Loe raamatut: «Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen», lehekülg 8

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Die Närrische von Pressburg

Als ich 2005 mit meiner Frau Perbál besuchte, führte uns mein Cousin Ferenc (Franz) in eine Gasse am Rande des Dorfes. Er wollte uns die dort noch vorhandenen, schon ziemlich verfallenen Weinkeller zeigen. Wir waren kaum aus dem Auto ausgestiegen, da sprach uns ein Mann vor seinem Gartentor gegenüber an. Er forderte uns auf, in den Hof zu kommen und ein Glas Wein mit ihm zu trinken. Wir gingen mit auf seinen Hof und stellten uns vor. Nachdem er erfuhr, dass der Kopp Hans mein Großvater war, sprudelte es plötzlich nur so aus ihm heraus: Er habe das Pferd und den Wagen im April 1946 nicht gestohlen, sondern meinem Großvater abgekauft. Auch das Kalb habe er von ihm gekauft, und er habe unsere Familie auch mit dem (gerade erworbenen) Fuhrwerk nach Piliscsaba zur Bahn gebracht. Ich war einigermaßen überrascht über den Rechtfertigungszwang dieses Mannes, denn von diesen Einzelheiten hatte ich so konkret gar nichts gewusst. Er war ein Slowake, sprach aber unseren Perbáler Dialekt perfekt. Seine Frau hielt sich im Hintergrund des Hauses auf und traute sich erst nach fast einer halben Stunde auf den Hof. Ob sie Angst hatten, dass wir Pferd, Wagen und Kalb wieder von ihnen zurückhaben wollten? Das Geld, das er und vielleicht auch noch andere dem Opa damals bezahlt hatten, besitze ich heute noch: ein Bündel wertloser Pengö-Scheine. Pengö war die damalige ungarische Währung.

Der Zuweg zu seinem Haus war mit Weinreben zu einer Art Pergola überwuchert. Man sah es den Reben geradezu an, dass sie sich wohl fühlten. Weil es Frühsommer war, konnte ich nicht erkennen, ob es rote oder weiße Trauben waren. Was das denn für eine Sorte sei, fragte ich den Mann, die so üppig wuchere. Er wisse es nicht so genau. Er nenne sie aber die „Narischi ve Pressburg“, weil er die Stecklinge aus Pressburg (Bratislawa) bekommen habe. Es seien rote. Ich fragte ihn, ob ich von der „Närrischen aus Pressburg“ ein paar Stecklinge bekommen könne. Selbstverständlich, so viele ich wolle. Wir verabredeten dann, dass er im kommenden Winter die Stecklinge abschneide und durch meinen Cousin nach Deutschland schicken lasse. Ich habe sie nie bekommen. Vermutlich handelte es sich um amerikanische Wildreben, z. B. „Isabella“ oder „Delaware“. Von den Fotos, die ich bei unserem Treffen auf dem Hof gemacht hatte, schickte ich dem Mann einige Abzüge als Beilage zu einem kleinen Dankschreiben. Ich habe keine Antwort erhalten.

19 Dieses Recht wurde ihnen im Wiener Abkommen (Deutsch-ungarisches Protokoll vom 30. August 1940) ausdrücklich zugestanden. S. Wiener Abkommen in: Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost- Mitteleuropa, Band II, o.o.O (Bonn) 1956, S. 73 E f.

20 Die drei Regierungen haben die Frage unter allen Gesichtspunkten beraten und erkennen an, daß die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muß. Sie stimmen darin überein, daß jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll. Potsdamer Protokoll, Erklärung der drei alliierten Großmächte, 2. August 1945

21 Fehérvári Josef, Geschichte der deutschen Volksgruppen in Südosteuropa, Manuskript, S. 12

22 vgl. z. B.: Erlebnisbericht des Seminaristen Franz Roth vom 22. Mai 1943 in Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, Band V, o.o.O. (Bonn) 1961, Nr. 9, S. 78 f., „Einberufung von Volksdeutschen zur Waffen-SS aufgrund der deutsch-ungarischen Vereinbarung vom 22. Mai 1943“

23 vgl. Endre Arató, Der Volksbund der deutschen in Ungarn – eine fünfte Kolonne des Hitlerfaschismus, Rezension Johan Tills zu Norbert Spangenberger, Der Volksbund der Deutschen in Ungarn 1938–1944 unter Horthy und Hitler, in www. ungarndeutsche.de /rezension_volksbund_till. html

24 Dr. Georg Utto, Deutscher Kalender1991, Jahrbuch für die Ungarndeutschen, „Grausame Rechtsbestimmungen der Kollektiven Bestrafung“, Sonderdruck

25 Rede Himmlers in seiner Feldkommandantur beim ukrainischen Shitomir (16. September 1942) in Die Waffen-SS, Text und Dokumentation: Wolfgang Schneider, Berlin 1998, S. 128 f.

26 Internet. Diesen Text hat mir mein Bruder zugesandt. Er informiert über ein wichtiges Motiv der Vertreibung.

Ausführlicher: s. Perbálbuch

27 Der Bericht von Therese Beer aus Eifa, wurde aufgezeichnet von Alfred Becker.

Angekommen in Nordhessen

Unsere Ankunft in Deutschland, am 14. April 1946, begann auch für mich im Ort Allendorf an der Eder in Nordhessen, amerikanische Zone. Der Güterzug mit uns Vertriebenen hielt, die Waggons wurden geöffnet, die Männer und Frauen kletterten heraus, hoben die Kinder und Alten herunter und luden das Gepäck aus. Es war ein ziemliches Durcheinander mit viel Lärm und Geschrei. Männer mit Listen, auf denen die Namen der Angekommenen aufgeführt waren, riefen die Vertriebenen zu Gruppen zusammen, um sie in die für sie vorgesehenen Dörfer zu bringen. Selbstverständlich wollten die Familien zusammenbleiben und machten sich lautstark bemerkbar. Ob es deswegen aber zu Korrekturen der Listen gekommen ist, weiß ich nicht. Erinnerlich ist mir aber, dass wir auf Armeelastwagen der US-Armee aufgeladen und dann in das für uns vorgesehene Dorf transportiert wurden. Wie die meisten der Ankömmlinge sah ich zum ersten Mal einen Farbigen, „an Neege“, wie es in unserem Dialekt heißt. Ein solcher packte mich, hob mich über seinen Kopf hoch, lachte mich von unten freundlich an und setzte mich auf dem Laster ab. Dieses freundliche, lachende Gesicht des jungen Mannes sehe ich heute noch vor mir, wenn ich an die Ankunft in Allendorf denke.

Berghofen

Die Fahrt dauerte nur etwa eine halbe Stunde. Dann langten die Lastwagen in Berghofen auf dem Dorfplatz vor der Kirche an. In der Mitte stand/steht eine sehr alte Eiche. Hier wiederholten sich die Vorgänge von Allendorf in umgekehrter Richtung. Wir wurden abgeladen. Ein Teil der Lastwagen hielt auf dem Schulhof. Wir standen auf dem Platz herum und warteten. Wohin würden die Familien kommen? Da trat einer er Dorfbewohner vor und sagte: „Guten Tag, liebe Landsleute. Ich heiße Sie herzlich willkommen in der neuen Heimat. Mein Name ist Karl Siebott. Ich bin Sozialdemokrat.“ Viele haben mir diese Erinnerung bereits abgesprochen, aber es ist meine Erinnerung, auch wenn ich sie damals natürlich noch nicht verstanden habe. Sie entsprach auch nicht dem, was uns in dem vor Kurzem noch von Nazis dominierten Bauerndorf erwartete. „Herzlich willkommen“ waren wir durchaus nicht.

Die Ankömmlinge wurden zunächst entlaust und bekamen etwas zu essen. Die erste Nacht verbrachten sie entweder in der Schule oder im Gemeindesaal. Wir waren im Gemeindesaal untergebracht. Unsere Tante Resi, damals etwa 19 Jahre alt, erzählte mir, wie es am anderen Morgen weiterging. Wir wurden auf die einheimischen Familien aufgeteilt. Die Listen der Aufzunehmenden enthielten jeweils die Anzahl der möglichen Personen. Also z. B.: Familie Schäfer, 4 Personen, Familie Röse, 3 Personen etc. Entsprechend meldeten sich von den vertriebenen Familien die mit der möglichen Personenzahl. Unser Großvater schwieg. Als seine Frau und seine Töchter drängten, sich doch endlich zu melden, habe er geantwortet: „Seid still!“ („Säds staad!“). Dadurch sei es gekommen, dass seine Familie ins letzte Haus des Dorfes Richtung Laisa gekommen sei, zu „Overferschters“, so der Hausname der aufnehmenden „Oberförsters“. Mit einem Oberförster hatten die aber nichts zu tun. Es war der Hausname, und der wurde im Dorf verwendet, auch wenn die Familie Schäfer oder Schneider oder Müller hieß. Wir wurden von unseren Großeltern getrennt.

Bei Hanneses

Unsere Mutter kam mit uns beiden Kindern zu einer Familie Wirth, den „Hanneses“, am Ausgang der Straße nach Battenberg, also ziemlich weit entfernt von den Großeltern. Das bedeutete, dass der Besuch dieser Großeltern für meinen Bruder und mich, fünf und 4 1/4 Jahre alt, immer eine mit Angst besetzte lange Reise war. Mehr als alles andere fürchteten wir den bellenden Hofhund dort, obwohl er angebunden war.

Unser Zimmer lag im ersten Stock. Zwei Fenster des Zimmers gingen zur Straße hin und eines zum Hof. Im Zimmer gab es ein Bett, einen Ofen, einen Tisch und zwei Stühle, vermutlich war auch ein Schrank vorhanden. Der Sohn der Familie, Otto, hatte ein Holzbein. An eine Hausfrau habe ich überhaupt keine Erinnerung. Vielleicht war sie schon gestorben. Eine etwas zurückgebliebene rundliche Tochter, Trinchen, von etwa 25 bis 30 Jahren, besorgte den Haushalt der Familie Wirth. Das erste Erlebnis in dieser Wohnung, an das ich mich erinnere, war das Erscheinen des „Nigrinmannes“. Ich stand am offenen Fenster im ersten Stock und sah auf die Straße hinaus. Plötzlich tauchte unmittelbar vor mir ein schwarzer Mann mit Zylinder auf und sagte: „In Berlin und um Berlin putzt man nur mit Nigerin.“ Er gab mir ein Döschen mit Schuhwichse und ging weiter. Sehr lange Beine hatte er, worüber ich mich sehr wunderte. Später verstand ich dann, dass er auf Stelzen gegangen war und eine Hose mit verlängerten Beinen trug.

Er kam mit dem Fahrrad

Im Frühjahr 1947 tauchte ein hagerer Mann mit Fahrrad unten im Hof auf. Er trug eine Schildmütze auf dem Kopf. Meine Mutter sagte: „Deijs is einge Fode!“ („Das ist euer Vater!“) An mehr erinnere ich mich zunächst nicht. Er verschwand auch bald wieder. Im Herbst 1947 ist er wiedergekommen. Er blieb dann bei uns. Mitgebracht hatte er eine mit Leder bezogene Reitgerte, das „Staverl“. Es wurde sein bevorzugter Erziehungsgegenstand, wie wir Kinder später schmerzlich erfahren sollten. Der Vater und der Bruder warfen unserem Vater vor, er solle das zurückgebliebene „Trienchen“ geschwängert haben, was er vehement leugnete. Sie brachte ein totes Kind zur Welt. Das änderte nichts an den Spannungen. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen mit den Wirtsleuten. Auf Dauer konnten wir in solchen Verhältnissen nicht wohnen.

Neues Leben

Ein weiteres Kind kam zur Welt: Maria, unsere Schwester. Im Mai 1948 lag unsere Mutter im Bett. Eines Abends mussten wir zu den Großeltern, um dort zu schlafen. Am anderen Morgen, es war der 30. August, sagten uns meine Tanten, die noch bei ihren Eltern lebten, wir hätten ein Schwesterchen bekommen Wir sollten nach Hause gehen und es uns ansehen. Mein Bruder und ich hatten ziemlich Angst davor. Wir drückten uns bei einem Schuppen im Feld herum und trauten uns nicht nach Hause. Mein Vater muss uns dort gefunden und heimgebracht haben. Als wir in das Zimmer kamen, saß unsere Mutter im Bett. Neben ihr in dicke Polster versenkt lag ein schönes kleines Mädchen mit schwarzen Haaren und dunklen Augen und sah uns neugierig an. Es wurde später auf den Namen Maria getauft. Wir hätten uns nicht fürchten müssen, es war gar nicht so schlimm gewesen. Künftig waren wir Kinder also zu dritt. Die kleine Maria war sieben bzw. sechs Jahre jünger als mein Bruder und ich. Zunächst freuten wir uns über diesen unerwarteten Zuwachs. Wir gewannen unsere Schwester lieb und verwöhnten sie, so gut wir konnten Sie sollte uns später manches Mal beschwerlich werden, wenn wir auf sie aufpassen und unsere freie Zeit dafür aufbringen mussten.

Tod

In diesem Alter begegnete ich erstmals dem Sterben. Im Hof des Nachbarhauses wurde ein Kalb geschlachtet. Es war mit einem Bolzenschlag ins Gehirn betäubt worden und wurde danach auf einen massiven Holztisch gelegt. Der Schlachterschnitt ihm die Halsschlagader auf, aus der das Blut in Stößen herauskam. Das Tier lebte also noch. Ich stand an seinem Kopfende und sah ihm in die Augen. Heute noch sehe ich den zutiefst leidenden, fragenden Ausdruck in ihnen. Sie erloschen zusehends. Voller Mitleid mit dem armen Tier, sah ich dem weiteren Vorgang zu. Würden wir auch so geschlachtet werden? Nachdem die Haut abgezogen war, öffnete der Schlachter das Kalb und entfernte die Eingeweide. Als er die Brust öffnete und das Herz und die Lunge herausnahm, quoll ein hellroter Blutschaum daraus hervor. Ich empfand das als sehr langsam. Es geschah quasi in Zeitlupe, bis sich schließlich ein regelrechter Schaumberg gebildet hatte. Damals nahm ich an, dass das Tier immer noch lebte und sah dem Anwachsen des Schaumberges gebannt zu. Ich sehe diesen Vorgang noch heute sehr deutlich. Das Zusehen und Helfen beim Schlachten von Tieren sollten im Laufe meiner weiteren Kindheit für mich zur Routine werden. Es verlor allmählich das Beklemmende und Bedrohliche.

Kaninchen

Eine sehr lebhafte Erinnerung an die Wohnung bei „Hanneses“ ist folgende: Unser Vater, der, wie gesagt, im Herbst 1947 zu seiner Familie zurückkam, hatte auf dem Hof Kaninchenställe gebaut und mein Bruder Lorenz, der „Leinzi“, und ich mussten Futter heranschaffen und die Tiere füttern, dreimal am Tag. Das Futter zu besorgen, war nicht einfach. Auf die Felder der Bauern durften wir nicht, klar. Es blieben also nur die Wegränder. Die waren aber von einigen Kleinbauern gepachtet, was wir zunächst nicht wussten. Entdeckte man uns dabei, wie wir Gras rupften und in unsere Säcke steckten, wurden wir verjagt. Wir waren daher sehr vorsichtig und vermieden es, uns noch einmal erwischen zu lassen. Aber das konnte nicht ausbleiben. Wir mussten wohl oder übel unser Hasenfutter von diesen Weg- und Straßenrändern holen. Als wir eines Tages im Sommer wieder fleißig Gras rupften, verspürte ich über beide nackte Oberschenkel einen brennenden Schmerz. Ich fuhr auf und sah den alten „Käsaasch“, einen Kleinbauern mit vielen Kindern, mit der Peitsche in der Hand drohend vor mir stehen. Er beschimpfte uns als „Lausejungen“, nahm uns die Säcke ab und schüttete unser mühsam gerupftes Gras aus. Wir sollten es nicht wagen, noch einmal etwas von seinem Gras zu stehlen. Wir waren sechs und sieben Jahre alt und schworen uns Rache.

In den „besten Zeiten“ hatten mein Bruder und ich 76 Kaninchen zu versorgen. Entsprechend oft kam auch Kaninchenfleisch auf den Tisch. An vielen Wochenenden im Jahr gab es entweder Hasenbraten, die Kaninchen hießen bei uns Hasen, „Hosn“, oder Hasenpaprikasch, das waren Hasenteile in Paprikarahmsoße. Dazu gab es Nockerln oder Nudeln mit Salat oder eine Beilage, „Zue­speis“, aus gekochtem Gemüse. Auch die Suppe wurde in dieser Zeit sehr häufig mit Hasenfleisch hergestellt. Sie schmeckte immer etwas süßlich. Für uns Kinder war der Kopf interessant, der mitgekocht wurde, wobei die Nase allerdings vorher abgehackt wurde. Der Knochen des Kopfes war durch das Kochen sehr mürbe geworden, sodass wir ihn mit den Zähnen aufbeißen konnten. Das taten wir auch, bissen den Knochen dort ab, wo das Gehirn des Tieres saß, und holten es uns als eine Delikatesse heraus. Auch die Zunge war begehrt. Das mag heute ein wenig barbarisch klingen, aber es war so. Es war für uns Kinder selbstverständlich, dass die Hasen geschlachtet werden mussten. Zu diesem Zweck wurden sie doch gehalten und gefüttert. Wir waren von Anfang an Zuschauer beim Schlachten. Wenige Jahre später mussten wir es dann selbst machen. Schauerlich war es, wenn nachts ein Marder oder Fuchs oder auch ein streunender Hund in einen Stall eingedrungen war und ein Tier tötete. Gar manche Nacht hörte ich den lang gezogenen Todesschrei des Hasen und erschauerte in meinem Bett, das ich im Übrigen bis etwa zu meinem 14. Lebensjahr mit meinem Bruder teilen musste.

Tabak

Ich erinnere mich, dass wir Kinder helfen mussten, Tabak zu schneiden. Dazu gab es ein spezielles Schneidegerät. Der Tabak wurde auf eine kleine Schneidebank gelegt und mit dem an einem Hebel befestigten Messer in feine Streifen geschnitten. Beim „Feinschnitt“ wurden zuvor die Rippen aus den Blättern entfernt und die Schneidebreite war besonders fein eingestellt. Dieser Tabak wurde zu Zigaretten verarbeitet. Beim „Krüllschnitt“ blieben die Blattrippen in den Tabakblättern, und die Blätter wurden in etwas breitere Streifen geschnitten. So wurde der Pfeifentabak hergestellt. Es gab einige Fläschchen mit Aromen, die dem Tabak beigemischt wurden, um verschiedene Sorten zu erzeugen. Unsere Eltern drehten mit einer kleinen Maschine Zigaretten, eine damals sehr begehrte Tauschware. Der Tabak wurde in kleinen Packungen aus Zeitungspapier verkauft. Wo aber kam der Tabak her? Bald erfuhren wir es.

Unsere Großmutter fuhr zusammen mit unserer Mutter mit dem Zug nach Baden, wo der Tabak wuchs. Die Entfernung betrug etwa zweihundert Kilometer. Entsprechend lange waren sie bei den damaligen Verkehrsverhältnissen unterwegs. Sie fuhren in den bekannten überfüllten Eisenbahnzügen und übernachteten auf den Bahnhöfen. In Bruchsal und Umgebung, wohnten Verwandte von uns, die dorthin mit dem zweiten Transport aus Perbál hingekommen waren. Was die beiden Frauen zum Tauschen mit hatten, ist mir nicht so genau bekannt. Seit unser Vater wieder bei uns lebte, waren die Grundlage der Transaktionen sicher „Amizigaretten“, „Camel“ und „Lucky Strike“, die mein Vater aus München mitgebracht hatte, und die er vielleicht noch immer von dort bekam. Für diese Zigaretten konnte man auf dem „Schwarzmarkt“ alles eintauschen, was sich zum Tauschen eignete. Öle und Fette waren besonders begehrt. Anfangs wurde sicher auch von dem Schmalz etwas zum Tausch genommen, das meine Großeltern und meine Mutter aus Ungarn heraus geschmuggelt hatten. In der Familie hörten wir Kinder, dass auch gebratenes Fleisch in Töpfen oder Eimern versteckt war und mit flüssigem Schmalz zugegossen wurde, um es vor dem Versderben zu schützen. Schweineschmalz hatten wir zunächst also noch. Alle Beteiligten lebten bei solchen Tauschfahrten in ständiger Angst vor Polizei- und Militärrazzien. Ich habe im Kapitel von meiner Kopp-Großmutter über eine solche Razzia im Hauptbahnhof von Frankfurt berichtet (s. oben). Unser Vater hat sehr bald nach seiner Rückkehr zu seiner Familie auch Schnaps gebrannt, der ebenfalls eine sehr begehrte Tauschware war. Die Brennanlage war ebenfalls in unserem einzigen Zimmer. Sie war so geschickt getarnt, dass sie bei einer möglichen Razzia durch die Polizei nicht leicht entdeckt werden konnte. Am wichtigsten war dabei die Verlegung des Ausflussröhrchens unter der Tapete des Zimmers. Es endete gut versteckt in einer Ecke hinter dem Kinderbett. Der Geruch war aber allgegenwärtig.

Öl und Wolle

Auch Speiseöl war ein begehrtes Tauschmittel. Eine Möglichkeit, um an Öl zu kommen, war das Sammeln von Bucheckern. Für eine bestimmte Menge Bucheckern bekam man in der Ölmühle in Frankenberg eine bestimmte Menge Öl. Frauen und Kinder gingen in den Wald, Bucheckern zu sammeln, wenn sie im September reif wurden und zu Boden fielen. Ihren Ertrag brachten sie zur Mühle. Das Sammeln war keine Arbeit für Männer. Wer von diesen Kerlen wollte sich schon stundenlang bücken und diese kleinen dreieckigen Früchte einzeln vom Boden aufzuheben. Das war „Weiberarbeit“ und etwas für Kinder. Wie diese Männer Bucheckern sammelten, habe ich im Kapitel „Männer“ geschildert (s. dort)

In der Kreisstadt gab es auch eine Wollmühle. Dort konnte man alte, auch zerrissene Kleidungsstücke gegen Wolle eintauschen. Wie die Tauschrelationen waren, weiß ich nicht.

Lange Strümpfe

Ich weiß aber sehr gut, dass unsere Mutter uns aus dieser Wolle Handschuhe und Strümpfe strickte. Lange Strümpfe, die bis über die Oberschenkel reichten und an einem Strumpfhalter festgemacht wurden, waren mir sehr verhasst. Sie kratzten fürchterlich, aber unsere Mutter bestand darauf, dass wir sie trugen. Schlimm war es für uns Kinder auch, dass sie überhaupt nicht warmhielten. Der scharfe Wind im Winter blies einfach durch sie hindurch und wir hatten eiskalte Beine. Warum sie uns keine langen Hosen kaufte, weiß ich bis heute nicht. Vermutlich reichte das Geld wieder einmal nicht. Es hat viele Szenen des Widerstandes gegeben, bis sie schließlich darauf verzichtete, uns zum Tragen dieser Strümpfe zu zwingen.

Mit Schaudern erinnere ich mich daran, wie ich mit diesen Strümpfen in Halbschuhen, am oberen Ende der Schlittenbahn am „Schoppenrain“ stand und völlig durchgefroren darauf wartete, bis ich mal auf dem einen Schlitten, den mein Bruder und ich besaßen, mitfahren konnte, oder dass mich mal einer der Dorfjungen mitfahren ließ. Ich musste dann vorne sitzen und konnte keinen Einfluss auf die Fahrt nehmen. Wenn es zum Sturz kam, fiel der andere auf mich drauf und ich wurde doppelt geschädigt. Eine andere Möglichkeit war, dass mein Bruder auf dem Bauch liegend fuhr, und ich mich auf die Kufen des Schlittens stellen durfte, um so, halb stehend, halb sitzend, den Berg hinunterzusausen. Wenn wir umkippten, flog ich durch die Luft und landete umso schmerzhafter auf dem gefrorenen Boden. Dennoch war mir das lieber als das ewige Warten, und es hat letztlich auch Spaß gemacht.

Eine richtige Freude war es, wenn ich allein auf dem Bauch liegend den Berg hinuntersausen konnte. Ich ließ den Schlitten so weit wie nur möglich auslaufen und bremste erst ab, als die Asphaltstraße vor mir auftauchte und Gefahr bestand, dass ich unter ein Fahrzeug kommen konnte. Das Schlimmste waren letztlich nicht die Kälte und das Warten-Müssen, sondern das demütigende Gefühl, nicht wie die anderen mitmachen zu können, nicht dabei zu sein, am Rand zu stehen und zu frieren. Allerdings: Die Kälte war bei dem bewegungslosen Herumstehen quälend und hinterließ bleibende Spuren. Kalte Füße und Knie begleiten mich bis heute.

Ein freundlicher Müller

Die Getreidemühle in Rennertehausen spielte im Leben unserer Familie eine wichtige Rolle. Nicht weit von der dortigen Ederbrücke gelegen, wurde sie vom Wasser des Mühlgrabens angetrieben, der weiter oberhalb von der Eder abgeleitet war. Das große Mühlrad reichte etwa einen halben Meter ins fließende Wasser hinein und wurde so bewegt. Wir brachten Roggen zur Mühle und erhielten vom Müller Mehl und Schrot in vorgegebenen Mengen zurück. Das Mehl war aus Weizen gemahlen. Meine Mutter verwendete nur dieses „Auszugsmehl 605“ zum Backen und Kochen. Roggenmehl benutzte sie nicht, nur den Roggenschrot, der wurde als Schweinefutter den gekochten Kartoffeln beigegeben.

Der Müller war ein lustiger, kinderfreundlicher Mann. Er stand allgemein zwar im Verdacht, dass er beim Mahlen für sich etwas abzweigte. Dieser Verdacht begleitete die Müller aber, seitdem es Mühlen gab. Für uns Kinder spielte das keine Rolle. Für uns hatte der Müller immer ein wenig Zeit, wenn er uns das Mehl brachte. Er erzählte spannende Geschichten und demonstrierte uns seine Beweglichkeit. Dabei stellte er sich mit den Füßen auf die erste Stufe der Treppe zum Hauseingang und beugte sich so weit nach unten, dass er mit den flachen Händen den Boden berührte. Er forderte uns auf, es ihm gleichzutun, aber wir schafften das nicht.

Wenn wir Kinder zur Mühle kamen, durften wir zusehen, wie das Mehl gemahlen wurde. Der Müller war stolz auf seine Mühle und erklärte uns, was da alles passierte. Es war ein imponierender Vorgang, wie das Mühlrad über eine gut gelagerte, dicke Holzwelle die riesige Maschinerie in Gang setzte. Überall ächzte, knarrte, knatterte und ratterte es. Ununterbrochener, aber nicht zu starker Lärm entstand, wenn sich das Getreide, über drei Etagen von oben nach unten fallend, schließlich in Mehl verwandelte. Es wurde gerüttelt und geschüttelt, auf Rutschen befördert, über verschiedene Wege geleitet und auf diversen Mühlsteinen feiner und feiner gemahlen. Der grobe Schrot wurde abgeleitet und das fertige Mehl fiel schließlich in einen großen Jutesack. Wenn er voll war, schloss der Müller einen Schieber und stoppte den Mehlfluss. Dann band er den Sack zu und befestigte den nächsten – und der Vorgang wiederholte sich.

Wenn die Getreidesorte wechselte, ließ er schmalen Schächte, durch die das Mehl herunterkam, zuerst völlig leer laufen. Dann änderte er einige Einstellungen, schüttete anderes Getreide oben in den Mahltrichter und ließ das Mahlwerk wieder anlaufen. Der Vorgang wiederholte sich. Am Ende hielt er die Mühle an.

Über und über mit Mehlstaub bedeckt stand dieser lachende Mann vor uns und klopfte sich den weißen Puder von den Kleidern und aus den Haaren. „Ihr habt sicher Durst bekommen“, sagte er und gab uns Wasser oder einen Saft zu trinken. Angenehm unterschied er sich von unseren manchmal recht „bissigen“ Dörflern. Er gehörte zu den wenigen Menschen, die uns nicht spüren ließen, dass wir – wie anfangs für viele andere – unwillkommene ungarische „Zigeuner“ waren, die für alle Untaten im Dorf verantwortlich gemacht und entsprechend behandelt wurden.

Der Mann an der Esse

Einer, der eine ähnliche Haltung einnahm, war der Schmied des Dorfes. Als ich eines Tages etwas scheu und verlegen auf seinem Hof stand, winkte er mir zu und rief mich herein. Die Schmiede war ein rußschwarzer, nicht allzu großer Raum. Auf der Esse brannten Kohlen mit bläulichen Flammen, ein Stück Eisen steckte rotglühend darin. In dem Raum war es warm, es roch nach Kohlenrauch und Ruß. Der kräftige Mann nahm das glühende Eisen mit einer Zange aus dem Feuer und legte es auf den Amboss. Mit kräftigen Schlägen formte er das Eisen, von dem ab und zu glühende Teilchen wegsprangen. Als es nicht mehr heiß genug war, steckte er es wieder in das Feuer und blies die Glut mit einem riesigen Blasebalg wieder an. Fasziniert von der Kraft des Feuers und des kräftigen Mannes, der so gut damit umzugehen verstand, sah ich ihm mit großen Augen bei seiner Arbeit zu. „Schmiede das Eisen, solange es glüht“, sagte er mit strahlenden Augen, die aus seinem schwarzen Gesicht hervorleuchteten. Er fragte mich dann, wer ich sei, und ich sagte ihm meinen Namen. Ob es mir hier in der Schmiede gefalle, fragte er weiter. Als ich das mit heftigem Kopfnicken bejahte, lud er mich ein, wieder zu ihm in die Schmiede zu kommen, wann immer ich dazu Lust hätte. Das tat ich dann auch. Immer wieder staunte ich, wie er aus einem geraden Eisenstab schöne gebogene Teile für die verschiedensten Zwecke formte. Seine Auftraggeber waren die Bauern oder Handwerker des Dorfes, die ein gebrochenes oder verschlissenes Teil oder Werkzeug nachmachen ließen.

Er stellte auch Hufeisen auf Vorrat her, für Pferde und für Kühe. Dass Pferde beschlagen wurden, wusste ich schon. Dass aber auch Kühe eiserne Schuhe bekamen, war mir neu. Das lag daran, dass es im Dorf nur wenige Pferde und nur einen Traktor gab, und dass die kleinen Bauern Kühe als Zugvieh einsetzten. Als Paarhufer bekamen sie andere Hufeisen als Pferde. Es waren nierenförmige flache Eisen, die vorne mit Nägeln und hinten mit einer umgebogenen Lasche an den Hufen der Tiere befestigt wurden. Für mich war es immer aufregend, beim Beschlagen der Tiere zuzusehen. Es wunderte mich sehr, dass die Tiere offenbar keinen Schmerz empfanden, wenn ihnen das heiße Eisen angepasst wurde, zischend stinkender Dampf aufstieg und Nägel in den Huf eingeschlagen wurden. Hatten die denn keine Schmerzen?

Als ich den Schmied einmal danach fragte er, lächelte er nur: „Die haben kein Gefühl im Huf. Hufe sind aus Horn wie auch ihre Hörner oder deine Fingernägel. Es tut ja auch nicht weh, wenn deine Mutter sie dir schneidet.“ Was das Letztere angeht, so hatte meine Mutter kaum Gelegenheit dazu, denn ich kaute in meiner Kindheit heftig an meinen Fingernägeln. Später, als sich unsere Maria mit der Tochter des Schmiedes befreundete, war ich oft in seinem Haus und in der Schmiede, wo man mir stets freundlich begegnete. Wichtig war auch, dass ich dort erfahren konnte, wie ein liebevoller Umgang in einer Familie aussah. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie uns für unwillkommene Eindringlinge hielt. Auch der Schmied hatte Vertriebene aufgenommen, an die ich aber keine Erinnerung mehr habe. Die abwertende Bemerkung „ungarische Zigeuner“ habe ich in der Familie des Schmieds nicht gehört. Auch das bei einigen im Dorf betont zur Schau gestellte Mitleid mit uns „armen Kindern“, das nicht weniger verletzend und demütigend war, kannten sie nicht.

Zigeuner

Echte „Zigeuner“ traf ich eines Tages in Rennertehausen nicht weit von der Mühle entfernt, unterhalb der Brücke über die Eder. Dort befand sich auf der Wiese eine Ansammlung von Wagen und Pferden, die einen Kreis auf einem Rasenplatz bildeten. In der Mitte brannte ein großes Feuer, um das vor allem Frauen und Kinder und ein paar ältere Männer gruppiert waren. Es waren viel Kinder jeglichen Alters, die herumrannten, aber auch zwei, drei Babys, die an der Brust ihrer jungen Mütter gestillt wurden. Ich betrachtete das Treiben fasziniert vom Brückengeländer aus. Das erregte die Aufmerksamkeit der Menschen in dem kleinen Lager, und sie riefen mich zu sich herunter. Ängstlich näherte ich mich, doch sie forderten mich auf, keine Angst zu haben und nur herbeizukommen. Dann war ich mitten unter ihnen. Sie fragten mich, wo ich herkäme. Vom Nachbardorf. Aber dort sei ich doch nicht geboren, meinte eine der älteren Frauen. Nein, ich sei in Ungarn geboren. Da freuten sie sich. Auch sie seien ursprünglich von dort. Schnell sprach es sich herum, dass hier ein „Landsmann“ von ihnen gekommen war. Das machte uns miteinander vertraut. Sie erzählten viel von sich, auch dass die Männer in den Dörfern der Umgebung Teppiche und andere Sachen zum Verkauf anboten und erst am Abend in das Lager zurückkämen. Dann luden sie mich ein, mit ihnen zu essen. Ich weiß nicht mehr, was es gab. Eine wohlschmeckende Delikatesse gäbe es heute leider nicht: im Feuer gebratene Igel. Das werde so zubereitet, sagt die ältere Frau, dass dem Igel die Eingeweide herausgenommen werden. Dann werde er gesalzen und gewürzt und völlig in Lehm verpackt. Diese Lehmkugel werde in der heißen Asche des Feuers gebraten. Wenn das Tier gar sei, werde die Verpackung vorsichtig aufgebrochen, wobei alle Stacheln im Lehm stecken blieben. Das Fleisch schmecke hervorragend. Nach dem Essen machten die älteren Männer Musik und alle übrigen tanzten und sangen eine Weile. Es war für mich ein sehr beeindruckendes Erlebnis. Nur zögernd verabschiedete ich mich mit dem Hinweis, dass ich jetzt nach Hause gehen müsse. Sie luden mich ein. Ich solle mit meiner Familie wiederkommen. Meine Eltern weigerten sich, und meine Mutter schimpfte mich aus. In Ungarn habe man sich erzählt, dass die Zigeuner28 auch „weiße Kinder“ stehlen und sie nach Amerika verkaufen. Ich solle ja nicht noch einmal hingehen. „Willst du vielleicht nach Amerika verkauft werden?“