Loe raamatut: «Wenn Schattenmächte weichen», lehekülg 3

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Es war der Tag vor der Wintersonnenwende. Die längste Nacht stand bevor. Dunst lag über der Erde. Die Schatten wurden länger. Abend, könnte man meinen, doch Tunai wusste es besser. Es waren die Schatten von Ludetta und ihrer Macht. Das Reich der Windhexe nahm zu. Die große Versammlung stand direkt bevor.

Ein Schauder überkam ihn. Das unruhige Brodeln wurde stärker. Es trieb ihn voran. Mila. Er musste wissen, wie es Mila ging.

Wie schon hunderte Male flog er hinweg, über verdorrte Felder und trockene Wiesen, hin zu dem Wald, wo Mila wohnte. Mila, das Licht. Sie war wertvoller als der teuerste Edelstein, reiner als der klarste Diamant und besser gehütet als das größte Geheimnis.

Tunais Bussardaugen suchten die Waldwege ab. Mittags war das Kind meistens draußen. Doch heute war keine Mila zu sehen. Die Lichtung mit dem Grab war wie ausgestorben. Das Grab … Statt des Holzkreuzes prangte ein Scheiterhaufen in der Mitte der Lichtung. Tunais Herz stockte. Was war geschehen? Mit zwei kräftigen Flügelschlägen legte er sich auf den Wind. Sauste dahin bis zur kleinen Hütte. Nur noch ein dünnes Rinnsal an Rauch stieg aus dem Schornstein auf. Das Feuer war bereits am Ausgehen. Er musste nachsehen was los war. Nur ungern flog Tunai hinab. Am Boden war er den Elementen der Erde zu sehr ausgesetzt. Doch das Wissen um Mila zog stärker. Er musste erfahren, wie es um sie stand.

Tunai flog dicht ans Fenster. Spähte hinein. Nichts außer schummrigem Dämmerlicht. Er flatterte um die Ecke, ließ erneut seinen Blick durch die Hütte gleiten. Ein sanfter Lichtstrahl fiel in den leeren Raum. In der Mitte lag ein umgekippter Kessel. Einfach auf dem Boden. Der Deckel unachtsam daneben. Eine dunkle Ahnung bemächtigte sich Tunais. Etwas Furchtbares musste geschehen sein.

Mit einem Ruck stieß Tunai hinauf in die Luft. Was immer passiert war, er musste Mila finden.

Gehetzt wanderten seine Augen durch den Wald. Über jeden Busch. Jede Wurzel. Um zu sehen, ob etwas ungewöhnlich war, während er oben seine Kreise zog.

Da, zwischen den Tannen blitzte etwas Rotes auf. Es war Milas Schultertuch und sie war, all den guten Mächten sei Dank, am Leben. Munter spazierte sie den Weg entlang. Hüpfte beinahe, und die hellen, schulterlangen Zöpfe wippten fröhlich bei jedem Schritt mit. Eine zentnerschwere Last fiel von Tunais Herzen. Mila war wohlauf.

Und doch blieb die Unruhe zurück. Etwas stimmte nicht.

Eben blieb das Mädchen stehen und ging in die Hocke. Es sprach … mit einem Haselstrauch?

Tunai ließ sich auf eine Tannenspitze nieder. Weit entfernt und doch nah genug, um zuzuhören.

„Ich werde gehen, Bamper.“

Mit wem sprach sie? Tunai reckte den Kopf, doch er konnte nichts erkennen, außer grünem Blattwerk.

„Noch vor Sonnenuntergang werde ich zurück sein. Glaub mir Bamper, mir wird nichts passieren, wenn ich ins Dorf gehe.“

Ins Dorf? Wie Donner grollte es durch Tunais Kopf. Mila durfte nicht ins Dorf gehen. Das durfte nicht geschehen. Nicht jetzt, wo die Macht der Hexe zunahm. Ihre Schatten länger wurden. Nicht heute, wo jeder Stein Augen und Ohren hatte. Wo Ludettas Späher an jeder Ecke lauerten und Geheimnisse mit listigen Klauen entrissen. Nicht jetzt, wo die große Versammlung direkt bevorstand. Da war es selbst im Wald gefährlich. Das Mädchen musste sich ruhig verhalten. Oh, wie gern hätte er es an diesen geheimen Ort gebracht, wo die Macht der Hexe nicht hinkam. Wo das Licht schien. Doch es gab ihn nicht. Niemand hatte ihn je gefunden. Er war ein Mythos und so musste das Mädchen im Wald bleiben.

Doch sie erhob sich und marschierte weiter. Ihr Korb schwang mit Leichtigkeit zu jedem Schritt. Ein fröhliches Summen wurde nach oben getragen. Sie steuerte unbeirrt auf den Waldrand zu.

Halte ein, schrie es in Tunai. Mit einem Satz schwang er sich nach oben. Geh nicht weiter. Kehre um!

Zu spät. Mila hatte den Waldrand erreicht und trat auf die Wiese. Ungeschützt wie ein junges Reh. Nicht ahnend, dass das Korn der Flinte auf es zeigte, der Finger des Jägers sich um den Abspann legte.

„Nein“, rief Tunai, während er über sie hinweg jagte, „geh zurück!“ Doch seiner Bussardkehle entrang sich nur ein Schrei. Lang, klagend und unheilverkündend.

Er konnte nicht sprechen. Nicht wie die wilden Tiere im Wald. Damals, vor langer Zeit, hatte er sich entschieden ein Bussard zu werden. Hatte seine Gestalt ausgetauscht mit der eines Tieres. Eines Bussards, der den Menschen viel zu nah gewesen war und wie alle Tiere, die den Menschen zu nahe waren, die Sprache verloren hatte. Tunai konnte nicht sprechen. Und er war selbst schuld daran. Er hatte damals am See der Wahrheit entschieden sich zu wandeln. Die Welt der mächtigen Wesen zu verlassen und ein Bussard zu werden. Er hatte sich gegen die Macht entschieden und sein Herz behalten. Nun war er ohne Sprache und musste zusehen wie Mila unaufhaltsam weitermarschierte. Schritt um Schritt auf das Dorf zu.

In Tunais Herzen brannte es. Er durfte nicht zulassen, dass dieses Licht ins Verderben lief. Dass das Kind von den dunklen Schatten erstickt wurde. Sie musste stehenbleiben. Sofort.

Wie ein Pfeil schoss er hinab zur Erde. Im Sturzflug. Landete mit Wucht vor ihr im staubigen Gras. Seine Krallen bohrten sich in die trockene Erde. Schnell drückte er die Beine durch. Er war so klein.

Mila stoppte. Erstaunen spiegelte sich in ihren Augen.

Kehre um, Kind, warnte sein Blick.

Und da sah er es. Wie hinter einem Schleier verborgen. In ihren grünen Augen war ein winziger Hauch des Erkennens. So dünn, nicht zu erhaschen. Und doch war er da.

Wärme durchspülte Tunais Herz. Ich bin es, Tunai. Dein Begleiter, der schon so lange über dich wacht. Du kennst mich. Ich war all die Jahre da. Habe dich vom Himmel aus begleitet. Mila, ich bin dein Begleiter.

Sie stand ganz still. Sah ihn an. Ihre Augen versunken in den seinen. „Was … tust du hier?“

Ihre Stimme war klar und hell wie Wasser.

Ich warne dich. Geh nicht ins Dorf.

„Ich habe dich schon gesehen. Oben, am Himmel.“

So ist es. Und du sollst umkehren.

Sie lachte auf. „Bamper hat dich auch schon gesehen. Deshalb hockt er meistens im Gebüsch. Er hat eine Heidenangst vor dir.“ Ihr Blick glitt über seinen Körper. Ein Flüstern schwebte aus ihrem Mund. „Du bist wunderschön.“

Dann sieh noch tiefer in mich hinein. Höre, was ich dir sage. Kehre um.

Tunai flatterte mit den Flügeln.

„Was ist mit dir? Brauchst du Hilfe?“

Nein, Kind, du brauchst Hilfe. Geh schnell in den Wald. Erneut stieß er einen Schrei aus. Laut und warnend.

Bedauern in ihren Augen. „Es tut mir leid. Ich muss ins Dorf. Dringend. Aber ich verspreche dir, ich komme zurück.“

Nicht ins Dorf! Tunais Herz waberte heiß gegen seine Brust. Sie werden dich zerstören, Mila.

„Ich komme zurück.“ Mit diesen Worten ging sie an ihm vorbei, als wäre er irgendein bedeutungsloser Flattermann. Er war ein bedeutungsloser Flattermann. Nicht mehr als ein Vogel, der aufgeregt auf dem Boden herum hüpfte. Und er musste mitansehen, wie Mila weiter schritt. Die ersten Häuser ragten drohend vor dem Kind auf.

Das heiße Wabern in Tunai zerbarst beinahe seine Brust. Er schwang sich in die Luft, flatterte Mila nach. Schnell griffen seine Krallen nach ihrem Gewand bei der Schulter.

Ihr Kopf fuhr herum. Schreckgeweitete Augen. „Lass das. Bist du verrückt geworden?“

Nein, nicht verrückt. Verzweifelt. Tunai zog und zerrte. Sie musste einfach umkehren!

Aus ihrem Gesicht schlug ihm Panik entgegen. Wie ein Messer fuhr ihre Angst in sein Herz. Schnell ließ er los, als hätte er sich verbrannt.

Der Korb traf ihn hart am Kopf. Tunai wurde zu Boden geschleudert. Dreck und Staub spritzten auf. Sein Schnabel grub sich in die Erde.

Benommen blieb Tunai liegen. Er konnte nur noch den Blick heben um zuzusehen, wie Mila ins Dorf rannte. Mitten in ihr Ende. Schon sogen die ersten Häuser das Mädchen auf. Es war zu spät. Tunai hatte versagt. Er war nur ein hilfloser Vogel.

Still lag er am Boden. Spürte, wie der Wind durch seine grauen Federn blies. Sanft, beinahe spielerisch. Es zupfte und zippelte am weichen Flaum. Ließ die feinen Federhärchen hin und her tanzen. Und der Wind brachte eine Botschaft. Wehte sanft einen weit entfernten Ruf in Tunais Herz. Einen Ruf, von dem er nie gedacht hätte, dass er noch da war. Den Ruf aus einer anderen Welt, einem anderen Leben. Es war der Ruf seiner wahren Gestalt. Einst war er ein Wesen gewesen, großartig und stark. Mit riesigen Schwingen, kräftigen Beinen. Er war mächtig gewesen und von ihm war eine Kraft ausgegangen, die genauso stark gewesen war wie Ludetta. Einst war er ein Wesen gewesen mit einer wunderschönen Stimme, die Mila hätte warnen können. Er hatte gelebt, geliebt und dann hatte er gelitten. Damals, als er den größten Schritt seines Lebens getan hatte. Er hatte sich für sein Herz entschieden und gegen die Macht. Damit hatte er alles verloren, was ihm wichtig und wertvoll gewesen war. Alles, sogar die Liebe. Er hatte seine Gestalt abgelegt und mit der des Bussards getauscht. Doch nun rief sie ihn zurück. Es schien wie der Ruf seines Herzens.

Tunai blickte zu den Häuserschluchten, zwischen denen Mila verschwunden war. Die Hexe würde das Strahlen des Mädchens zerstören. Das sprudelnde Leben für immer ersticken.

Nein, schrie es in Tunai, als er die Krallen in den Boden stemmte. Nein, hallte es durch seinen Kopf, als er sich aufrappelte. Nein, schlug sein Herz, als er seine Federn ausschüttelte. Er war vielleicht nur ein Bussard, doch er würde fliegen. Die Vogelgestalt würde ihn tragen bis zum See der Wahrheit. Er würde den Bussard ablegen und als machtvolles Wesen hervortreten. In seiner ureigensten Gestalt. Mit aller Kraft und Stärke. Er würde Ludetta die Stirn bieten. Er konnte die Hexe nicht zerstören, genauso wenig wie sie ihn. Das war der bittere Hohn des Schicksals, der sie beide verband. Doch er würde sich vor Mila stellen und verhindern, dass Ludetta ihre Klauen um sie legte. Die Hexe würde schreien, wüten, toben, doch sie würde dem Mädchen nichts antun können.

Nur schnell genug musste er sein. Prüfend glitt sein Blick zur Sonne, die sich Richtung Horizont schob. Es war ein weiter Weg zum See der Wahrheit. Tunai musste zurück sein bevor die Nacht fortgeschritten war. Bevor die Versammlung in vollem Gange war. Sonst wäre Mila verloren.

Tunai breitete seine Schwingen aus und stieß sich ab. Mit kräftigen Flügelschlägen hob er sich in den Himmel. Mila, rief sein Herz, als er sich auf den Wind legte und über ihm dahin sauste. Halte durch, mein Kind. Ich komme!


Sie würde nicht mehr weit gehen müssen bis zu den großen Buchen. Sie befanden sich am Eingang des Dorfes. Nur noch die Straße entlang, über die kleine Brücke und dann zur Tränke. Dort standen die Buchen und in einer Wurzel der mittleren Buche musste eine Kerbe eingeschnitzt sein. Unter der Kerbe befindet sich ein Schatz, hatte Oma geschrieben. Nimm ihn an dich, bevor du 16 Jahre bist, dann wird dir nichts geschehen. Mila blickte zum Himmel. Die Sonne näherte sich dem Horizont. Morgen war ihr 16. Geburtstag. Sie musste den Schatz finden. Heute. Jetzt. Der Schatz war ein Schutz, hatte Oma geschrieben. Oh, sie brauchte den Schutz. Heute schon, um in den Dorfladen zu Ignaz zu gehen. Ein Schauder lief über ihren Rücken, als sie an den Zwerg dachte. Schnell verscheuchte Mila die Gedanken. Der Schatz war nun wichtiger. Das Vermächtnis ihrer Mutter.

Milas Herz schlug schnell. Sie wusste nicht viel über ihre Eltern, die beide früh gestorben waren. Nur, was Oma ihr erzählt hatte. Dass ihre Mutter wunderschön gewesen war. Mit langen, dunklen Haaren und grünen Augen. Dieselben Augen wie Mila, hatte Oma gesagt, und dasselbe zierliche Gesicht.

Was war es wohl, dass ihre Mutter versteckt hatte? Was verbarg sich unter der Kerbe? Ihr Herz klopfte und ihre Schritte wurden schneller.

Das Dorf sah beinahe aus wie vor drei Jahren. Hier war die Mauer auf der sie früher balanciert war, fast ohne Hilfe. Und dort waren die Häuserreihen, in denen die Frauen von Fenster zu Fenster gequatscht hatten. Wenn sie vorbeigegangen waren, hatten sie ihnen fröhlich zugewinkt. Heute war es anders. Heute waren da keine Frauen. Alle Fenster waren zu. Und doch, so schien es Mila, waren sie da, die Menschen. Hie und da erhaschte sie einen Kopf hinter dem Fenster. Wurde sie beobachtet?

Zack! Ein Knall hinter ihr ließ Mila herumfahren. In dem grauen Haus hatte jemand die Fensterläden zugeschlagen. Schnell ging Mila weiter. Zur Brücke. Doch wo einst ein fröhlicher Bach geplätschert hatte, flüchtete sich nun ein dünnes Rinnsal darunter durch.

Sie hob den Blick zur Tränke. Der Henkel der Pumpe war abgebrochen. Eine magere Katze strich darum herum. Sie erblickte Mila, sträubte die Haare und rannte davon. Das Dorf war nicht mehr dasselbe.

Schnell sah Mila zu den drei Buchen hinüber. Sie standen da, groß und stark, wie immer. Die Äste kahl in den Himmel gereckt, wie es üblich war um die Wintersonnenwende. Hie und da hielt sich ein einzelnes, braunes Blatt wacker am Holz fest.

Mila eilte auf die mittlere Buche zu. Nichts hielt sie mehr. Weder schlagende Fensterläden noch fliehende Katzen. Nun zählte nur der Schatz ihrer Mutter. Milas Augen tasteten am glatten Stamm hinab, dorthin, wo die Wurzeln begannen. Ihr Herz hämmerte eifrig. Wo war die Kerbe? Würde man sie nach all den Jahren sehen können? Hatte ihre Mutter sie fest genug eingeschnitzt? Langsam ging Mila um den Stamm herum.

Da! Auf einer krummen Wurzel spielten vereinzelte Sonnenstrahlen. Und mittendrin lachte ihr eine Kerbe in Form eines Dreiecks entgegen, das auf seiner Spitze stand. Es sah beinahe aus wie ein fröhlicher Mund. Da prangte die Kerbe, ganz offensichtlich.

Eine heiße Welle der Erwartung durchspülte sie. Genau hier hatte ihre Mutter gestanden, den Schatz für sie versteckt und eine Kerbe gemacht. Groß und deutlich.

Schnell blickte Mila sich um. Niemand war zu sehen. Sie kniete sich nieder und kratzte mit bloßen Händen die Erde auf. Ihr Kräutermesser. Schnell holte sie es aus der Gürteltasche. Stach es in die Erde, kratzte im Boden, doch es ging zu langsam. Viel zu langsam. Das kleine Messer bog sich und würde obendrein stumpf werden. Nein, mit den Händen war sie schneller. Es gab kein Halten mehr. Mila bohrte mit ihren Fingern an der Wurzel entlang in den Boden. Sie grub, kratzte und buddelte immer weiter. Etwas Festes stieß auf ihre Finger. Eine neue Welle durchspülte sie. Ihr Herz galoppierte, während sie an dem Gegenstand riss und zog. Endlich brach es hervor: ein Stein. Nicht mehr als ein Stein.

Mit einem Seufzen warf Mila ihn zur Seite. Natürlich. Der Schatz war tief vergraben. Ihre Mutter war bestimmt ein sorgsamer Mensch gewesen und hätte nie etwas Wertvolles direkt unter der Erdoberfläche verborgen. Tief unten musste es liegen. Mila grub weiter. Längst spürte sie den Schmerz nicht mehr. Ihre Finger waren taub. Immer wieder zog sie einen Stein oder ein Stück Wurzel heraus. Von einem Schatz war jedoch keine Spur.

Vielleicht hatte Mutter den Schatz doch nicht tief genug vergraben. Vielleicht hatte längst jemand gefunden, wonach sie suchte. War Mila zu spät gekommen?

Sie blickte auf. Die Sonne war wacker gewandert. Sie lag bereits auf dem Horizont.

Nein. Wenn es einen Schatz gab, dann musste er tief vergraben worden sein, dessen war sich Mila sicher. Verzweifelt arbeiteten ihre Hände weiter. Weshalb hatte ihre Mutter den Schatz überhaupt vergraben? Sie hätte ihn doch Oma geben können. Vielleicht hatte sie ihn nicht für ihre Tochter vergraben, sondern Jahre zuvor, um ihn in Sicherheit zu bringen. Oder war alles nur ein dummes Spiel gewesen das ihre Mutter gemacht hatte? Ein Jungenstreich? Nein, so war ihre Mutter nicht. Oder doch? Woher sollte Mila wissen, wie sie gewesen war? Sie kannte sie ja nicht. Vielleicht war es tatsächlich ein Jungenstreich und Oma war darauf hereingefallen. Genauso wie Mila jetzt.

Sie grub hinab, wühlte die Erde auf und ihr Herz war noch viel aufgewühlter. Es bäumte sich auf, voller Zweifel. Irgendwo musste der Schatz sein! Doch ihre Hände fanden nichts und in ihrem Herzen lag, wie ein eisiger Stein, die Frage: Was, wenn es keinen Schatz gab?

Als die Sonne hinter dem Horizont verschwand, sah Mila auf das Durcheinander vor sich. Sie hatte tiefer gegraben und breiter gebuddelt als je jemand zuvor. Da war kein Schatz.

Erschöpft ließ sie sich gegen den Stamm fallen. Heiße Tränen rannen über ihre Wangen und mit dem Schluchzen drang die bittere Wahrheit aus ihrer Kehle: Es gab kein Vermächtnis und keinen Schatz mehr. Vielleicht hatte es all das niemals gegeben.

Die heiße Wange gegen die glatte, kühle Rinde gepresst, weinte Mila ihr ganzes Leben heraus. Eine Mutter, die früh gestorben war und ihr nichts als einen Streich hinterlassen hatte. Eine Oma, die viel zu früh gegangen war. Mila konnte sie nichts mehr fragen. Konnte sie nicht um Hilfe bitten. Sie war ganz allein.

Als das Schluchzen abebbte, kam die Müdigkeit. Mila war es egal, dass sie fror. Es war ihr gleichgültig, dass eine spitze Wurzel in ihr Kreuz drückte. Und erst recht war es ihr gleichgültig, dass die Sonne gegangen war und nichts weiter als einen glühenden Streifen am Horizont hinterlassen hatte. Sollte der Zwerg doch auf seine Tinktur warten, bis er ein Zittergreis war. Sollte ihr 16. Geburtstag doch kommen ohne einen Schutz, es war egal.

Sie blickte auf die krumme Wurzel. Es wäre so schön gewesen, hätte ihre Mutter diese Kerbe geschnitzt. Eigens für sie. Langsam fuhr Mila mit dem blutigen Zeigefinger über die Kerbe. Sie fühlte sich locker an. Beinahe so, als bewegte sie sich jedes Mal, wenn sie darüberstrich. Mila hob den Kopf. Es schien nicht nur so, sie bewegte sich tatsächlich. Die Kerbe, dieses Dreieck, bewegte sich! Sanft drückte und zog Mila daran, immer wieder, bis das Holz sich herauslöste. Zurück blieb ein dreieckiges Loch. Unter der Kerbe, hatte Oma geschrieben und sie hatte damit nicht die Erde gemeint, sondern das Holz. Mila lachte auf. Und ihre Mutter hatte diese Kerbe tatsächlich für sie gemacht, in aller Sorgfalt für sie, Mila, ihre Tochter.

Milas klamme Finger tasteten sich zitternd in die kleine Öffnung. Da war ein rotes Tuch. Vorsichtig zog sie es heraus. Ein Bündel lag in ihrer Hand, so groß wie ihr kleiner Finger. Ein Bündel, das ihre Mutter gemacht hatte.

Mit dem letzten Schein des Tages enthüllte Mila ihren Schatz.

Als ihre Finger zitternd das letzte Stück Tuch hoben, lag eine Feder in ihrer Hand. Sie war in feinster Arbeit aus Metall gefertigt. So zart, als könne sie davonfliegen. Die Härchen so fein, dass sie wohlige Wärme ausstrahlten. Und dort, wo der Kiel kräftiger und die Härchen am weichsten waren, blitzte ein grüner Smaragd auf. Wohl und sicher eingebettet. Gut gehütet von der Feder.

Mila wagte kaum zu atmen. Immer wieder glitt ihr Blick im Dämmerlicht über das feine Metall. Über das sanfte Grün, über das dünne Lederband, an dem das Amulett befestigt war. Das Amulett, das ihre Mutter für sie versteckt hatte. Ihre Mutter. Vor sich sah Mila eine wunderschöne Frau mit schwarzem, langem Haar. Sie löste das Lederband von ihrem Hals und legte das Amulett vorsichtig in ein rotes Tuch. Liebevoll schlug sie es ein und verbarg es in einem Versteck, damit Mila es eines Tages finden würde. Als liebevoller Gruß ihrer Mutter. Als Vermächtnis und als Schutz.

Nun lag die Feder in ihrer Hand. Mila drückte sie sanft gegen ihr Herz. „Danke“, flüsterte sie unter Schluchzen hervor. „Danke für dein Geschenk.“

Ein Geräusch ließ Mila aufhorchen. Schritte näherten sich. Schnell legte sie das Amulett in ihre Gürteltasche und stand auf. Ein Schatten marschierte über die Brücke. Mila wusste sofort, wer ins Dorf hinein stapfte. Zielstrebig auf seinen Laden zu. Es war Ignaz, der Zwerg.

Nun hatte sie keine Angst mehr. Nun hatte sie ihren Schutz gefunden. Mila griff nach ihrem Korb und richtete sich auf. Sie hatte noch etwas zu besprechen mit dem Zwerg und das würde sie jetzt auch tun. Er konnte ihr gar nichts. Sie drückte den Rücken durch, atmete tief ein und trat auf die Straße.