Anders ist eine Variation von richtig

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Anders ist eine Variation von richtig
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Josephin Lorenz

Anders ist eine Variation von richtig

PEP und Kunsttherapie

bei Autismus

2020


Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Reden reicht nicht!?«

hrsg. von Michael Bohne, Gunther Schmidt und Bernhard Trenkle

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann

Umschlagfoto: © elxeneize/PantherMedia

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Illustrationen: Tim Schilling

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2020

ISBN 978-3-8497-0360-8 (Printausgabe)

eISBN 978-3-8497-8250-4 (ePub)

© 2020 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

info@carl-auer.de

Inhalt

Geleitwort

Vorwort

1»Der will nur nicht!« – autismusspezifische Wahrnehmung

Tiefgreifende Entwicklungsstörung, Wrong-planet-Syndrom oder doch eine Superkraft?

2Unterstützung im Autismus-Spektrum

Stress vermeiden

Anliegen und Auftrag klären

Anliegen der Eltern

Anliegen der Kinder und Jugendlichen

Kontakt aufnehmen

Bedürfnisse ernst nehmen

3Kunstvoll handeln und wandeln

Mit Kreativität Ressourcen aktivieren

Mit PEP Blockaden auflösen

4Anders ist eine Variation von richtig

Fähigkeiten erkennen und wertschätzen

5Das Wüte-Dings

Überforderungen erkennen und beheben

6»Ich bin nichts wert!«

Von Selbstwert-Räubern und Eigensabotage hin zu mehr Selbstwert-Erleben

7»Ich bin ich, weil ich anders nicht sein kann!«

Autistische Vorbilder in unterschiedlichen Bereichen

Handlungsplanung stärken

8Kompetenzen im Alltag steigern

Gelassenheit der Eltern fördern

Geschwister aufklären und stärken

Konflikte zwischen Lehrer und Eltern auflösen

Gut informierte Kindertagesstätten und Schulen

Mit gestärkter Präsenz den Handlungsrahmen erweitern

Gemeinsam gegen Ausgrenzung und Mobbing

9Leichtigkeit und Humor in der täglichen Arbeit

Stressprophylaxe für die Therapeuten

10Und wann ist Schluss?

Therapien beenden

Resümee

Danksagung

Anhang

Arbeitsblätter zu den Big-Five-Lösungsblockaden

Arbeitsblatt Nr. 1: Selbstvorwürfe auflösen

Arbeitsblatt Nr. 2: Fremdvorwürfe auflösen

Arbeitsblatt Nr. 3: Erwartungen bearbeiten

Arbeitsblatt Nr. 4: Altersregression

Arbeitsblatt Nr. 5: Loyalitäten klären

Kommunikation mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum

Defizite neurotypischer Menschen

Literatur

Über die Autorin

Geleitwort

Es ist mir eine große Freude, zum vorliegenden Buch Anders ist eine Variation von richtig von Josephin Lorenz ein Geleitwort beisteuern zu können. Dies tue ich u. a. deshalb sehr gerne, weil ich als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie als Ausbilder von nunmehr ca. 3000 Kolleginnen und Kollegen in Prozess- und Embodimentfokussierter Psychotherapie (PEP) das Gefühl nicht loswerde, dass wir alle noch ziemlich große Wissenslücken in puncto Autismus haben. In dieser Hinsicht war meine eigene Lernkurve während der gesamten Lektüre sehr hoch.

 

Besonders fasziniert hat mich neben Josephin Lorenz’ therapeutischer Unterstützung ihre überraschende, kreative, ressourcenorientierte und zutiefst wertschätzende Sicht auf Menschen mit jener besonderen Wahrnehmung. Die diesem Buch zugrundeliegende Haltung, Autismus nicht per se als Störung zu betrachten, sondern immer klar und deutlich auch auf die vorhandenen Stärken und Fähigkeiten zu fokussieren, öffnet neue Denk- und Fühlräume und scheint mir eine sowohl respektvoll-kreative, als auch sehr menschenwürdige Herangehensweise zu sein. Leben wir doch in einer Zeit, in der von der Norm abweichendes Verhalten und Empfinden schnell mit neuen Diagnosen versehen werden. So entlastend eine Diagnose sein kann, so stigmatisierend und damit ausgrenzend und potenziell schädigend kann sie sein. Diagnosen haben überdies nicht selten etwas von struktureller Gewalt, gerade wenn Menschen mit dieser Diagnose zwangsläufig einer bestimmten sogenannten evidenzbasierten Behandlungsmethode zugeführt werden sollen, die sie so vielleicht gar nicht haben wollen. Da gerät dann schnell aus dem Fokus, was für den einzelnen betroffen Menschen wirklich passend, hilfreich und individuell richtig ist. So aber hat wahre Humanmedizin zu sein.

Als Mitherausgeber der Reihe Reden reicht nicht freut es mich sehr, wie dezidiert die Autorin aufzeigt, dass die Integration des Körpers bei der Veränderung von Emotionen und Glaubenssätzen auch im Autismusfeld unabdingbar ist.

Ganz besonders beeindruckt haben mich auch die ästhetisch ansprechenden Zeichnungen vom Tim, dem »jungen Illustrator mit Autismuskompetenz«.

Ich wünsche dem Buch, dass es möglichst viele Leserinnen und Leser findet und dadurch das Verständnis für diese besonderen Menschen wächst. Menschen, die nicht selten Bereicherndes in die Welt gebracht haben, was so niemand anderes hätte in die Welt bringen können.

Dr. med. Michael Bohne Hannover, im Juli 2020

Vorwort

In meiner langjährigen Praxis mit Kindern und Jugendlichen aus dem Autismus-Spektrum hatte ich viele berührende Begegnungen mit diesen besonderen Menschen. Eine Situation werde ich sicher nie vergessen: Einmal fragte mich der kleine, fünfjährige Albert mit seinen verwuschelten Haaren in einer Therapiestunde, warum Bill, sein Gruppenpartner, so kauzig sei. Dieses Wort »kauzig« aus dem Munde eines kleinen Jungen zu hören war schon besonders. Die Frage erstaunte mich jedoch insofern umso mehr, als mir Albert mit seiner enthusiastischen Art, Schnecken zu sammeln, selbst als sehr skurril und kauzig aufgefallen war.

Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus dem Autismus-Spektrum verarbeiten die Eindrücke aus ihrer Umwelt sehr individuell. Aufgrund einer anderen Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung haben sie besondere Schwierigkeiten in den Bereichen Kommunikation und Sozialverhalten. So führt z. B. ihr wortwörtliches Sprachverständnis im Alltag oft zu Missverständnissen. Ein Teufelskreis von gegenseitiger Ablehnung beginnt. Die Betroffenen kämpfen in der Folge nicht nur mit einem erhöhten Stresslevel, sondern leiden in der Regel auch unter einem geringen Selbstwertgefühl und oft zusätzlich an Depressionen und Ängsten.

Die meisten der bestehenden pädagogischen und therapeutischen Konzepte konzentrieren sich darauf, Unterstützung dahingehend anzubieten, dass diese Menschen an ihren autismusbedingten Schwachstellen gezielt trainieren, um sich so besser anpassen zu können. Demgegenüber erlebe ich immer wieder, wie hilfreich es für meine Klienten ist, dass sie achtsam für ihre autismusspezifischen Bedürfnisse werden. Auch fällt es ihnen meist schwer wahrzunehmen, was ihnen bereits alles gelingt. Zu intensiv haben sie gelernt, dass sie an ihren Schwächen »arbeiten« müssen.

Anders ist eine Variation von richtig nimmt eine neue Sichtweise auf die Unterstützung von Menschen aus dem Autismus-Spektrum ein. Bewusst verzichte ich in diesem Buch auf die Bezeichnung »Autismus-Spektrum-Störung«, wie sie laut der WHO (Weltgesundheitsorganisation) genannt wird. Diesem Buch liegt eine Haltung zugrunde, die Autismus nicht per se als Störung betrachtet. Stärken und Fähigkeiten werden gewürdigt und unterstützt, ohne autismusspezifische Probleme zu vernachlässigen.

Ich schließe mich der Äußerung von Phil Schwarz, Vizepräsident der Asperger’s Association of New England (AANE), an (Schwarz 2020):

»Ich glaube, dass Autismus so ein subtiler Mix von neurologischen Abweichungen von der Norm ist, dass man, wenn man ihn wirklich auf einer genetischen Ebene verhindern wollte, nicht nur die Kombination aus Behinderungen verhindern würde, die daraus entstehen, sondern auch Genius, Humor, Talent und nützliche unterschiedliche Arten zu denken und zu fühlen, Kunst zu schaffen und wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, die ebenfalls aus diesen neurologischen Abweichungen resultieren können. Die meisten autistischen Menschen, die ich kenne, gehören zu den zutiefst menschlichen Personen, die ich kenne. Die Menschheit wäre weit, weit ärmer ohne Leute wie sie.«

Linus Müller, der Gründer von Autismus-Kultur.de schreibt in seinem Blog, dass es viele unterschiedliche autistische Menschen gibt:

»Wir sind alt oder jung, schwul oder transgender, Migrant*innen oder Geflüchtete, schwarz oder jüdisch, lernbehindert oder hochbegabt, depressiv oder obdachlos. Diese Vielfalt muss sich widerspiegeln in der Unterstützung für autistische Menschen.«

Bei so vielen unterschiedlichen Erscheinungsformen von Autismus wird deutlich, wie entscheidend es für eine gelungene Unterstützung ist, dass sie auf den jeweiligen Menschen individuell angepasst wird und Eigendynamiken berücksichtigt werden.

Menschen aus dem Autismus-Spektrum benötigen also unterschiedlichste Hilfen, je nach Grad der individuellen Abweichungen von der Norm. Entscheidend ist, dass man Methoden findet, die ihnen helfen, ihre Potenziale zu entdecken, wertzuschätzen und zum Ausdruck zu bringen. Dementsprechend ist es meine therapeutische Grundhaltung, gemeinsam mit dem Klienten neue Wege zu finden, wenn alte ausgetretene Wege nicht oder nicht mehr hilfreich sind. Entscheidend ist für mich die Erfahrung, dass Kreativität bei jedem anders aussieht und individuelle Zufriedenheit bei jedem auf andere Weise entsteht.

In meiner täglichen Arbeit begleite ich in der Regel Menschen aus dem Autismus-Spektrum, denen die Sprache als Ausdrucksmittel zur Verfügung steht. Eine Methode für solche Klienten ist die Prozess- und Embodimentfokussierte Psychologie, kurz PEP®. Sie ermöglicht eine strukturierte und vorhersehbare Arbeitsweise, die neue Sichtweisen eröffnet. PEP beinhaltet verschiedene Techniken und Interventionsstrategien, die den Umgang mit heftigen Gefühlen oder belastenden Erlebnissen erleichtern und die Bearbeitung hinderlicher Beziehungsmuster, Glaubenssätze und Überzeugungen unterstützen.

Damit PEP wirksam eingesetzt werden kann, ist es wichtig, Vertrauen zu sich und zum Gegenüber aufzubauen. Kreative Angebote eignen sich dafür bei Menschen aus dem Autismus-Spektrum sehr gut. Denn diese Menschen haben zu oft gehört, was sie alles lernen und woran sie »arbeiten« müssen. »Arbeiten« und »müssen« – das klingt nicht nach Lebensfreude und Leichtigkeit. Doch gerade Leichtigkeit, Zuversicht und Humor öffnen Wege, Neues zu entdecken und damit zu experimentieren.

Das gilt nicht nur für die Betroffenen selbst: Auch Eltern, Erzieher, Lehrer oder Therapeuten können die Herausforderungen leichter meistern, wenn sie eigene Ressourcen und Potenziale (wieder-)entdecken und sich von einschränkenden Glaubenssätzen lösen. Das in diesem Buch beschriebene Klopfen aus der PEP ist eine einfach zu erlernende Technik, die jeder selbst anwenden kann, um negative Gefühle und Glaubenssätze zu überwinden sowie Blockaden und Hindernisse für ein leichteres Miteinander aus dem Weg zu räumen.

Natürlich ist PEP keine neue »Wundermethode«. Manchmal ermöglicht sie eine erstaunlich schnelle Entlastung für den Anwender. Wenn sich nicht die gewünschte Entlastung einstellt, ist jedoch auch ein beständiges Anwenden – bei festsitzenden Blockaden auch mit Unterstützung eines darin geschulten Therapeuten – notwendig, um die gewünschte Veränderung herbeizuführen. Wenn sich beim Lesen dieses Buches und beim Anwenden der PEP also nicht gleich die gewünschte Wirkung zeigt, scheuen Sie sich nicht, sich Unterstützung zu holen.1

Die Prozess- und Embodimentfokussierte Psychologie ist eine sehr hilfreiche Methode, um in der Begleitung von Menschen aus dem Autismus-Spektrum neue Wege zu gehen. PEP zusätzlich mit künstlerischen Mitteln zu verknüpfen ist für mich als Kunsttherapeutin, aber auch für viele meiner Klienten, die eher visuell denken, eine weitere Quelle von Kraft. Und davon kann man bekanntlich nie genug haben.

Aber ich durfte auch zehn Jahre lang Künstler aus dem Autismus-Spektrum begleiten, die der Sprache gar nicht oder nur sehr reduziert mächtig waren. Wenn Sprache als Ausdrucksmittel nicht möglich ist, ist Kunst ein wunderbares Medium, um verborgene Potenziale zu entfalten. Kunsttherapeutische Interventionen helfen, die eigene Kreativität zu entdecken, dabei Stärken und Ressourcen zu erkennen und zu lernen, wie man diese wertschätzen kann. Das eigene aktive Handeln und Verwandeln von Farben, Formen und Materialien fördert das Erleben von Selbstwirksamkeit. Denn jeder hat ein noch nicht ausgeschöpftes Potenzial in sich!

Zu diesem Buch

Es werden zunehmend mehr wissenschaftliche Publikationen zu Autismus veröffentlicht. In ihnen werden die Symptomatik, diagnostische Kriterien, Häufigkeit und mögliche Ursachen ausführlich beschrieben und nach wissenschaftlichen Normen belegt und ausgewertet. Auch gibt es schon viele Bücher, in denen die Geschichte der Entdeckung dieser Besonderheiten bis hin zu den unterschiedlichen Therapieansätzen ausführlich geschildert sind. Im vorliegenden Buch stehen persönliche Erfahrungen mit Kindern und Erwachsenen aus diesem Wahrnehmungsspektrum im Vordergrund.

Wenn Sie als Psychotherapeut oder Coach mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum arbeiten, erfahren Sie hier, wie hilfreich es für die Betroffenen ist, wenn autismusspezifische Bedürfnisse und Potenziale (wieder) in den Vordergrund rücken.

Vielleicht begleiten Sie auch als Erzieher oder Lehrer Kinder und Jugendliche mit dieser besonderen Wahrnehmung und wollen deren Erleben besser nachvollziehen können? Hier erfahren Sie, wie hilfreich es ist, sich von alten Glaubenssätzen und destruktiven Gedanken zu befreien. Ein Wechsel von der Defizitorientierung zur Potenzialentfaltung und das Nutzbarmachen eigener Ressourcen ist dabei sehr förderlich.

Wenn Sie das Buch gelesen haben, wissen Sie,

•wie Menschen mit und ohne Autismus ihre Selbstbeziehung verbessern und mehr Selbstwirksamkeitserfahrungen machen können und wie Sie als Therapeut beides nachhaltig aktivieren können;

•dass es Muster gibt, die für dysfunktionale Selbstbeziehungen und dysfunktionale Beziehungen zu anderen verantwortlich sind, und wie man diese auflösen kann.

Anhand von zahlreichen Behandlungsbeispielen werden konkrete Vorgehensweisen für unterschiedliche Therapiesituationen dargestellt. In den Kapiteln 1 bis 4 geht es um die Grundhaltung und grundsätzliche Vorgehensweise dieser Art der Unterstützung. Hier lohnt es sich, diese Kapitel in der gegebenen Reihenfolge nacheinander zu lesen.

Ab Kapitel 5 können Sie, wenn Sie gerade ein besonders Anliegen haben – z. B. mehr über den Umgang mit Überforderungen erfahren möchten –, direkt zu dem entsprechenden Kapitel springen.

PEP ist gut zu erlernen und eignet sich als Selbsthilfetechnik für die eigenständige Anwendung. Die Arbeitsblätter am Ende des Buches erleichtern das eigenständige Arbeiten mit dieser Klopftechnik. Zusätzliche Tipps für den Umgang mit neurotypischen Mitmenschen finden sich ebenfalls im Anhang.

Josephin Lorenz Hannover, im April 2020

1Wenn Sie PEP in Ihre professionelle Arbeit als Therapeut, Psychiater oder Lehrer integrieren wollen, ersetzt dieses Buch natürlich nicht die umfassende und detaillierte Ausbildung bei Michael Bohne.

1»Der will nur nicht!« – autismusspezifische Wahrnehmung

Wie oft habe ich diesen Satz von verzweifelten Eltern und Lehrern gehört. Ihr Sohn oder der Schüler wolle partout nicht im Stuhlkreis sitzen, störe die Klasse, werde frech und sei respektlos. Diese Kinder gelten als unerzogen und schwierig. Zuschreibungen wie »starrköpfig«, »unkooperativ« oder »ungehorsam« werden zur Beschreibung autistischer Menschen jeden Alters häufig benutzt. Ihr Verhalten entspricht nicht den gesellschaftlichen Regeln, wirkt befremdlich und löst Unsicherheit oder sogar Ängste bei den Menschen im Umfeld aus. Was dem Verhalten allerdings vorausgeht – nämlich die Schwierigkeit, mit neuen Situationen oder Reizüberflutung zurechtzukommen –, bleibt für die Umgebung unsichtbar.

 

Oft bekommen Eltern den Rat, man müsse doch nur mal konsequent sein, dann würde dieses Verhalten schon aufhören. Leider wird das unerwünschte Verhalten jedoch durch sogenannte pädagogische Konsequenz oft noch schlimmer.

Was passiert da? Warum kann sich ein autistischer Junge, ein autistisches Mädchen nicht genauso verhalten wie alle anderen auch? Um das zu verstehen, ist es wichtig, die unterschiedlichen Arbeitsweisen unseres Gehirns zu kennen. Reize aus der Umwelt, die wir mit unseren Sinnesorganen aufnehmen, werden bei autistischen Menschen auf andere Art verarbeitet als bei Menschen ohne Autismus-Diagnose – oder wie die Wissenschaftler sagen: den »neurotypischen« Menschen. Mit bildgebenden Verfahren lässt sich manches von diesen Unterschieden sichtbar machen. Betrachten neurotypische Personen Fotos von Gesichtern, sind andere Hirnareale aktiv als bei Menschen mit Autismus. Dadurch, dass die Sinnesreize im Gehirn anders verarbeitet werden, kommt es bei Letzteren oft zu unterschiedlichen Reizempfindlichkeiten, wie z. B. zu

•hoher Empfindlichkeit oder Anfälligkeit für Reizüberflutung im akustischen und visuellen Bereich

•Über- oder Unterempfindlichkeiten gegenüber sensorischen Reizen

•Schwierigkeiten, Reize zu filtern oder zu differenzieren und/oder sensorische Informationen gleichzeitig zu verarbeiten

•gesteigerter Wahrnehmung von körpereigenen Geräuschen

•höherer Empfindlichkeit für leichte oder unerwartete Berührungen.

Auch wenn Autisten – wie alle anderen Menschen auch – einzigartig sind, weisen sie im Allgemeinen einige autismusspezifische Eigenschaften auf wie

•Besonderheiten in den verschiedenen Wahrnehmungsbereichen

•unübliches Lern- und Problemlösungsverhalten

•fokussiertes Denken und Spezialinteressen

•atypische (manchmal repetitive) Bewegungsmuster

•Bedürfnis nach Beständigkeit, Routine und Ordnung

•Schwierigkeiten im Sprachverständnis und -ausdruck

•Schwierigkeiten im Verständnis und Ausdruck typischer sozialer Interaktionen.

Diese Eigenschaften führen jedoch auch zu besonderen Fähigkeiten, die aufgrund der autistischen Wahrnehmung in der Regel ausgeprägter sind als bei Menschen ohne Autismus, z. B.:

•Gegenstände oder Situationen nicht als »Ganzes« zu erfassen, sondern in ihren Details

•eher Unterschiede als Gemeinsamkeiten wahrzunehmen und darauf zu fokussieren

•verborgene oder hintergründige Muster oder Figuren zu erkennen

•visuell-fotorealistisch, gegenständlich und assoziativ zu denken

•Wörter in Bilder umzuwandeln, Bilder zu speichern und wie eine Suchmaschine abzurufen

•visuell-strukturhaft, mathematisch, räumlich und assoziativ zu denken

•Dinge oder Wörter in Muster zu transferieren, zu speichern und abzurufen

•mit unerwarteter Kreativität zu beeindrucken

•eindrucksvolle Spezialinteressen zu entwickeln und in beachtenswerte Leistungen umzusetzen

•Stress oder belastende Situationen durch ein mentales oder physisches »Stimming«2 zu kompensieren bzw. zu bewältigen.

Die Kommunikation mit anderen ist für viele Autisten im Alltag eine Herausforderung, da sie die nonverbalen Signale (Mimik, Gestik) oft nicht so schnell deuten oder Doppeldeutigkeiten nicht erkennen können. Von außen wirkt es so, als hätten Personen aus dem Autismus-Spektrum wenig »Empathie«. Sie können sich nicht (gut) in neurotypische Personen hineinversetzen. Allerdings ist das andersherum genauso: Für viele Menschen ohne Autismus-Diagnose ist es ebenso schwierig, die autistische Wahrnehmung nachzuempfinden. Für Nichtautisten ist es also auch eine Herausforderung, diesen Perspektivwechsel zu vollziehen. Wenn ich von der speziellen autistischen Wahrnehmung erzähle, können Zuhörer ohne Autismus es immer wieder kaum glauben, dass man die Welt auch so anders wahrnehmen kann. Würden wir in diesem Fall dann ebenso von einem »Empathiedefizit» reden?

Bei allen Unterschieden zwischen Menschen mit und ohne Autismus gibt es jedoch eine Gemeinsamkeit: Autistische und nichtautistische Personen reagieren auf Stress. Allerdings geraten autistische Personen wegen ihrer Reizempfindlichkeiten schneller in Stress. So kann zum Beispiel eine einfache Stundenplanänderung im schulischen Alltag das Stresslevel eines autistischen Schülers so extrem ansteigen lassen, dass es in seinem Gehirn zu einem »Absturz« kommt. So erklärte es mir ein Therapiekind: »Wenn das passiert ist, brauche ich 10 Minuten, um meinen ›Computer‹ (damit meinte er sein Gehirn) wieder für das nun stattfindende Fach ›hochzufahren‹!«

Bereits als Kinder haben Autisten wiederkehrende Schwierigkeiten, Beziehungen zu Gleichaltrigen zu knüpfen. Besonders die unausgesprochenen Regeln der menschlichen Kommunikation bereiten ihnen zahllose Schwierigkeiten. Das gesprochene Worte, die Mimik, den Tonfall oder die Körpersprache ihres Gegenübers richtig zu deuten ist eine große Herausforderung – und sie reagieren daher oft auch nicht auf solche nonverbalen Signale. Die eigenen Emotionen über Mimik, Gestik oder Stimmlage so zu transportieren, dass es für Nichtautisten leichter verständlich wäre, ist ihnen kaum möglich.

Eine große Anzahl von Menschen aus dem Autismus-Spektrum können aufgrund ihrer Schwierigkeiten kein eigenständiges Leben führen und sind auf Hilfe, zum Teil auf intensive Betreuung, angewiesen. Manche lernen das Sprechen nie richtig, neigen zu selbstverletzendem Verhalten oder Wutausbrüchen. Andere leiden zusätzlich unter anhaltenden Schlafproblemen, Ess-Störungen oder Phobien.

Es gibt aber auch Autisten, die die gleichen Berufe ausüben wie Nichtautisten und ohne fremde Hilfe ihren Alltag leben. Inzwischen gibt es immer mehr Jugendliche und Erwachsene, die im Internet oder in Büchern über ihr Leben mit Autismus schreiben, bloggen oder die ihre Kunst veröffentlichen. Bei ihnen wird anschaulich, dass sie durch den Begriff »Autist« auf diesen einen Aspekt reduziert werden. Eine passendere Benennung zu finden, die die positiven Seiten im Sinne von autismuskompetenten Menschen betont, wäre hier wünschenswert.