Loe raamatut: «Requiem für ein Kind»
Joseph Groben
Requiem für ein Kind
Trauer und Trost berühmter Eltern
© Dittrich Verlag ist ein Imprint
der Velbrück GmbH, Weilerswist-Metternich 2021
Printed in Germany
ISBN 978-3-947373-68-0
eISBN 978-3-947373-74-1
Satz: Gaja Busch, Berlin
Cover: Helmi Schwarz-Seibt, Leverkusen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Dieses Buch ist dem Andenken der Unzähligen gewidmet, die allzu früh dahingegangen sind und ihre Eltern in tiefer Trauer zurückgelassen haben. Einige davon haben dem Autor nahegestanden, ihr Tod hat ihn betroffen.
Conny A. 1999–2020
Carole B. 1961–1982
Johny B. 1944–1967
Marc E. 1952–1995
Anne G. 1961–1992
Françoise G. 1965–2011
André H. 1943–1961
Viviane H. 1949–1986
Romain K. 1959–1982
Charlotte K.-E. 1956–2009
Pierre L. 1972–2017
Andrée L. 1963–1995
Franck L. 1969–2019
Dany M. 1963–1991
Dominique M. 1955–1992
Fernand M. 1935–1957
Florent M.1976–1997
Roudo M. 1934–1957
Michel S. 1967–1994
Marie-Jeanne S. 1957–1994
Daniel de S. 1946–1969
Frank S. 1948–1997
Laurent V. 1991–1993
Pascal V. 1977–1993
Peggy de W. 1969–2006
Tommy W. 1966
Mariette W.-B. 1948–1995
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Marcus Tullius Cicero Ein Tempel für Tullia
Plutarch und Timoxena Trostschreiben an seine Gattin
Jan und Dorota Kochanowski »Treny für Orszola«
René Descartes und Hijlena Jans »Der größte Schmerz seines Lebens«
Ludwig XIV. »Gott straft mich, ich habe es wohlverdient«
Peter der Große und Eudoxia Alexej – Zarewitsch und Absalom
Michael und Maria Magdalena Haydn Das Requiem in c-Moll
André-Ernest-Modeste und Jeanne-Marie Grétry Jenny, Lucile, Antoinette
Johann Wolfgang Goethe »Das Außenbleiben meines Sohnes drückte mich sehr heftig und widerwärtig …«
Klemens und Eleonore von Metternich Clementine, Maria Leopoldina, Viktor
Alessandro und Enrichetta Manzoni »Epigrafi« für Giulietta, Cristina, Sofia, Matilde, Filippo und Pietro
Joseph und Luise von Eichendorff »Auf meines Kindes Tod«
Friedrich und Anna Luise Rückert »Eine unsägliche Masse von Todtenliedern …«
Alphonse und Mary-Ann de Lamartine »Gethsemani oder der Tod Julias«
Victor und Adèle Hugo Das Drama von Villequier
Hector Berlioz »Es war an mir, an mir zu sterben«
Franz Liszt und Marie d’Agoult Blandine und Daniel, die »geopferten Kinder«
Robert und Clara Schumann Kinderszenen ohne Träumerei
Charles und Catherine Dickens »Dora, unser armer kleiner Liebling«
Giuseppe und Margherita Verdi Die ausgelöschte Familie
Theodor Storm »Du, der du ihn liebtest, hast nichts weiter du zu sagen?«
Karl und Jenny Marx »Erst jetzt weiß ich, was ein wirkliches Unglück ist«
Fjodor und Anna Dostojewski Sonja und Aljoscha
Louis und Marie Pasteur Die Kindergräber in Arbois
Bedřich und Katharina Smetana Trio g-Moll oder Trauermusik für Bedriska
Kaiser Franz Joseph und Kaiserin Elisabeth Die Tragödie von Mayerling
Antonin und Anna Dvořak Ein Stabat Mater für Josefa, Ruzena und Otakar
Stéphane und Maria Christina Mallarmé Ein Grabmal für Anatole
Leoš und Zdenka Janáček Eine Oper und eine Elegie für Olga
Sigmund und Martha Freud »Die Ungeheuerlichkeit, daß Kinder vor den Eltern sterben …«
Gustav und Alma Mahler Kindertotenlieder – »Du malst den Teufel an die Wand!«
Arthur und Olga Schnitzler »Das Wort Schmerz ist lächerlich geworden«
Rabindranath Tagore Madhurilata, Renuka, Samindranath
Käthe und Kollwitz Ein Denkmal für Peter
Else Lasker-Schüler »An mein Kind«
Hugo und Gertrud von Hofmannsthal Ein großes Unglück im Rodauner Haus
Thomas und Katja Mann »Klaus – Dem Todessehnsucht früh im Herzen keimte …«
Alma Mahler und Walter Gropius »Dem Andenken eines Engels«
Ernst und Gretha Jünger Ernstel – ein Opfer für den Frieden
Stefan und Dorothee Andres Requiem für Mechthild
Mascha Kaléko und Chemjo Vinaver Elegie für Steven
Joe Biden Naomi und Beau
Abbildungsverzeichnis mit Quellennachweis
Danksagung
EINLEITUNG
Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen, die von nichts wissen, wachsen auf und sterben. Hugo von Hofmannsthal
Dass wir alle sterben werden, dass unsere Existenz also nur ein »Da-Sein zum Tode« (Heidegger) ist, das ist die einzige Gewissheit, die das Leben uns beschert. Diese banale Wahrheit wird tagtäglich so tausendfach bestätigt, dass wir ihr kaum noch Beachtung schenken oder sie aber mit allen Mitteln aus unserem Bewusstsein zu verdrängen suchen. Dabei sterben bei weitem nicht alle wie in Deutschland im statistischen Durchschnittsalter von 78,9 Jahren für den Mann und 83,6 Jahren für die Frau (Statistisches Bundesamt, 2020). In Afrika und Asien wird wesentlich jünger gestorben.
Ein alter Spruch besagt, dass jeder Mensch, sobald er geboren ist, schon alt genug zum Sterben ist. Aber der frühzeitige Tod – »mors immatura«, »der unreife Tod«, wie die Römer sagten – wurde immer als besonders schmerzlich empfunden. Indem er die natürliche Ordnung umkehrt, zwingt er die Eltern, ihre eigenen Kinder zu begraben. Nichts ist tragischer als die Unterbrechung der Generationenkette, das Auslöschen der Zukunftsperspektiven.
Dank besserer Gesundheitssysteme, Impfungen, besserer Ernährung und Trinkwasserversorgung geht die weltweite Kindersterblichkeit glücklicherweise konsequent zurück. Laut einer aktuellen Schätzung der Vereinten Nationen (UNICEF, WHO) hat sie sich in den letzten 30 Jahren mehr als halbiert, d.h. von 12,5 Millionen Kindern unter fünf Jahren (1990) auf 5,2 Millionen Kinder unter fünf Jahren (2019). Immerhin sterben weltweit täglich noch rund 14.000 Kinder in dieser Altersstufe. Hinter dieser Zahl von Verlusten verbirgt sich ein unvorstellbarer Abgrund menschlicher Tragödien, den der UNICEF-Bericht von 2001 treffend zum Ausdruck gebracht hat: »The true scale of the children injury tragedy should be gauged by its depth and its breadth – by asking not only how many families are affected but also how severely. And in this case the multiplier – the depth of grief and anguish involved in the death of a child – is beyond all measuring.« Der Schmerz über den Verlust eines Kindes übersteigt jegliches Maß.
»Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen, die von nichts wissen, wachsen auf und sterben« – der unfassbar heimliche Übergang vom ahnungslosen Wachstum zum jähen Sterben kann nicht prägnanter zum Ausdruck kommen als in den bekannten Versen Hugo von Hofmannsthals. Unwissenheit und Unschuld sind die Eigenschaften, die man den Kindern in den meisten Kulturkreisen seit jeher zuschreibt. Sie haben sich nicht gegen göttliche oder menschliche Gesetze verfehlt oder »versündigt« und kehren makellos zum Ursprung zurück. Für die Kindergräber hat die Antike den schönen Spruch gefunden: »Die Erde sei dir leicht!«, da auch die Frühverstorbenen die Erde nicht belastet haben, weder durch ihr Gewicht noch durch ihre Taten.
Niobe beweint ihre Kinder.
Für die überlebenden Eltern indes bricht eine Welt zusammen. Der Mythos der Niobe illustriert es greifbar: Nach dem jähen Tod ihrer Kinder ist die Mutter so untröstlich, dass der Schmerz sie zu Stein erstarren lässt. Der geduldige Hiob akzeptiert den Tod seiner 50 Söhne und Töchter mit dem berühmten Satz: »Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat es genommen.« Aber Hiob ist nur die paradigmatische Figur eines Lehrgedichts, kein Mensch aus Fleisch und Blut. Rachel beweint ihre Kinder, König Davids Klagerufe über den Tod des aufrührerischen Sohnes Absalom – »Absalom, Absalom, mein Sohn, o wäre ich doch an deiner Stelle gestorben!« – hallen durch den Palast und zeigen uns den biblischen Menschen in seinem ganz unheroischen Trauerschmerz. Maria gilt als die »Mater dolorosa«, als die schmerzensreiche Mutter schlechthin. Wie sie unter dem Kreuz steht oder den Leichnam ihres Sohnes auf ihren Knien trägt, das hat die abendländische Kunst zu zahllosen »Stabat mater«- und »Pietà«-Darstellungen inspiriert. Und nicht selten wird auf diese fast archetypischen Situationen unaussprechlichen Leides die Klage des Propheten Jeremias angewandt: »O vos omnes qui tansitis, animadvertite et videte, si quis dolor similis est dolori meo« (»O ihr alle, die ihr des Weges zieht, schaut doch und seht, ob ein Schmerz meinem Schmerze ähnlich ist«). Gerade die Erfahrung des Leides erklärt, warum man Maria seit jeher als Trösterin in allen leidvollen Lagen anruft, warum der Marienkult so tiefe Wurzeln im Volk schlagen konnte.
Die zahlreichen Zeugnisse der Vergangenheit lassen vermuten, dass seit jeher der Verlust eines Kindes als das schlimmste Unglück empfunden wurde, das Eltern widerfahren kann. Das scheint eine anthropologische Konstante zu sein. Noch einen Schritt weiter geht die französische Psychologin Ginette Raimbault, indem sie behauptet: »Der Schmerz über den Verlust eines Kindes ist in einer Epoche so intensiv wie in der andern.« Vielleicht drängt sich dennoch eine differenziertere Beurteilung auf, die den historischen Umständen Rechnung trägt.
Altertum
In fast allen Gesellschaften des Altertums hat das Kindersterben stumme, aber deutliche Zeugnisse hinterlassen.
Ramses II. (1303–1213 v. Chr.), der bedeutendste der ägyptischen Pharaonen, hat über die Hälfte seiner 110 Kinder begraben müssen. Um das Andenken seiner verstorbenen Söhne zu ehren, genauer »um ihr ewiges Leben zu sichern«, ließ der trauernde Pharao das umfangreichste Mausoleum des »Königstals« erbauen. Die Entdeckung dieses wahrhaften Labyrinths von über 100 Kammern durch Kent Weeks im Jahre 1995 gilt als eine der archäologischen Sensationen des 20. Jahrhunderts. Ramses überlebte zwölf »Kronprinzen«, erst der 13. Dauphin lebte lange genug, um die Nachfolge seines Vaters anzutreten. Ramses II. hat 67 Jahre lang regiert.
Die archäologischen Untersuchungen der altgriechischen Gräber belegen eine hohe Kindersterblichkeit; die meisten Kinder starben, bevor sie das dritte Lebensjahr vollendet hatten. Die Häufigkeit der Verluste und der Schwangerschaften hat vermutlich eine allzu starke Bindung der Eltern an die Kleinkinder verhindert. Aber die Gräber, die Grabstelen, die Beigaben (Statuetten, Keramiksaugfläschchen, Spielzeug, Puppen) sowie die attischen Inschriften zwischen dem 8. und 6. vorchristlichen Jahrhundert offenbaren teilweise eine tiefere Trauer bei Kindern als bei manchen Erwachsenen. Grundsätzlich war Trauer bei einem Kindertod eine pietätvolle Verpflichtung. Der athenische Redner Aischines (390–314) warf seinem Gegner Demosthenes (384–322) vor, diese Pflicht verletzt zu haben, weil er bereits sieben Tage nach dem Tod seiner Tochter die Trauerkleidung abgelegt hatte. Das galt als ein schlimmer Verstoß gegen eine religiöse Verpflichtung.
Der römische König Numa Pompilius (715–672), dem man die Vorschriften der religiösen Einrichtungen zuschreibt, begrenzte streng die Trauerdauer der Eltern. Gemäß Plutarch (Numa 12,3) soll er sogar die Trauer für ein Kind unter drei Jahren verboten haben. Jenseits dieses Alters durften die Eltern so viele Monate Trauer tragen, wie das Kind dieses Alter überschritten hatte, bei einem Maximum von zehn Monaten. Bis zum Alter von 40 Tagen, also bis zu den ersten Zähnen des Milchgebisses, wurden die Kinder nicht eingeäschert, aber sie wurden in einer Nische in der Hauswand begraben (Plinius nat., 7,72, Juvenal 139–140 »terra clauditur infans«).
Im 1. Jahrhundert vor Christus beruft sich Cicero noch auf Numa Pompilius, wenn er sich in seinen »Tusculanae disputationes« gegen jegliche Trauerkundgebung für ein Kind unter drei Jahren ausspricht. Aber diese stoische Haltung war weder repräsentativ für alle römischen Jahrhunderte noch für alle Eltern, nicht einmal für ihn selbst. Beim Tod seiner einzigen Tochter Tullia fiel er auf durch übermäßige öffentliche Schmerzensäußerungen, die von vielen Zeitgenossen als übertrieben kritisiert wurden.
Kaiser Augustus (27 v. Chr. bis 14 n. Chr.) wurde zutiefst getroffen durch den Tod von vier jungen Männern, die alle als Thronnachfolger galten: zuerst Marcellus (23. v. Chr.), der Sohn seiner Schwester Octavia, dann seine beiden Neffen Lucius Caesar und Caius Caesar, die Söhne seiner einzigen Tochter Julia, die in einem Abstand von zwei Jahren 2 und 4 nach Chr. dahinstarben. Zahlreiche Trauerdenkmäler, die an vielen Orten des Kaiserreichs errichtet wurden, zeugen von einem wahren Gedächtniskult und dass die römischen Städte an der tiefen Trauer des Kaisers Anteil nahmen, u.a. ein Traueraltar in Reims, ein Traueraltar in Trier, die berühmte »Maison carrée« in Nîmes, ein Tempel zu Ehren der beiden Brüder. Anlässlich des Todes von Drusus Nero, dem Schwiegersohn des Kaisers, schrieb Ovid eine lange »Consolatio«, eine Gattung, die auch von Seneca gepflegt wurde. In seiner »Consolatio ad Marciam« erwähnt er auch die Trauerfälle des Augustus, seiner Schwester und seiner Gattin. Die erste fand nur Trost in der Einsamkeit, während Livia ihren Schmerz schließlich überwand und ins gesellschaftliche Leben zurückkehrte.
Kaiser Mark Aurel (161–180) musste den Verlust von acht seiner dreizehn Kinder verschmerzen, die ihm seine Gattin Faustina, die Tochter des Kaisers Antoninus Pius, geboren hatte. Er gab sich die größte Mühe, diese Familientragödien mit stoischer Gelassenheit zu tragen, aber seine Biografen bezeugen, dass er bei jedem Verlust empfindlich getroffen wurde. In seinen philosophischen »Gedanken« versuchte er, sich unerschütterlich zu zeigen, indem er besonders Epiktet zitierte: »Es ist unsinnig, im Winter Feigen auf den Bäumen zu suchen, desgleichen ein Kind zurückzufordern, das geraubt wurde« (XI, 33), oder: »Wenn man ein Kind umarmt, soll man, wie Epiktet sagt, innerlich denken, ›morgen wirst du vielleicht tot sein‹« (XI, 34). Die meisten Kinder starben vor dem Alter von 10 Jahren: Annia Faustina, Gemellus Lucillae, Titus Antoninus, Titus Aurelius, Hadrianus, Domitia Faustina, Titus Fulvus, Marcus Annius. Das Kaiserpaar beweinte alle seine Kinder und setzte ihre Asche im imposanten Mausoleum des Hadrian bei, das später von den Päpsten zur Engelsburg ausgebaut wurde. Ob sie wohl Trost gefunden haben bei der Inschrift, die Kaiser Hadrian selbst verfasst und in der Grabkammer angebracht hatte, einer überraschend zärtlichen Apostrophe an die »Seele«?
ANIMVLA VAGVLA BLANDVLA / HOSPES COMESQVE CORPORIS / QVAE NVNC ABIBIS IN LOCA / PALLIDVLA RIGIDA NVDVLA / NEC VT SOLES DABIS IOCOS
Kleine Seele, schweifende, zärtliche, / Gast und Gefährtin des Leibes / Die du nun entschwinden wirst dahin / Wo es bleich ist, starr und bloß, / Und du nicht wie gewohnt mehr scherzen wirst …
In den Katakomben von Rom und in vielen römischen Städten, u.a. in Trier, dem »zweiten Rom« hat man unzählige Grabinschriften gefunden, die vom tiefen Schmerz der trauernden Eltern Zeugnis ablegen. Die heidnischen Eltern widmeten ihre Denkmäler für die verstorbenen Kinder ihren »Manen«, d.h. ihren Seelen oder guten Geistern, und verwendeten dabei eine stereotypische Formel: DIS MANIBVS POSVERVNT. Mehr als einmal drückten sie ihre Verzweiflung und ihr Unverständnis dadurch aus, dass sie hinzufügten: CONTRA VOTVM oder – INVITI – also »gegen ihren Wunsch«, »ungern, widerwillig«. Natürlich ließ der enge Raum der Marmorplatten nur wenig emotionale Ausdrücke zu. Die Epigraphie ist knapp, »lapidar«. Die Skulpturen, welche manchmal die Epitaphen begleiten, erinnern an liebenswürdige Züge der verstorbenen Kinder; so die Darstellung des Knaben Primulus, der dabei ist, seinen Hund zu streicheln und zu füttern.
Die christlichen Eltern verwendeten eine ganz andere Formel: HIC IACET, HIC QVIESCIT IN PACE (»Hier liegt«, »hier ruht in Frieden«). Außer dem Namen und den sehr genauen Angaben über die Lebensdauer –VIXIT ANNOS/MENSES/ DIES – enthalten die Inschriften oft ganz affektive Adjektive wie DVLCISSIMVS, CARISSIMVS (Süßester, Liebster). Generell wird das Alter des Kindes umso präziser angegeben, je kürzer die Lebensdauer war, als ob man den unschätzbaren Wert eines jeden Tages in dieser kurzen Existenz betonen wollte.
INFANTI DVLCISSIMO DEFVNCTO QVI VIXIT MENSES V DIES XX PATER ET MATER PIISS FECERUNT
Dem süßesten verstorbenen Kind, das 5 Monate und 20 Tage gelebt hat, haben Vater und Mutter aus tiefer Ehrfurcht (dieses Grabmal) errichtet.
Am Ende der Inschrift findet man die Angabe desjenigen, derjenigen, meist der Eltern – PARENTES –, welche die Grabstätte errichtet haben: QVI TITVLVM POSUERUNT. Die christlichen Texte werden oft durch Symbole und Zeichen illustriert, welche einerseits die Unschuld der Kinder und andrerseits ihre Zugehörigkeit zum Christentum betonen: Tauben, das Christus-Monogramm, die apokalyptischen Buchstaben Alpha und Omega. In seinem ersten Brief an die Thessalonicher mahnt der heilige Paulus die Christen, »sich nicht zu betrüben wie die anderen, die keine Hoffnung haben … sich gegenseitig zu trösten« (4,13). Dieser Text wird noch heute oft bei Begräbnissen und Leichendiensten gelesen. Ein Grabstein aus dem 5. Jahrhundert, der in Sion, der »Colline inspirée« von Maurice Barrès gefunden wurde, legt Zeugnis ab von diesem christlichen Glauben an die Auferstehung. Auf das Grab seines Sohnes Nicetius ließ der Vater folgende Inschrift gravieren: CVM CHRISTO IN COELO DEVOTA MENTE RESVRGET (Mit Christus im Himmel wird er nach seinem tiefen Glauben auferstehen).
Das Mittelalter
Das christliche Mittelalter, das von einem unerschütterlichen Glauben an die Unsterblichkeit der Seele geprägt war, bot den unglücklichen Eltern sicher mehr Trost und Hilfe an als die heidnischen Zeitalter mit ihrem weitverbreiteten Skeptizismus. In der Praefatio der Seelenmessen wird dies deutlich umschrieben: »ut quos contristat certa moriendi conditio, eosdem et consoletur futurae immortalitatis promissio …« (»Wenn auch das unabänderliche Todeslos uns niederdrückt, so soll die Verheißung künftiger Unsterblichkeit uns Trost spenden«.). Die Gewissheit der Auferstehung und des ewigen Lebens dämpfte den Schmerz des Verlustes. Wenn Kinder starben, wurden ihre Seelen von Engeln ins Paradies getragen, wo sie in der »Hand Gottes« geborgen waren. Die lateinischen Hymnen »In paradisum te deducant angeli« (»Die Engel sollen dich ins Paradies bringen«) und »Justorum animae in manu Dei sunt« (»Die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand«) haben sich in den liturgischen Gesängen der Seelenmessen erhalten. In manchen Gegenden werden die Gottesdienste für früh verstorbene Kinder noch als »Engelsmessen« bezeichnet.
Chlotilde, die Gattin des Frankenkönigs Chlodwig, bietet ein erbauliches Beispiel christlicher Ergebenheit. Als ihr erster Sohn Ingomir im Jahre 496 starb, erklärte sie: »Ich danke Gott, dem Allmächtigen und Schöpfer aller Dinge, dass er mich nicht für unwürdig gefunden hat, Mutter eines Sohnes zu sein, der in sein himmlisches Reich aufgenommen wurde. Der Schmerz, den ich über seinen Verlust empfinde, trübt meine Seele nicht. Da er diese Welt im weißen Gewand seiner Unschuld verlassen hat, wird er sich ewig am Anblick Gottes weiden.« Ihre christliche Zuversicht trug nicht wenig dazu bei, dass Chlodwig sich 496 in Reims taufen ließ. Durch dieses Sakrament schwor er dem heidnischen Götzenglauben ab und »eröffnete den Weg für das Heil seiner Seele«.