Loe raamatut: «Wenn Schattenmächte weichen», lehekülg 2

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Wo gehst du nicht hin?“ Die Hasenohren stellten sich neugierig nach vorne.

„Ich gehe nicht ins Dorf.“ Milas Bauch zog sich zusammen, wenn sie nur schon daran dachte. Die Menschen, Egon, der Zwerg.

Bamper nickte eifrig. „Gut. Sehr gut. Da sollst du auch nicht hin. Keinesfalls. Das wäre schrecklich, fürchterlich, kaum auszudenken wäre das, wenn du zu den Menschen gehen würdest. Sie sind die Allerschlimmsten!“

Mila räusperte sich. „Darf ich dich darauf aufmerksam machen, dass ich auch ein Mensch bin?“

„Du doch nicht.“

Mila lachte und breitete die Arme aus. „Ich bin ein Mensch!“

„Ich meine, du bist doch nicht gefährlich.“

„Woher willst du das wissen? Du kennst mich gar nicht.“

Der Hase hoppelte einen Schritt aus seiner Deckung hervor und sah Mila ernst an. „Das erkenne ich sofort. Du hast ein gutes Herz.“

„Bamper, du bist so süß!“

Der Hase holte empört Luft.

Schnell warf Mila ein: „Verzeih, ich meinte, goldig … nein, herz... – einfach charmant. So, wie es sich für einen stattlichen Hasenmann gehört.“

„Natürlich“, nickte der Hase. „Genau das bin ich. Und du bist sehr schlau, weil du nicht zu den Menschen gehst.“

„Eigentlich muss ich ins Dorf gehen.“ Mila senkte den Blick.

„Dann bist du dumm“, stieß Bamper aus. „Menschen sind schrecklich.“

„Ja …“

Mila sah wieder den rotbärtigen Egon vor sich. Seine Sklavin auf Lebzeiten, wenn herauskäme, dass Oma tot war. Doch innerlich hörte sie die Drohung des Zwerges. Bis Sonnenuntergang bringst du deine Waren in meinen Laden. Ich weiß, wo du wohnst. Mila schauderte.

„… aber ich muss gehen.“

„Weshalb?“

„Weil der Zwerg sonst zurückkommt und etwas entdeckt. Dann bin ich … verloren.“

„Versteck dich im Haselstrauch.“

„Ach, Bamper.“ Mila schüttelte den Kopf. „Das hilft nichts.“

„Dann fliehe. Es gibt noch andere Wälder.“

„Du kennst doch die Menschen. Eine junge Frau ist Freiwild. Nur wenn ich wie Oma bin, eine Heilerin, bin ich hier sicher. Und nur hier in Rielau.“

Der Hase machte einen Hüpfer auf sie zu. „Was kann der Zwerg denn Schlimmes entdecken?“

„Das …“, Mila spürte, wie Tränen in den Hals hinaufkrochen, „… ist ein Geheimnis.“

„Verstehe.“ Bamper blickte nach unten. Dann schüttelte er den Kopf. „Das ist nicht gut.“

„Was?“ Mila schluckte.

„Ich mag Geheimnisse nur, wenn ich sie kenne.“ Bampers Augen sahen sie ernst an.

In Mila tobte es. Sie konnte es ihm nicht sagen. Es war zu gefährlich. Er konnte sprechen. Er konnte es ausplaudern. Die Tränen stiegen bis zu ihrer Nase. „Ich kann dir nicht davon erzählen.“

Bamper nickte. „Und was sagt deine Oma, die Heilerin, dazu? Sie will bestimmt nicht, dass du zu den Menschen gehst.“

Nun stiegen die Tränen bis zu den Augen. Mila blinzelte. „Ich weiß nicht, was sie will.“

Wie gerne würde sie Oma um Rat fragen. Wie gerne würde sie in ein Haus kommen, in dem Oma sie erwartete. Der Duft nach warmem Kräutertee. Sie würde Oma ihr ganzes Herz ausschütten. Würde in das Gesicht mit den wunderschönen Falten schauen und würde verstanden werden. Ja, Oma würde sie verstehen. Doch da war keine Oma zuhause. Kein freundliches Gesicht. Kein warmer Kräutertee. Mila erwartete eine leere Hütte. Vollgestopft mit Fragen, was sie tun sollte.

Nun wollten die Tränen endgültig herausbrechen. Direkt vor Bamper. „Ich muss gehen.“ Schnell drehte Mila sich um und wischte sich mit einer fahrigen Bewegung über die Augen. Der Hase sollte sie so nicht sehen.

„Aber du wirst nicht zu den Menschen gehen, versprochen?“ Ein Zittern klang in Bampers Stimme.

„Ich … ja … nein … ich kann nicht!“

Sie konnte nicht darüber reden und sie konnte auch nicht bleiben.

Mila rannte los. Weg von dem Hasen. Er verstand einfach nicht. Mila wusste selbst nicht was sie machen sollte. Was, um Himmels Willen, sollte sie bloß tun? Keine Oma. Da war nur Mila, Mila, Mila.

Sie erreichte ihre Hütte, riss die Tür auf und stürzte ins Innere. Kaltes Nichts schlug ihr entgegen. Ein Sturm von Fragen preschte auf sie ein.

„Ich kann nicht“, schrie sie in die Stille. „Ich kann einfach nicht!“

Vor ihr stand ein Regal, in dem die schönsten Tinkturen und Salben standen. Fein säuberlich aufgereiht. Kräuterbündel hingen von der Decke. Mila hatte nie aufgehört, womit Oma begonnen hatte.

Zwei grüne Flaschen standen vor Mila auf dem Regalbrett nebeneinander. Weidenrindentinktur. Die Leute übertrieben es, wenn sie es Lebenselixier nannten, doch es war gut gegen das böse Fieber, Schmerzen und eitrige Wunden. Und die Herstellung war aufwändig. Beide Flaschen hockten da und reckten sich in die Höhe wie Hasenohren.

„Verstehst du, Bamper?“, schrie Mila sie an. „Ich kann nicht hingehen. Ich kann einfach nicht. Ich kann auch nicht hierbleiben, sonst deckt Ignaz alles auf. Der Rote Egon ist schrecklich, weißt du? Er ist der Mann meiner verstorbenen Tante. Auch seine zweite Frau ist gestorben. Bei der Geburt des fünften Mädchens. Die älteren Mädchen, Jutta und Lilly, waren gerade erst fünf und vier Jahre. Egon hat sie angeschrien, sie sollen nicht um ihre Mutter flennen, sondern aufs Feld gehen und arbeiten. So einer ist das, Bamper. Und Egon hat schon einen Mündel. Radomil. Ein bisschen älter als ich. Als ich noch im Dorf gelebt habe, haben wir zusammen gespielt.

Aber Radomil ist nicht frei. Er ist erwachsen, aber er ist nicht frei, Bamper. Er ist ein Sklave, Sklave, Sklave! Weil Egon ihn nicht in den Kreis der Erwachsenen aufnimmt. So einfach ist das. Er lässt das Ritual weg, durch das Radomil als erwachsen gelten würde. So muss er weiter für Egon schuften.

Bamper, zum Donnerwetter nochmal!“ Sie fuhr mit den Fäusten durch die Luft. „Ich will keine Sklavin von Egon sein!“

Es hatte keinen Zweck. Es hatte überhaupt keinen Zweck. Sie konnte die Flaschen noch so anschreien, Bamper würde sie nicht hören. Mila warf ihre Hände energisch in die Luft und drehte sich um.

Es rumpelte. Ein Klirren durchzuckte das Haus. Mila wandte sich um. Eine der grünen Flaschen war auf den Boden gefallen und zerschellt. Langsam breitete sich eine braune Flüssigkeit auf den Holzdielen aus.

Mila biss sich auf die Lippen. Jetzt hatte sie nur noch eine Weidentinktur. Nur eine der Flaschen, die Kriemhild unbedingt haben wollte.

Mit einem Schnauben bückte sich Mila und sammelte geräuschvoll die Scherben ein. Sie begann die Brühe aufzuwischen. Bis unter das alte Regal in der Abstellecke war sie geflossen. Dort, wo der große Schmelztiegel stand. Seit Omas Tod hatte Mila ihn nicht mehr zur Hand genommen. Zum Schmelzen hatten sie ihn noch nie verwendet. Er hatte als Versteck für die spärlichen Münzen gedient die sie besessen hatten. Oma hatte ihn immer mit einem geheimnisvollen Lächeln geöffnet und einen Beutel herausgenommen, bevor sie ins Dorf gegangen waren.

Ein innerer Impuls ließ Mila den Schmelztiegel hervornehmen. Sie öffnete den Deckel und schaute hinein. Der Münzbeutel lag genauso da wie früher. In der Mitte des Bodens. Und da lag noch etwas. Hell und lang. Wie … Mila griff hinein. Eine Pergamentrolle. Ein rotes Band hielt sie zusammen. Mit einer fein säuberlichen Schlaufe zugebunden. So, wie nur Oma die Schlaufen machte.

Mila spürte ihren Herzschlag im Hals. Sie setzte sich auf den Boden. Mit zitternden Fingern löste sie die Schlaufe. Langsam entrollte sie das Pergament.

Oma. Sie würde diese Schrift aus tausend anderen erkennen. Es war die Schrift, deren feine Schwünge ihr vertrauter waren als der Wald. Die Schrift, mit der sie lesen gelernt hatte. Es war die Schrift von Omas Liebe. Sie musste schon sehr krank gewesen sein, als sie die Worte geschrieben hatte. Die Buchstaben rutschten auf den Linien auf und ab. An manchen Stellen war die Tinte verwischt. Das wäre Oma früher nie passiert. Mila hielt in ihren Händen eine Botschaft, die Oma in den letzten Tagen ihres Lebens geschrieben hatte. Eine Botschaft für sie. Kaum wagte sie zu atmen, als sie zu lesen begann.

Meine liebe Mila,

wenn du diese Zeilen liest, bin ich hinüber gegangen in das andere Reich. Und doch werden meine Gedanken und meine Kraft immer bei dir sein. Vergiss das nie.

Bestimmt hast du diese Nachricht gefunden, weil du ins Dorf gehst, um Waren einzutauschen. So, wie wir es immer gemacht haben. Das ist gut. Geh unter Menschen, liebe Mila. Rede mit ihnen, lache mit ihnen und tanze mit ihnen.

Doch sage niemandem, wo du wohnst und verrate keinem, dass ich gestorben bin. So lange, bis du 16 bist.

Nimm dich in Acht vor der Falschheit und vor den Schatten des Bösen. Sie werden zunehmen, mein Kind und ihre Kraft wird immer größer werden.

Wenn du jetzt ins Dorf gehst, geh zu den drei Buchen. Gehe zur Mittleren und achte auf eine krumme Wurzel. Darauf ist eine Kerbe eingeschnitzt. Unter der Kerbe befindet sich ein Schatz. Es ist ein Schatz, der dir Kraft verleihen wird. Der dich schützen wird gegen das Böse. Ein Schatz, den schon deine Mutter für dich versteckt hat. Weder mein Sohn noch ich haben ihn jemals berührt. Es ist dein Schatz. Nimm ihn an dich und trage ihn bei dir. Er dient zu deinem Schutz.

Wenn du das tust, mein liebes Kind, bevor du 16 Jahre bist, wird dir nichts geschehen. Dann habe ich keine Angst, denn ich weiß, dass du stark genug bist alles zu überwinden, was auf dich zukommen wird.

Und jetzt, mein liebes Kind, verbrenne dieses Pergament. Behalte die Worte in deinem Herzen. Und dann, kleine Mila, ab mit dir. Spring mit dem Wind, hüpfe im Regen und tanze im Licht.

Meine Liebe begleitet dich.

Deine Oma

Immer und immer wieder las Mila die Worte. Sie sah Omas gebückte Gestalt, während sie schrieb. Eine graue Haarsträhne hing ihr ins Gesicht und die Hand, die den Griffel hielt, zitterte. Falten zierten ihre Augenwinkel und ein geheimnisvolles Lächeln lag auf ihrem Mund. Oma.

Ein Tropfen landete auf dem Pergament und hinterließ einen nassen Fleck. Erst jetzt merkte Mila, dass sie weinte.

Spring mit dem Wind, hüpfe im Regen und tanze im Licht. Mila würde noch heute ins Dorf gehen. Einen Tag vor ihrem 16. Geburtstag. Sie würde zu den drei Buchen gehen und wenn niemand in der Nähe war, würde sie den Schatz ausgraben. Ihr Schutz. Im Dorf würde sie mit den Menschen reden, lachen. Sie würde Omas alte Freundin Hedwig besuchen. Wie früher. Die alte Hedwig im Schaukelstuhl. Und sie würde dem Zwerg sein Lebenselixier in den Laden bringen, mit einem Lächeln.

All das würde sie tun und die ganze Zeit über würde Oma bei ihr sein. Meine Liebe begleitet dich. „Ja, Oma“, flüsterte Mila und strich liebevoll über das Pergament, „deine Liebe kann mir niemand nehmen, auch nicht der Tod.“

Langsam stand Mila auf. Sie trat an den Kamin, entfachte ein Feuer und hielt das Pergament darüber. Sie sah zu, wie die Flammen gierig danach griffen und es zerfraßen. Das Pergament löste sich in einen Feuerwirbel auf. Asche segelte nach unten. Zerfiel in der Glut. Omas Liebe hingegen blieb tief und groß in ihrem Herzen.

Mila stand auf. Sie packte die grüne Flasche mit der Weidenrindentinktur, ein paar Salbentiegel und einige Kräuterbündel in ihren Korb. Sie griff nach Omas rotem Tuch und schlang es um ihre Schultern. Dann verließ sie die Hütte und machte sich auf den Weg ins Dorf.


Hier durch.“ Die Ratte sauste um die Ecke. Ignaz hatte Mühe mit dem Ungeziefer Schritt zu halten. Schon die ganze Zeit hetzte es über die Waldwege und nun durch die Gassen dieser toten Stadt. Die Straßen waren leergefegt. Nur der Wind blies um die Ecken. Wie diese Ratte.

Eigentlich betrat man Stiegard nicht. Eigentlich war diese Stadt verflucht, hieß es. Und eigentlich machten Dorfbewohner und Reisende einen großen Bogen um sie.

Doch heute nicht. Heute war der Tag vor der Wintersonnenwende. Heute kam die längste Nacht. Das Hoch der Dunkelheit. Es war die Nacht, in der die toten Mauern Stiegards mit Leben erfüllt werden würden. Denn dieser abgelegene Ort war der Ort, den die Windhexe sich für die diesjährige Versammlung ausgesucht hatte. Die große Versammlung mit all ihren Anhängern.

Wie sehr wünschte sich Ignaz dabei zu sein. Diese Macht zu spüren. Ein Teil davon zu werden. Diesmal würde es klappen. Ganz bestimmt.

„Beweg die Beine, du alter Sack.“ Die Ratte wuselte einmal um ihn herum.

„Blödes Vieh!“, keuchte er. Zwergenschritte waren feste Schritte. Nicht so ein Getrippel wie bei dem Nager. Doch Ignaz wusste, dass seine Schritte nicht fest, sondern todmüde waren. Zäh bewegten sie sich fort, wie die knorrigen Äste einer alten Eiche. Sein Herz blubberte vor Anstrengung und sein Atem pfiff wie ein Vögelchen. Gar nicht zwergenhaft.

Ignaz schnaubte. „Wer hatte diese blöde Idee“, grummelte er und schnappte nach Luft, „dass man die Hexe erst treffen muss“, ein Keuchen, „bevor man zur Versammlung kommen darf?“

„Du hast Glück, dass du sie hier treffen darfst und nicht bis zu ihrer Stadt nach Hagenort wandern musst.“

„Trotzdem. Eine dumme Idee.“

„Spar dir deine Puste, Alterchen. Komm mit, wir sind bald da.“

„Das sagst du schon seit einer Stunde. So kommen wir nie an und ich kann heute Abend nicht zur Versammlung.“

„Wir wären längst angekommen, wenn du nicht so langsam wärst.“

„Ich erschlage dich gleich!“ Wütend trat Ignaz in Richtung des dreckigen Fellknäuels. Die Ratte flitzte zwischen seinen Beinen hindurch. Ignaz schwankte. Hurtig machte er zwei Ausfallschritte und fing sich wieder auf. Meine Güte, das Vieh hätte ihn beinahe zu Fall gebracht.

Ein Kichern erklang hinter ihm. „Du solltest achtgeben, Opa. Wenn du mich erschlägst hast du niemanden mehr der dich zur Hexe bringt. Dann kannst du in deinem Laden hocken und warten bis du grau wirst. Ach“, fügte sie hinzu und kicherte erneut, „grau bist du ja schon.“

Das war zu viel. Mit einer blitzschnellen Bewegung holte Ignaz aus und packte das Tier am Hals. Er hob es in die Luft. Fett, grau und groß war diese Ratte. Doch jetzt zappelte sie mit ihren vier Beinchen hilflos herum.

„Unterschätze niemals einen Zwerg.“ Triumphierend sah er, wie die schwarzen Rattenaugen hervorquollen und das Vieh nach Luft schnappte.

„Hör mir zu, Nager. An deiner Stelle würde ich jetzt kein einziges Wort mehr sagen. Bring mich zur Hexe und zwar schnell. Sonst drehe ich dir das Genick um. Und glaube mir, bei meinem Zwergenbart, ich werde jemand anderen finden der mich zu Ludetta bringt. Hast du mich verstanden?“

Das Vieh japste noch immer.

Ignaz schüttelte es. „Verstanden?“

Ein Nicken ruckte durch den Rattenkopf.

„Gut“, knurrte Ignaz. „Das wäre geklärt.“

Er öffnete seine Hand, ließ das Tier zu Boden fallen und stellte mit Genugtuung fest, dass es hustete und sich den Hals rieb.

„Los, weiter. Und diesmal im Tempo eines wahren Zwerges.“ Er ließ seine Schritte auf den Boden donnern und stapfte der Ratte nach.

Es war tatsächlich nicht mehr weit bis zum Ziel. Schon sah Ignaz die Ruine. Wie schwarze Zahnstummel im Mund eines Greises ragten ihre Mauern in die Höhe. Rußgeschwärzt prangten sie vor dem grauen Himmel. Als warnendes Symbol des Untergangs einer Macht, einer ganzen Stadt. Passend für das Treffen mit einer Hexe. Ignaz straffte seine Schultern und stampfte die Füße auf den Boden. Kraftvoll marschierte er unter dem verkohlten Torbogen hindurch und überquerte den großen Hof. Hinein in das, was einst ein Saal gewesen war. Nun prangte der nackte Himmel über ihnen. Statt teuren Teppichen klebten Ascheflecken an der Wand.

Vor Ignaz befand sich eine windschiefe Tür, die nur noch in einer Angel hing. Er wusste, dass sich dahinter die Windhexe befand. Die Ratte musste es ihm nicht weisen, er spürte die Macht der Hexe durch seinen Körper spülen, bis zu seinem linken großen Zeh.

Ein Wolf schlüpfte aus der Türöffnung. In geduckter Haltung, den Schwanz tief eingezogen, am ganzen Körper zitternd. Er machte einen verschreckten Bogen um Ignaz und die Ratte und huschte davon.

Ignaz grinste. Die Hexe hatte den Wolf ganz schön verstört. Das war nach Ignaz’ Geschmack.

„Der Nächste“, erklang eine Stimme, durchdringend wie ein Messer und triefend vor Ungeduld.

Ein kurzer Blick um sich, außer ihm und der Ratte war niemand mehr da. Ignaz straffte seine Schultern.

„Los, oder soll ich den ganzen Tag warten?“

Fräulein Ungeduld. Pah. Der Zwerg spuckte aus und ging durch die Tür.

Er hätte sich den Raum prunkvoller vorgestellt. Besser gesagt, es war gar kein Raum, es war ein Garten. Früher zumindest ein Garten gewesen. Jetzt war es ein Durcheinander. Verkohlte Bäume und Sträucher standen herum, von wildem Dornengestrüpp überzogen. Wirklich, er hätte sich den Ort des Treffens mit einer mächtigen Hexe würdevoller vorgestellt.

Wo war Ludetta überhaupt? Ignaz konnte sie nirgends entdecken und doch schlug sein Herz wild, angestoßen von der Macht. Sie war da.

Neben sich ein Rascheln. Die Ratte war an seine Seite gewuselt.

„Du bringst mir einen Zwerg?“, durchfuhr eine Stimme den Garten. „Rasmus, was soll das?“ Vor zwei dürren Baumstämmen flimmerte es. Ignaz blinzelte. Er sah verwaschene Konturen einer Gestalt. Langes, helles Haar. Genau wie das Gewand. Alles flatterte im Wind. Zierliche Arme, ein Gesicht, nur unscharf auszumachen. Frauen mit ihrem Firlefanz. Sie bauschten alles dramatisch auf.

„Rasmus, antworte mir.“

Die Ratte duckte den Kopf. „Er wollte unbedingt. Schon seit vielen Monden fragt er überall herum. Ich dachte, er wäre vielleicht … wenn auch ein Zwerg, aber … ein bisschen nützlich?“

„Du sollst nicht denken.“ Der Firlefanz hatte aufgehört. Die Hexe war jetzt klar zu erkennen. Sie verzog das glatte Gesicht.

„Ein Zwerg, also wirklich. Zu was sollte der mir nützlich sein? Verschwinde Rasmus und nimm das bärtige Ding mit.“

Er hörte wohl nicht recht! In Ignaz brodelte es wie in einem Hexenkessel. Er schnaubte und richtete sich auf: „Ich bin Ignaz der Zwerg“, donnerte er los. „Ladenbesitzer in Rielau und Mitglied des Dorfrates. Ich bin vieles, aber ganz gewiss kein bärtiges Ding. Verscheuchen kann man mich nicht.“

Die Hexe wuchs, doch Ignaz war noch lange nicht fertig. „Und wenn du nicht so eitel wärst, du Weibsstück, dann wüsstest du längst, wie nützlich ich dir sein könnte. Jawohl. Aber du …“

Ein Zischen klang zwischen den Zähnen der Hexe hervor. Ein Keifen. Ignaz stockte. Die Ratte wetzte hinaus, durch die rettende Tür.

Erst jetzt sah Ignaz, wie groß die Hexe geworden war. Ihr Blick schoss Blitze ab wie giftige Pfeile. In der Luft knisterte es zum Zerreißen.

„Ich …“ Ignaz wurde in die Luft gehoben mit reinster Magie. Er schwebte über dem Boden, wie ein zappelnder Grashüpfer im Schnabel eines Vogels. Kälte umschloss seinen Hals. Er schnappte nach Luft und wollte sich aus dem Griff befreien. Verzweifelt fuhren seine Hände zum Hals, um die eiserne Krause wegzureißen, doch er griff ins Leere. Da war nichts, außer Magie.

„Sprich noch einmal so mit mir, Zwerg, und du wirst dich den Rest deines Lebens fragen, was oben und unten ist. Du wirst nicht wissen, ob deine Eingeweide innen oder außen sind und du wirst mich anflehen, dass du sterben darfst. Sprich nie wieder so mit mir, verstanden?“

Ignaz strampelte mit den Beinen. Sie sollte ihn runterlassen.

„Ob du mich verstanden hast.“

Er wurde durchgeschüttelt bis ins Mark. Sie sollte aufhören. Ja, wollte er schreien, doch seine Kehle war zugeschnürt. Er wollte nicken, doch sein Kopf saß fest in der Magie. Ignaz blickte die Hexe an. Ja, rief sein Blick. Ja.

Er wirbelte durch die Luft und krachte auf den Boden. Der Schmerz durchzuckte seinen Körper.

Das war genug. Das war mehr als genug. So hatte er sich die Begegnung mit der Hexe nicht vorgestellt. Zu den Anhängern dieses widerlichen Weibes wollte er nicht gehören. Und die Versammlung konnte ihm gestohlen bleiben. Ein für alle Mal. Er hatte genug!

Ignaz biss die Zähne zusammen, um ein Stöhnen zu unterdrücken. Er rappelte sich auf. Seine Beine stützten ihn nur mit Widerwillen. Die Hände zitterten und in seinem Kopf drehte sich ein Kreisel.

Hinaus. Er wollte raus aus dieser Ruine. Weg von der Hexe. Niemals wollte er sie wiedersehen.

Ignaz schleppte sich durch die windschiefe Tür. Er durchquerte den rußigen Saal und als er über den Hof ging, spürte er, wie ein Rinnsal an Kraft in seine Beine floss. Nichts wie Heim.

Mit einem ohrenbetäubenden Rasseln fiel das Torgitter vor ihm hinunter. Die Wucht ließ Ignaz zurücktaumeln. Der Ausgang war verschlossen.

Zu seiner Rechten erblickte er eine umgestürzte Mauer. Er klettert über die Steine hinweg. Eine Feuersbrunst flammte vor ihm auf. Ignaz wurde zurückgeworfen. Schnell stand er auf, schleppte sich auf die andere Seite des Hofes, um nach einer Lücke in der Mauer zu suchen. Doch wo einst eine Ruinenwand war, standen nun kräftige Steine mit blitzenden Eisenspitzen.

Verzweifelt blickte Ignaz sich um. Die Hexe wollte ihn nicht gehen lassen. Er saß in der Falle. Vor ihm war nur noch die Tür, die zum Saal und in den Garten führte. Nur der Weg zurück zur Hexe war frei. Was sollte er tun?

Da kam sie. Mit flatterndem Gewand, das lange Haar windgepeitscht, stand sie vor ihm. Groß, hell und unendlich böse.

Ignaz holte Luft. „Lass mich sofort gehen, ich will nicht mehr für dich arbeiten.“

Sie legte den Kopf schief. „Vielleicht bist du mir nützlicher als ich gedacht habe. Du darfst zur Versammlung kommen.“

„Ich will die blöde Versammlung nicht, ich will nach Hause.“ Er stampfte mit dem Fuß auf.

„Nicht so schnell, Ignaz von Rielau. Ich habe einen Auftrag für dich. Wenn du ihn erfüllst, bekommst du das doppelte deines Zwergengewichtes in Gold und Edelsteinen als Lohn. Versagst du, nehme ich dir dein Haus, deinen Laden und deinen ganzen Besitz weg.“

Ignaz schluckte. Sein doppeltes Gewicht in Gold und Edelsteinen? Er war ein ziemlich schwerer Zwerg. Das musste ein großer Haufen sein. Hatte er überhaupt eine Wahl? Sein doppeltes Gewicht in Schätzen … Ignaz’ Herz pulsierte. Die Finger wurden stark. Bereit, alles Gold und Edelsteine an sich zu nehmen. Sein Rücken straffte sich.

„Mein doppeltes Gewicht“, antwortete Ignaz. „Und das meiner Frau.“

Ein warnender Blick schoss direkt in seinen Kopf. Eiskalt lief es ihm den Rücken hinunter. Die Knochen stöhnten, in Erinnerung an eben und der Schmerz des Aufpralls meldete sich.

„Nur meins“, sagte er schnell. „Mein doppeltes Gewicht in Schätzen.“

„Gut.“ Die Hexe nickte. „Heute Abend ist die Versammlung. Bringe mir einen Menschen, dessen Herz nicht gebrochen ist.“

Ignaz erstarrte. Das war völlig unmöglich. Jeder wusste, dass es im Land keine ungebrochenen Menschenherzen mehr gab. Grund dafür war die Hexe selbst. Sie hasste Menschenherzen und schickte Not und Plagen, bis jedes Herz brach.

„Ich …“

„Nun darfst du gehen.“ Das Fallgitter schob sich nach oben. „Bring diesen Menschen zur Versammlung und dein doppeltes Gewicht in Gold und Edelsteinen gehört dir.“

„Vielleicht … könnte ich es versuchen …“ Er merkte selbst, wie kläglich seine Stimme klang.

Die Hexe nickte ihm zu.

Ignaz dachte an die Menschen. Wie wankelmütig sie waren. Wie schwach. Wollten dies und das, das und jenes und doch nichts. Sie fühlten sich groß, sprachen herablassend und waren dabei so schwach.

Ein grimmiges Lächeln legte sich auf sein Gesicht. Wenn es wirklich noch ein ungebrochenes Menschenherz gab, wäre er der Erste, der mitansehen wollte wie es gebrochen würde. Jawohl, er wollte es mit eigenen Ohren brechen hören.

Ignaz grinste. „Es wird mir eine Freude sein, dir diesen Menschen zu bringen.“ Er nickte der Hexe knapp zu und drehte sich um. Marschierte hinaus mit festen Schritten. Schritten, wie nur ein echter Zwerg sie machen konnte.