten verschont bliebe. Der Klostereintritt wiederum führte Luther mitten hinein in die theologischen und religiösen Unruhen seiner Zeit. Hätte an jenem 2. Juli 1505 auf einem Feld vor Erfurt der Blitz Luther erschlagen, oder wäre das Gewitter vorübergezogen, die Welt hätte nichts weiter von dem damaligen Jurastudenten erfahren. Blitzeinschläge sind für Meteorologen eine Herausforderung, aber eben auch für alle Philosophien und Theologien der Geschichte. Sie stehen für das Unberechenbare und Überraschende, das sich im Lauf der Dinge immer wieder einstellt. Aus der uns möglichen Perspektive ist Luthers Auftreten nicht das Resultat einer göttlichen Routenplanung für die Weltgeschichte. Die Reformation hatte viele Wegbereiter und Vorläufer. Doch wie Luther deren Anliegen wortgewaltig und charismatisch auf den Punkt brachte, war nicht vorhersehbar und damit auch nicht die Gestalt und Form, die er der kirchlichen Erneuerungsbewegung gab. In dem historisch Überraschenden seines Auftretens liegt die Größe Martin Luthers. Er rang seiner Lebenserfahrung Einsichten ab, die vielen aus dem Herzen sprachen, und er hatte die Kraft und die Energie, für diese Einsichten zu kämpfen. Darin ist Luther auch für den Neuprotestantismus eine prägende Gestalt. Liberale Theologen nannten ihn einen religiösen Virtuosen oder ein religiöses Genie.

Worin diese Genialität besteht, dokumentieren anschaulich seine reformatorischen Frühschriften. Drei Jahre nach seinen Wittenberger Thesen war Luther inzwischen weit über die Kritik des Ablasswesens und seiner finanziellen Instrumentalisierung hinausgegangen. Gewaltig in der Sprache, klar im Urteil und frisch in den eigenen Vorschlägen machte Luther 1520 die Freiheit zu seinem zentralen Thema. Die Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen trägt das Programm unübersehbar im Titel. Die christliche Religion basiert Luther zufolge auf der Gewissheit, dass Christus in den Herzen der Menschen gegenwärtig ist. Diese Präsenz ist nichts, was der Mensch aus eigener Kraft erzeugen kann, sie ist ihm geschenkt. Er kann nichts tun und muss darum auch nichts tun, er weiß sich immer schon getragen und aufgehoben in einem höheren Grund der Wirklichkeit – und das macht ihn frei, frei gegenüber Gott als tragendem Grund seines Daseins und frei gegenüber der Welt und den Menschen, denen er sich dienstbar zuwenden kann. Luther erhebt darin die Religion zu etwas, was den Einzelnen in seinem Innersten berührt und als Person bestimmend prägt. Aus diesem Ansatz erklären sich wesentliche Elemente seines reformatorischen Aufbruchs. Diese grandiose Aufwertung des Individuums hat Luther nicht an der Kirche vorbei gedacht. Der Mensch bedarf der Kirche, ihrer Verkündigung und ihrer Gemeinschaft, um sich der tragenden Gewissheit göttlicher Gegenwart in seinem Herzen und in der Welt zu versichern, aber die Kirche hat darin eine allein dienende Funktion, sie ermöglicht und hilft, sie ist nicht selbst die gewährende Geberin und Gönnerin menschlicher Erlösung.

 

Von dieser Einsicht bestimmt gibt Luther dem Leben in der Welt eine neue religiöse Bedeutung. Das Christentum ist nicht beschränkt auf die Mauern der Kirche, sondern wirkt hinein in die Welt im Lichte christlicher Ideale. Diese Weltgestaltung ist Aufgabe eines jeden einzelnen Christen. Die Unmittelbarkeit zu Gott begründet eine innere Freiheit, diese Freiheit drängt für Luther nach Verwirklichung im alltäglichen Leben. Das hebt die Unterscheidung zwischen Laie und Priester als theologisch legitimierten Standesunterschied auf. Allen Christinnen und Christen ist es gleichermaßen aufgetragen, diese Freiheit umzusetzen und auf je ihre Art an dem Ort, an dem sie in die Welt gestellt sind, den Geist des Christentums Wirklichkeit werden zu lassen. Dieser Anspruch erklärt eine Reihe hoch aufgeladener biographischer Entscheidungen Luthers in der frühen Phase der Reformation. Mit Recht sagt man, Luther verließ das Kloster, weil er die ganze Welt zu einem Kloster machte. Nicht in der abgeschiedenen Klosterzelle, sondern in der Welt ist das Christentum zu leben. Wenig später heiratete der ehemalige Mönch die ehemalige Nonne Katharina von Bora. In den Zwanzigerjahren des 16. Jahrhunderts war das eine Klatschmeldung erster Güte – ein von Luther vermutlich gerne in Kauf genommener publizistischer Nebeneffekt. Die Eheschließung war aber auch Teil des Programms, das Christsein in der Welt und damit auch im Alltag des Familienlebens zu realisieren.

Die religiöse Aufwertung des Einzelnen macht schließlich die Bildung zu einem besonderen Anliegen Luthers. Der Geist des Christentums kann in der Welt nur realisiert werden, wenn man ihn kennt. Luther hat mit Gespür christliche Grundüberzeugungen in Schriften wie dem Kleinen Katechismus so elementarisiert, dass sie weite Verbreitung fanden. Theologisches Nachdenken ist nach Luthers Überzeugung eine gemeinchristliche Aufgabe. Die Verbesserung der religiösen Bildung zog natürlich auch Konsequenzen für die Ausbildung der Pfarrer und Lehrer nach sich. Die Akademisierung der Pfarrer ist eine Folge dieses Bildungsanspruchs. Hier einzuordnen ist eine der wichtigsten Kulturleistungen Luthers, die deutsche Bibelübersetzung. Auch sie ist motiviert von dem Gedanken, dass jede Christin und jeder Christ Zugang zur Bibel haben muss und dies nicht allein einem besonderen Berufsstand vorbehalten sein kann. Luther ist weder der erste noch der einzige Übersetzer der Bibel ins Deutsche, aber mit seinem Sinn für den Rhythmus der Sprache und ihre Bildkraft fand er Worte, die im Laufe der Jahrhunderte vielen zu einer religiösen Heimat wurden.

Luthers Aufbruch galt der Sorge um das, was seiner Auffassung nach mit dem Christentum eigentlich gemeint war, und wie wenig er davon tatsächlich verwirklicht sah. Die Kritik an den bestehenden kirchlichen Verhältnissen ist die Kehrseite seines Erneuerungsprogramms. Sie basiert auf einer Einschätzung der theologischen Bedeutung der Kirche, die nichts weniger als eine Revolution darstellt. Das hatte sich in der Freiheitsschrift und zuvor schon in Traktaten und Disputationen angekündigt, aber Luther wusste um die Wichtigkeit des Themas und nahm es sich noch einmal eigens vor. Die Schrift Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche ist eine Revolution des Kirchenverständnisses. Schon der Titel ist ein kräftiges Bild. Die alttestamentliche Erzählung von der Gefangenschaft des Volkes Israel in Babylon ist eine tiefgründige theologische Geschichtsdeutung historischer Vorkommnisse im 6. Jahrhundert vor Christus. Die heilige Stadt Jerusalem wird von den Babyloniern zerstört und die Bevölkerung mehrheitlich nach Babylon deportiert. Die alttestamentlichen Texte interpretieren die politische und militärische Katastrophe theologisch als notwendige Strafe für die Schwäche und Schuld des Volkes Israel gegen Gottes Gesetz zum Leben. Babylonische Gefangenschaft – das ist nicht einfach nur Gefangenschaft, das ist selbstverschuldete Gefangenschaft und der Verlust all dessen, was eigentlich hätte sein können. Mit den Anfangsversen des 137. Psalms hält Luther seiner Zeit einen Spiegel vor. So, wie einst die Israeliten an den Wassern zu Babel saßen und weinten, wenn sie an Zion dachten, so sitzt Luther danieder und weint darüber, was mit der Kirche von Gott gemeint war und was daraus geworden ist.2

Luther listet die Ausmaße der babylonischen Gefangenschaft der Kirche an drei wichtigen Aspekten auf. Es sind Variationen über ein Grundthema: Die Freiheit des christlichen Glaubens widerspricht der Vorstellung von der Kirche als einer sakramentalen Heilsvermittlungsanstalt. Durch eine übertriebene Doktrinalisierung presse man, so Luthers erster Einwand, das Geheimnis göttlicher Gegenwart in eine theologische Begriffssprache. Luther bestreitet nicht die göttliche Präsenz im Sakrament als grundlegendes Zeichen göttlicher Gegenwart in der Welt, er wendet sich aber dagegen, diese Gegenwart mit dem Dogma der Transsubstantiation der Abendmahlselemente Brot und Wein in Leib und Blut Christi begrifflich domestizieren zu können. Zweitens habe die Kirche die Funktion des Gottesdienstes verdreht, sie mache aus ihm ein Opfer, eine menschliche Tat, und verdunkle damit den eigentlichen Sinn. Der Gottesdienst ist das immerwährende Geschenk der göttlichen Verheißung. Drittens schließlich sei die Kirche gefesselt in ihrem dauerhaften Streben nach Gewinn, das Ausdruck eines Verlangens nach institutioneller Selbsterhaltung ist. Diese Kritikpunkte trafen das römische Kirchenverständnis ins Mark.

3. ÜBER LUTHER HINAUS: DIE REFORMATIONEN EUROPAS

Die Schrift Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche zeigt eindrücklich, worin Luthers Bedeutung für die Geschichte des Christentums bis heute liegt. Mit Kraft erinnert er an den Geist des Christentums, der in den realen kirchlichen Erscheinungsformen verloren gegangen, überdeckt oder gar absichtlich abgedrängt erscheint. Der andere Blick der liberalen Perspektive sieht in Luthers Größe jedoch zugleich auch seine Grenze. Für das epochale Ereignis der Reformation ist Luther eine wichtige Gestalt, und doch war am Ende die Reformation etwas Umfassenderes als allein Luther. Denn der Geist des Christentums, an den er appellierte, war und ist größer als er selbst.

Luthers Botschaft enthielt viele Signale zum Aufbruch. Die Bauern nahmen seinen Appell an die Freiheit politisch auf und kämpften dafür, ihrer Abhängigkeit vom Adel und ihren Frondiensten ein Ende zu bereiten. Der Bauernkrieg ist die unmittelbar größte soziale Folge der Reformation, er wurde 1525 blutig niedergeschlagen. Schon zuvor war jedoch das explosive Potential ablesbar. Während sich Luther nach den Ereignissen des Wormser Reichstags im Winter 1521/22 auf der Wartburg verborgen halten musste, kam es in Wittenberg und auch anderswo zu Tumulten. Priester wurden während der Messe attackiert, Bilder und Altarausstattungen in den Kirchen zerstört, religiöse Bräuche in karnevalesken Inszenierungen verspottet. Nichts mehr sollte im neuen Christentum sein wie im alten. Die reformatorischen Bilderstürme, zu denen nicht nur die Zerstörung von Kirchenausstattung gehörte, sondern auch die Verdammung kirchlichen Brauchtums bis hin zu liturgischen Gewändern, sind religionsgeschichtlich bemerkenswert ambivalent. Sie gehen einerseits zurück auf theologische Bedenken und die Orientierung an einem Ideal biblischer Reinheit, in ihnen entlädt sich andererseits aber auch ein aufgestauter Hass auf alles Kirchliche überhaupt. Auch das ist eine Seite der Reformation.

Schematisch fasst man unter dem Begriff Täufer und Schwärmer alle jene in sich unterschiedlichen Strömungen zusammen, die Luthers Idee der Unmittelbarkeit der Person zu Gott und das reformatorische Ideal, das Christentum in seiner Reinheit wiederherzustellen, in eine ganz andere Richtung ausformten. Die Täuferbewegungen lehnten die Kindertaufe als magischen Brauch ab, da die Kleinkinder naturgemäß die Taufe nicht als eine öffentliche Entscheidung für Gott vollziehen konnten. Es ging dabei nicht nur um die Korrektur eines kirchlichen Ritus, sondern um das Ideal einer konsequenteren Umsetzung christlicher Gebote. Die Schwärmer oder Spiritualisten wiederum führten in vielem Vorstellungen der mittelalterlichen Mystik fort. Sie erfuhren den göttlichen Geist als eine starke Kraft in der Welt, die nicht allein an biblische Worte, Sakramente oder überhaupt an die Institution der Kirche gebunden ist. Liberale Theologen wie Rudolf Otto oder Ernst Troeltsch sprachen darum mit Sympathie von diesem Flügel der Reformation und betonten dessen Antriebskräfte für eine moderne Religionspraxis.

Viele Gelehrte hofften, die Erneuerung des Christentums könne in ruhigen und friedlichen Bahnen verlaufen. Der berühmteste Humanist seiner Zeit, Erasmus von Rotterdam, war durchaus in der Lage, die kirchlichen und theologischen Missstände seiner Zeit ebenso schonungslos wie sarkastisch anzuprangern. Die Überzeugung, dass das Christentum das innere Anliegen haben muss, die Bildung seiner Glaubenden zu verbessern, teilte er voll und ganz mit Luther. Aber über den Menschen an sich dachten sie unterschiedlich. Erasmus war zwar nicht blauäugig und machte sich über die grundsätzlichen Schwächen der menschlichen Gattung keine Illusionen, aber als geistiges Kind der Renaissance vertraute er im Geist des Humanismus auf die guten Kräfte und Anlagen des Menschen und hoffte darum auch, dass diese sich innerhalb der Kirche und nicht als Gegenbewegung zu ihr zur Erneuerung des Christentums durchsetzen würden. In der Ahnengalerie des Kulturprotestantismus haben die Renaissance und der Humanismus darum vornehme Plätze.

Vom Humanismus stark beeinflusst waren die Entwicklungen in der Schweiz, dennoch stand am Anfang ein öffentlich kirchenkritischer Akt, der eher an die Unruhen in Wittenberg erinnert. Am ersten Fastensonntag 1522 lud ein Zürcher Drucker zu einem öffentlichen Wurstessen und damit zu einem Bruch des Fastengebots ein. Zwingli nahm daran teil, und ob er nun selbst die Wurst verzehrte oder nicht – eine Frage, die Gelehrte bis heute beschäftigt –, er stieg rasch zum Wortführer der Zürcher Reformation auf. Zwingli selbst versicherte, dass seine theologischen Einsichten in ihm unabhängig von Luther reiften. Die Akzente jedenfalls, die er der reformatorischen Bewegung gab, sind unverkennbar anders. Sicht- und hörbar war Zwinglis rigorose Ablehnung von Kunst und Musik, theologisch legte er auf die Geltung des alttestamentlichen Gesetzes ein größeres Gewicht und bezog in der Abendmahlsfrage eine Position, die seiner Auffassung nach Luthers Inkonsequenz auflöste und die göttliche Gegenwart nicht in die Abendmahlselemente hinein, sondern in das Bewusstsein der Glaubenden verlegte.

Seine große Verehrung für Luther bekundete hingegen Zeit seines Lebens der in seiner Wirkung bedeutendste Reformator in der Schweiz, der Franzose Johannes Calvin. Calvin war ein Theologe von strenger Klarheit und ein Kirchenführer von unerbittlichem Rigorismus. Unter dem Motto der Kirchenzucht ging er in der praktischen Umsetzung dessen, was seiner Auffassung nach als ein christliches Leben zu gelten hat, am weitesten. Bis tief hinein in das Private versuchte er die Lebensführung der Genfer zu regeln und zu überwachen. Einen Leugner der Trinitätslehre, den spanischen Arzt Miguel Servet, ließ er zum Tode verurteilen und verbrennen. Spätestens damit hatte die Reformation ihre Unschuld verloren. Die Protestanten, einst aufgestanden als Gegner kirchlicher Macht und Gewalt, unterschieden sich in der gewaltsamen Auslöschung ihrer theologischen Gegner nun in nichts mehr von der römischen Kirche. Calvin kannte weder Güte noch Kompromiss. Das böse Bild, das Stefan Zweig von ihm in seinem Buch Castellio gegen Calvin gezeichnet hat, dürfte historisch viel Richtiges enthalten.

 

Calvin ist ein erstaunliches Phänomen. Als Charakter und persönliche Erscheinung hat er wenig Anziehendes und viel Abstoßendes, und doch ist seine Vorstellung der Reformation des Christentums weltweit erfolgreicher geworden als die lutherische. Noch zu Calvins Lebzeiten setzte der pfälzische Kurfürst Friedrich III. die calvinistische Gestalt der Reformation in seinem Territorium durch, die das Lutherische ergänzen, wenn nicht gar ablösen sollte. Dieses Programm einer „Zweiten Reformation“ machte in Deutschland bis ins 17. Jahrhundert Schule, die Einführung im Kurfürstentum Brandenburg mit prägender Wirkung für das spätere Königreich Preußen ist der prominenteste Fall. Die Herrscher erhofften sich von der Zuwendung zum Calvinismus eine konsequentere Durchdringung des christlichen Lebens – und damit auch eine Verbesserung ihres Staatswesens. Der Calvinismus brachte die faszinierende Idee in die Welt, das Christentum unbeirrt und umfassend in der individuellen Lebenspraxis zu realisieren. Der Traum eines konsequent den Menschen und die Welt verbessernden Christentums fand dann auch rasch Anhänger in Frankreich, den Niederlanden, Schottland und innerhalb der englischen Reformation. Die Puritaner verbanden Calvinismus und Täufertum miteinander und prägten ab dem 17. Jahrhundert mit dem Ideal eines ernsthaft und konsequent vollzogenen christlichen Lebens die Religionslandschaft in Amerika nachhaltig. Dies alles gehört auch zur Reformation, und hat doch mit Luther nur noch mittelbar zu tun.

Schließlich ist die Reformation auch an der katholischen Kirche nicht einfach spurlos vorübergezogen. Der lange etablierte Begriff „Gegenreformation“ macht die Dinge einfacher als sie sind. Die katholische Kirche hat sich nicht einfach nur gegen Luther gestellt, sie hat sich theologisch und auch institutionell neu formiert. Denkwürdig dokumentiert ist das in den Texten des Konzils von Trient, das zwischen 1545 und 1563 tagte. Darin werden Positionen wie die Stellung der Bibel für den Glauben oder die Bedeutung der lutherischen Rechtfertigungslehre nicht einfach nur abgelehnt, sondern mit eigenen theologischen Entwürfen beantwortet. Dem sola scriptura wird ein Zusammenwirken von Schrift und Tradition gegenübergestellt, dem sola gratia eine gestufte Gnadentheologie, die göttliche Alleinwirksamkeit und menschliche Betätigung miteinander verbindet. Zudem entwerfen die Konzilsväter eine Kulturtheologie, die Musik und vor allem die Kunst theologisch angeleitet in den Dienst der christlichen Verkündigung stellt und damit zu wesentlichen Teilen den Barock als Kulturform vorbereitet. Die katholische Kirche um 1600 war definitiv eine andere als um 1500.

Die Reformation ist eine der großen Epochenzäsuren des Christentums, in der nachher nichts mehr war wie vorher. Die Sehnsucht und das Verlangen, das Christentum zu erneuern, zu seinen Wurzeln zurückzuführen, seine Ideale in die Wirklichkeit des Alltags zu bringen und entsprechend verwandelte Gesellschaften zu formen, glich einer grandiosen Entfesselung unterschiedlichster Kräfte. Reformation heißt immer auch Plurifizierung des Christentums. Dass man reichsrechtlich lange nur eine Unterscheidung in Katholiken und Lutheraner zuließ, ändert nichts daran: Es gab viele Reformationen, die der Bauern, die der Täufer und Schwärmer, die der Humanisten, die der Zwinglianer und Calvinisten und schließlich sogar eine katholische. In Deutschland genießt die Wittenberger Reformation Luthers immer noch eine singuläre Stellung, international ist es aber längst üblich geworden, von Reformationen im Plural zu sprechen. Es gab viele Aufbrüche zur Erneuerung der Kirche im 16. Jahrhundert, sie alle wirken auf unterschiedliche Weise fort. Der andere Blick aus der liberalen Perspektive macht Luthers Bedeutung nicht kleiner, sondern die anderen Strömungen der Reformation größer.

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