Jules Verne
Die Propeller-Insel
Vollständige Übersetzung beider Bände
Jules Verne
Die Propeller-Insel
Vollständige Übersetzung beider Bände
(L’Île à hélice)
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020
Übersetzung: Unbekannt, Jürgen Schulze
Illustrationen: Léon Benett
1. Auflage, ISBN 978-3-962817-84-8
null-papier.de/697
null-papier.de/katalog
Inhaltsverzeichnis
Jules Verne – Leben und Werk
Band 1
Erstes Kapitel – Das Quartett
Zweites Kapitel – Die Wirkung einer kakophonischen Sonate
Drittes Kapitel – Ein redseliger Cicerone
Viertes Kapitel – Das verblüffte Konzert-Quartett
Fünftes Kapitel – Standard Island und Milliard City
Sechstes Kapitel – Eingeladene … Inviti
Siebtes Kapitel – Hinaus nach Westen
Achtes Kapitel – Unterwegs
Neuntes Kapitel – Die Gruppe der Sandwich-Inseln
Zehntes Kapitel – Die Passage der Linie
Elftes Kapitel – Die Marquisen-Inseln
Zwölftes Kapitel – Drei Wochen auf Pomotou
Dreizehntes Kapitel – Auf Tahiti
Vierzehntes Kapitel – Von einem Fest zum anderen
Band 2
Erstes Kapitel – Auf den Cooks Inseln
Zweites Kapitel – Von Insel zu Insel
Drittes Kapitel – Ein Hofkonzert
Viertes Kapitel – Ein britisches Ultimatum
Fünftes Kapitel – Das Tabu von Tonga-Tabu
Sechstes Kapitel – Eine Sammlung von Raubtieren
Siebtes Kapitel – Treibjagden
Achtes Kapitel – Fidschi und seine Bewohner
Neuntes Kapitel – Ein Casus Belli
Zehntes Kapitel – Wechsel der Besitzer
Elftes Kapitel – Angriff und Abwehr
Zwölftes Kapitel – Steuerbord gegen Backbord
Dreizehntes Kapitel – Ein Schlagwort Pinchinats
Vierzehntes Kapitel – Der schließliche Ausgang
Ein Nachwort
Danke, dass Sie dieses E-Book aus meinem Verlag erworben haben.
Jules Verne gehört zu den Autoren, die jeder schon einmal gelesen hat. Eine Behauptung, die man nicht über viele Schriftsteller aufstellen kann. Die Geschichten von Verne sind unterhaltend, lehrreich und immer sehr atmosphärisch.
In unregelmäßiger Folge wird mein Verlag die Werke von Verne veröffentlichen – die bekannten wie die unbekannten. Immer in der überarbeiteten Erstübersetzung, um den (sprachlichen) Charme der Zeit beizubehalten.
Korrigiert und kommentiert werden Orts- und Personennamen oder offensichtlich falsche Angaben. Sie finden die Erläuterungen in Fußnoten.
Ich habe es mir auch nicht nehmen lassen, die ursprünglichen Namen zu verwenden: Aus dem Johann wird so wieder der ursprüngliche Jean, aus Ludwig wieder Louis und aus Marianne wieder Marie. Ich denke, das tut den Geschichten nur gut.
Sollten Sie Hilfe benötigen oder eine Frage haben, schreiben Sie mir.
Ihr
Jürgen Schulze
Reise um die Erde in 80 Tagen
Michael Strogoff - Der Kurier des Zaren
Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer
Schwarz-Indien – Oder: Die Stadt unter der Erde
Die fünfhundert Millionen der Begum
Die Abenteuer des Kapitän Hatteras
Beinahe wäre Klein-Jules als Schiffsjunge nach Indien gefahren, hätte eine Laufbahn als Seemann eingeschlagen und später unterhaltsames Seemannsgarn gesponnen, das vermutlich nie die Druckerpresse erreicht hätte.
Jules Verne
Verliebt in die abenteuerliche Literatur
Glücklicherweise für uns Leser hindert man ihn daran: Der Elfjährige wird von Bord geholt und verlebt weiterhin eine behütete Kindheit vor bürgerlichem Hintergrund. Geboren am 8. Februar 1828 in Nantes, wächst Jules-Gabriel Verne in gut situierten Verhältnissen auf. Als ältester von fünf Sprösslingen soll er die väterliche Anwaltspraxis übernehmen, weshalb er ab 1846 in Paris Jura studiert.
Viel spannender findet er schon zu dieser Zeit allerdings die Literatur. Verne freundet sich sowohl mit Alexandre Dumas als auch mit seinem gleichnamigen Sohn an. Gemeinsam mit Vater Dumas verfasst er Opernlibretti und erste dramatische Werke. Nach dem Abschluss seines Studiums beschließt er, nicht nach Nantes zurückzukehren, sondern sich völlig der Dramatik zu widmen.
Zwar schreibt er nicht ganz erfolglos – drei seiner Erzählungen erscheinen in einer literarischen Zeitschrift. Doch zum Leben reicht es nicht, weshalb der junge Autor 1852 den Posten eines Intendanz-Sekretärs am Théâtre lyrique annimmt. Immerhin wird diese Arbeit zuverlässig vergütet und Verne darf sich als Dramatiker betätigen. In seiner Freizeit verfasst er weiterhin Erzählungen, wobei ihn abenteuerliche Reisen am meisten interessieren.
Als er 1857 eine Witwe heiratet, die zwei Töchter in die Ehe mitbringt, muss sich der Literat nach einer besser bezahlten Einkommensquelle umsehen. Während der nächsten zwei Jahre schlägt er sich als Börsenmakler durch, wobei er genug Zeit findet, längere Schiffsreisen zu unternehmen, bevor 1861 sein Sohn Michel geboren wird.
Verliebt ins literarische Abenteuer
Letztlich ist es einer besonderen Begegnung im Jahr 1862 geschuldet, dass alles, was der Autor bisher »geistig angesammelt« hat, in seinen künftigen Romanen kulminieren darf: Der Jugendbuch-Verleger Pierre-Jules Hetzel veröffentlicht Vernes utopischen Reiseroman »Fünf Wochen im Ballon«. Dieses von ihm ohnehin bevorzugte Sujet wird den Schriftsteller nie wieder loslassen – die abenteuerlichen Reisen, auf welcher Route auch immer sie absolviert werden. Hetzel verlegt Vernes noch heute beliebteste Schriften: 1864 »Reise zum Mittelpunkt der Erde«, im folgenden Jahr »Von der Erde zum Mond«, 1869 »Reise um den Mond« und »Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer«. Mit »Reise um die Erde in 80 Tagen« erscheint 1872 Jules Vernes erfolgreichster Roman überhaupt.
Die Zusammenarbeit mit Hetzel, der gleichzeitig als sein Mentor fungiert, sorgt in den späten 1860er Jahren dafür, dass der höchst produktive Schriftsteller seiner Familie einigen Wohlstand bieten und sich selbst »jugendtraumhafte« Reisewünsche erfüllen kann. Sein Verleger stellt ihn namhaften Wissenschaftlern vor – in Kombination mit den erwähnten Reisen entsteht auf diese Weise ein ungeheurer Fundus der Inspiration: Jules Vernes Zettelkasten enthält angeblich 25.000 Notizen!
Zwar ist er seit »Reise um den Mond« gleichermaßen wohlhabend und geachtet; er engagiert sich seit den späten 1880er Jahren sogar als Stadtrat in Amiens, wohin er 1871 mit seiner Familie übergesiedelt war. Der »Ritterschlag« aber bleibt aus: In der Académie française möchte man den Jugendbuchautor nicht haben, er gilt als nicht seriös genug.
Den Zenit seines Schaffens hat der Literat bereits überschritten, als er 1888 bleibende Verletzungen durch den Schusswaffen-Angriff eines geistesgestörten Verwandten davonträgt. Dennoch arbeitet der Autor ununterbrochen weiter. Als Jules Verne im März 1905 stirbt, hinterlässt er ein gewaltiges Gesamtwerk: 54 zu Lebzeiten erschienene Romane, weitere elf Manuskripte bearbeitet sein Sohn Michel nach dem Tod des Vaters. Ergänzt wird Vernes Œuvre durch Erzählungen, Bühnenstücke und geografische Veröffentlichungen.
Geliebt und missachtet
Jenes zwiespältige Verhältnis, das sich bereits in der Ablehnung der Akademiemitglieder äußert, kennzeichnet die akademische Rezeption bis heute: Jules Verne ist eben »nur ein Jugendbuchautor«. Weniger befangene Rezipienten freilich schreiben ihm eine ganz andere Bedeutung zu, die dem Visionär und leidenschaftlichen Erzähler besser gerecht wird.
Wenngleich der alternde Literat zum Ende seines Schaffens durchaus nicht mehr in gläubiger Technikbegeisterung aufgeht, bleiben uns doch genau jene Werke in liebevoller Erinnerung, in denen technische und menschliche Großtaten die Handlung bestimmen: »Reise um die Erde in 80 Tagen« oder »Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer« beispielsweise. Wer als Kind von Nemo und seiner Nautilus liest, wird unweigerlich gefangen von diesem technischen Wunderwerk und dessen Kapitän. Vernes Romane gehören zu jenen Jugendbüchern, die man als Erwachsener gerne nochmals zur Hand nimmt – und man staunt erneut, erinnert sich, lässt sich wiederum einfangen und fragt sich, warum man eigentlich so selten Verne liest…
So wie der Autor sich selbst durch Reisen und Wissenschaft inspirieren lässt, dienen seine Werke seit jeher der Inspiration seiner Leserschaft. Wie präsent dieser exzellente Unterhalter in den Köpfen seiner Leser bleibt, belegen Benennungen in See- und Raumfahrt: Das erste Atom-U-Boot der Geschichte ist die amerikanische USS Nautilus. Ein Raumtransporter der Europäischen Raumfahrtagentur heißt »Jules Verne«, ein Asteroid und ein Mondkrater tragen ebenfalls den Namen des Schriftstellers. Die »Jules Verne Trophy« wird seit 1990 für die schnellste Weltumsegelung verliehen, was dem begeisterten Jachtbesitzer Verne gewiss gefallen hätte.
Der kommerzielle Literaturbetrieb sowie die Filmwirtschaft betrachten den französischen Vater der Science-Fiction-Literatur ebenfalls mit Wohlwollen: Unzählige Neuauflagen der Romanklassiker, Hörbücher und Verfilmungen der rasanten, stets mitreißenden Handlungen sprechen Bände. Mittlerweile gelten die ältesten Verfilmungen selbst als kulturelle Meilensteine, die keineswegs nur ein junges Publikum erfreuen.
Jules Vernes Bedeutung für die Literatur
Der Einfluss Vernes auf nachfolgende Science-Fiction-Autoren ist gar nicht hoch genug einzuschätzen: Aus heutiger Sicht ist er einer der Vorreiter der utopischen Literatur Europas, der noch vor H. G. Wells (»Krieg der Welten«) und Kurd Laßwitz (»Auf zwei Planeten«) das neue Genre begründet. Seinerzeit gibt es diesen Begriff noch nicht, weshalb Hetzel die Romane seines Erfolgsschriftstellers als »Außergewöhnliche Reisen« vermarktet
Der Franzose sieht, anders als Wells und ähnlich wie Laßwitz, im technischen Fortschritt das künftige Wohl der Menschheit begründet. Trotzdem ist Jules Verne vor allem Erzähler: Er will weder warnen wie Wells noch belehren wie Laßwitz, sondern in erster Linie unterhalten. Im Vergleich zum spröden Realismus eines Wells wirken seine Romane für moderne Leser ausufernd, vielleicht sogar geschwätzig. Dennoch sind sie leichter zugänglich als das stilistisch ähnliche Schaffen des Deutschen Laßwitz, weil sie Utopie und Technikbegeisterung nicht zum Zweck ihres Inhalts machen, sondern lediglich zu dessen Träger: Schließlich ist es einfach aufregend, in einem Ballon eine Weltreise anzutreten oder Kapitän Nemo in sein geheimes Reich zu folgen.
Wenn eine Reise schlecht anfängt, nimmt sie gewöhnlich auch kein gutes Ende. Diesen Glaubenssatz hätten wenigstens die vier Musiker unterschreiben können, deren Instrumente hier auf der Erde umherlagen. Die Kutsche, worin sie an der letzten Eisenbahnstation hatten Platz nehmen müssen, war nämlich soeben gegen die Böschung des Weges hier plötzlich umgestürzt.
»Es ist doch keiner verwundet?« fragte der erste, der sich schon, wenn auch mühsam, wieder aufgerichtet hatte.
»Ich bin mit einem Ritz in der Haut davongekommen«, antwortete der zweite, indem er sich die durch eine gesprungene Kutschenscheibe verletzte Wange abwischte.
»Und ich mit einer Hautabschürfung!« erwiderte der dritte, von dessen Wade ein Tröpfchen Blut hervorquoll.
Niemand hatte also ernstlich Schaden genommen.
»Doch mein Violoncell!« rief der vierte. »Wenn nur mit meinem Violoncell nichts passiert ist.«
Zum Glück erweisen sich die Instrumentenkästen alle unversehrt. Weder das Violoncell, noch die Bratsche oder die beiden Violinen hatten von dem Stoße gelitten, ja, es war sogar kaum nötig, sie neu zu stimmen. Eine vortreffliche Sorte Instrumente, nicht wahr?
»Verwünschte Eisenbahn, die uns auf halbem Wege sitzenlässt!« beginnt der eine wieder.
»Verwünschte Kutsche, die mit uns mitten in der Wildnis umwirft!« setzt der zweite hinzu.
»Und gerade zurzeit, wo es anfängt, dunkel zu werden!« jammerte der dritte.
»Zum Glück ist unser Konzert erst für übermorgen angezeigt!« bemerkt der vierte.
Dann folgen einige drollige Wechselreden zwischen den Künstlern, die ihr Missgeschick von der lustigen Seite aufgenommen haben. Der eine entlehnt seine Kalauer nach eingewurzelter Gewohnheit der musiktechnischen Sprache und sagt:
»Na, da wäre ja unsere Kutsche glücklich ›auf den Rücken gelegt!‹«1
»Au, Pinchinat!« ruft einer seiner Gefährten.
»Und ich meine«, fährt Pinchinat fort, »wir haben umgeworfen, weil wir die Vorzeichnung (Schlüssel) der Straße unbeachtet ließen.«
»Wirst du schweigen lernen?«
»Und wir werden gut tun, unsere Stücke in eine andere Kutsche zu transponieren!« wagt Pinchinat noch hinzuzusetzen.
Ja, es handelte sich um einen tüchtigen Unfall und Umfall, wie der Leser sofort erkennen wird.
Die angeführten Worte wurden französisch gesprochen; es hätte dies aber auch englisch erfolgen können, denn das Quartett beherrschte die Sprache Walter Scotts und Coopers – dank vielfacher Kunstreisen in Ländern angelsächsischen Ursprungs – ebenso wie die eigene Muttersprache. So verhandeln sie denn auch nur auf englisch mit dem Führer der Kutsche.
Dieser brave Mann hat am schlimmsten zu leiden, da er, als die Vorderachse des Wagens brach, von seinem erhöhten Sitz heruntergeschleudert wurde. Zum Glück beschränkte sich das auf verschiedene mehr schmerzhafte als ernste Kontusionen.2 Immerhin kann er infolge einer Verstauchung nicht auftreten und also nicht gehen, und daraus ergibt sich die Notwendigkeit, ein Hilfsmittel zu finden, um den Mann wenigstens bis ins nächste Dorf zu schaffen.
Es ist wirklich ein Wunder zu nennen, dass bei dem Unfall niemand das Leben eingebüßt hat. Der Weg schlängelt sich nämlich durch eine sehr bergige Gegend, streift da und dort an schroffe Abgründe oder wird von rauschenden Bergströmen begleitet und häufig durch kaum zu passierende Furten unterbrochen. Wäre der Bruch am Vorderteil des Wagens nur eine kurze Strecke weiter oben erfolgt, so wäre das Gefährt ohne Zweifel über das Felsengeröll des Abhangs hinuntergestürzt und vielleicht wäre bei dieser Katastrophe keiner mit dem Leben davongekommen.
Jedenfalls war die Kutsche jetzt aber nicht weiter zu benutzen. Dazu liegt eines der beiden Pferde, das sich mit dem Kopfe an einen spitzen Stein gestoßen hat, röchelnd am Boden. Das andere ist an der Hanke ziemlich schwer verletzt. Da fehlte es nun an einem Wagen ebenso wie an einem Gespann dafür.
Die vier Künstler waren auf dem Boden Nieder-Kaliforniens überhaupt von einem seltenen Pech verfolgt worden und hatten binnen vierundzwanzig Stunden nun zwei Unfälle erlitten. Wenn man da aber nicht gerade Philosoph ist …
Zu jener Zeit stand San Franzisko, die Hauptstadt des Staates, schon durch einen Schienenstrang in unmittelbarer Verbindung mit San Diego, das fast an der Grenze der alten Provinz Kalifornien liegt. Nach dieser bedeutenden Stadt begaben sich die vier Künstler, die dort am übernächsten Tage ein vielfach angezeigtes und mit Spannung erwartetes Konzert geben sollten. Am Tage vorher von San Franzisko abgefahren, befand sich der Zug kaum noch fünfzig (amerikanische) Meilen von San Diego, als sich zuerst ein »aus dem Tempo kommen« ereignete.
Jawohl, ein aus dem Tempo kommen, wie der Lustigste der kleinen Gesellschaft sagte, und diesen Ausdruck wird man einem alten Schüler des Noten-ABC schon freundlich nachsehen.
An der Station Paschal hatte es einen unfreiwilligen Aufenthalt nämlich deshalb gegeben, weil der Bahndamm durch ein plötzliches Hochwasser auf eine Strecke von drei bis vier Meilen zerstört worden war. Erst zwei Meilen weiter hin konnte man die Eisenbahn wieder besteigen, und eine Überführung der Reisenden war auch noch nicht eingerichtet, weil sich der Unfall erst vor wenigen Stunden ereignet hatte.
Nun gab es nur eine Wahl: entweder zu warten, bis die Bahn wieder fahrbar war, oder in der nächsten Ortschaft einen Wagen bis San Diego zu mieten.
Das Quartett hatte den zweiten Ausweg gewählt. In einem benachbarten Dorfe entdeckten sie glücklich eine Art alten Landauers mit rasselndem Eisenwerk, dessen Inneres von Motten zerfressen und alles andere als einladend war. Mit dem Besitzer um den Fahrpreis einig geworden, hatten sie den Kutscher noch durch das Versprechen eines reichlichen Trinkgeldes bestochen und waren nur mit den Instrumenten, ohne das übrige Reisegepäck, wohlgemut davongerollt. Das war gegen zwei Uhr nachmittags, und bis sieben Uhr ging die Fahrt auch ohne große Schwierigkeit und Anstrengung vonstatten. Dann sollten sie aber zum zweiten Male »aus dem Tempo kommen«, indem die alte Kutsche umstürzte, und zwar so unglücklich, dass sich eine Weiterbenützung derselben ganz von selbst verbot.
Jetzt befand sich das Quartett noch reichlich zwanzig Meilen von San Diego entfernt.
Ja, warum hatten sich denn die vier Musiker – von Nation Franzosen und, was noch mehr sagen will, von Geburt Pariser – in diese unwirtlichen Gebiete Nieder-Kaliforniens verirrt?
Warum?… Das werden wir sofort kurz mitteilen und werden dabei mit einigen Zügen die vier Virtuosen abmalen, die der Zufall, der fantastische Rollenverteiler, den Persönlichkeiten der nachfolgenden merkwürdigen Geschichte zugesellen sollte.
Im Laufe des betreffenden Jahres – wir können es nur auf etwa dreißig Jahre genau bestimmen – hatten die Vereinigten Staaten von Amerika die Zahl der Sterne in ihrer Bundesflagge verdoppelt. Sie stehen in der vollen Entfaltung ihrer industriellen und kommerziellen Macht, nachdem sie das Dominium von Kanada bis zur äußersten Grenze am Polarmeere, doch auch die Gebiete von Mexiko, Guatemala, Honduras, Nicaragua und Costarica bis zum Panamakanale ihrem Bundesstaate einverleibt hatten. Gleichzeitig hatte sich bei den länderraubenden Yankees die Neigung für die Kunst entwickelt, und wenn auch ihr eigenes Schaffen im Gebiete des Schönen noch recht beschränkt blieb, wenn der Nationalgeist sich gegen die Malerei, die Bildhauerkunst und die Musik noch etwas widerstrebend erwies, so hatte sich der Geschmack an den Werken der schönen Künste bei ihnen doch allgemein verbreitet. Dadurch, dass sie die Gemälde alter und neuer Meister mit Gold aufwogen, um private oder öffentliche Sammlungen zu füllen, und dass sie berühmte lyrische oder dramatische Künstler, ebenso wie die besten Instrumentalisten oft für unerhörte Preise heranzogen, hatten sie sich endlich den ihnen so lange mangelnden Sinn für schöne und edle Dinge allmählich eingeimpft.
Was die Musik betrifft, begeisterten sich die Dilettanten der Neuen Welt anfänglich an den Werken eines Meyerbeer, Halévy, Gounod, Berlioz, Wagner, Verdi, Massé, Saint-Saëns, Reyer, Massenet und Delibes, der berühmten Tonsetzer der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Dann gelangten sie nach und nach zum Verständnis der tiefsinnigeren Arbeiten eines Mozart, Beethoven und Haydn und strebten den Quellen jener höchsten Kunst entgegen, die im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts so reichlich flossen. Da folgten den Opern die lyrischen Dramen, den lyrischen Dramen die Symphonien, Sonaten und die Orchestersuiten. Zurzeit, von der wir sprechen, machten gerade die Sonaten in den verschiedenen Staaten der Union gewaltiges Aufsehen. Man bezahlte sie willig Note für Note, die halbe mit zwanzig, die viertel mit zehn, die achtel Note mit fünf Dollar.
Von dieser Modetollheit unterrichtet, unternahmen es vier hochangesehene Instrumentalisten, sich in den Vereinigten Staaten von Amerika Ruhm und Schätze zu erringen. Es waren vier gute Kameraden, frühere Schüler des Pariser Konservatoriums, und in der französischen Hauptstadt sehr bekannte Leute, die vorzüglich von den Liebhabern der in Amerika noch wenig verbreiteten sogenannten »Kammermusik« besonders geschätzt wurden. Mit welch seltener Vollendung, welch herrlichem Zusammenspiel und tiefem Verständnis brachten sie aber auch die Werke eines Mozart, Beethoven, Mendelssohn, Haydn und Chopin zu Gehör, diese unsterblichen Kompositionen, die für vier Streichinstrumente, eine erste und eine zweite Geige, eine Bratsche und ein Violoncell geschrieben sind! Da gab es keinen Lärm, nichts Geschäftsmäßiges, wohl aber eine tadellose Ausführung, eine unvergleichliche Virtuosität! Die Erfolge des Quartetts erscheinen umso begreiflicher, als man zu jener Zeit gerade anfing, der ungeheuern harmonischen und symphonischen Orchester müde zu werden. Ist die Musik auch immer eine aus kunstvoll kombinierten sonoren Wellen erzeugte Seelenerschütterung, so braucht man diese Wellen doch nicht zu betäubenden Sturmfluten zu entfesseln.
Kurz unsere vier Musiker beschlossen, die Amerikaner in die sanften und unaussprechlichen Genüsse der Kammermusik einzuführen. Sie reisten zusammen nach der Neuen Welt, und seit zwei Jahren sparten ihnen gegenüber die Yankee-Dilettanten auch in keiner Weise, weder mit Hurras, noch mit ebenso erhebend klingenden Dollar. Ihre musikalischen Matinéen oder Soiréen waren außerordentlich begehrt. Das »Konzert-Quartett« – so lautete die übliche Bezeichnung – war kaum imstande, den Einladungen der reichen Leute nachzukommen. Ohne jenes gab es kein Fest, keine Réunion, keinen Raout, keinen Five o’Clock Tea, ja keine Gardenparties, die der öffentlichen Aufmerksamkeit empfohlen zu werden verdient hätten. Bei dieser allgemeinen Begeisterung hatte genanntes Quartett schon ganz gewaltige Summen eingeheimst, die, wenn sie sich in den Panzerschränken der Bank von New York aufgesammelt hätten, schon ein recht hübsches Kapital dargestellt haben würden. Doch, warum sollten wir es verheimlichen? … Unsere amerikanischen Pariser streuten das Geld auch mit vollen Händen wieder aus. Die Fürsten des Bogens, die Könige von vier Saiten, dachten gar nicht ans Aufspeichern von Schätzen. Sie hatten an ihrem etwas abenteuerlichen Leben Geschmack gefunden in der Gewissheit, überall gute Aufnahme und reichlichen Verdienst zu finden, und so flatterten sie von New York nach San Franzisko, von Quebec nach Neu-Orléans, von Neu-Schottland nach Texas – vielleicht etwas à la Bohème, aber in der Bohème der Jugend, die ja die älteste, liebenswürdigste und beneidenswerteste überall auf Erden ist.
Wenn wir uns nicht arg täuschen, ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, die Leutchen persönlich und mit Namen denen unserer freundlichen Leser vorzustellen, die das Vergnügen, jene zu hören, weder gehabt haben, noch je haben werden.
Yvernes – die erste Violine – zweiunddreißig Jahre alt, von etwas übermittlerer Statur, bestrebt mager zu bleiben, hat blondes, unten etwas gelocktes Haar, glattes Gesicht, große dunkle Augen, lange Hände, die dazu geschaffen scheinen, auf seiner Guarnerio alles mögliche zu greifen, zeigt elegantes Auftreten, liebt es, sich in einen dunkelfarbigen Mantel zu hüllen, trägt gern einen hochköpfigen Seidenhut, ist vielleicht etwas schauspielerischer »Poseur«, doch jedenfalls der Harmloseste der Gesellschaft, der sich um Geldangelegenheiten nicht kümmert, sondern vor allem anderen Künstler, begeisterter Bewunderer alles Schönen und Virtuose von großem Talent und glänzender Zukunft ist.
Frascolin – die zweite Violine – dreißig Jahre alt, klein, mit Neigung zu Fettleibigkeit, worüber er oft in helle Wut gerät, braun von Bart- und Kopfhaar, mit starkem Kopf, dunkeln Augen, langer Nase mit sehr beweglichen Flügeln und geröteten Flecken an den Stellen, wo die Federn seines goldgefassten Lorgnons mit stark konkaven Gläsern, das er leider nicht entbehren kann, aufsitzen; übrigens ein gutmütiger, zuvorkommender, dienstwilliger Mann, der sich jeder Mühewaltung unterzieht, um sie seinen Kollegen zu ersparen, führt er die Kasse für das Quartett und empfiehlt immer äußerste Sparsamkeit, freilich ohne damit je Gehör zu finden. Ohne jeden Neid auf den Erfolg seines Kollegen Yvernes und ohne den Ehrgeiz, das Pult der ersten Violine jemals für sich zu erobern, ist er doch ein vortrefflicher Künstler. Über dem Reiseanzug trägt er stets einen weiten Staubmantel.
Pinchinat – die Bratsche – gewöhnlich »Seine Hoheit«3 genannt, siebenundzwanzig Jahre alt, der Jüngste der Truppe und auch der witzigste, lustigste Patron derselben, einer jener unverbesserlichen Typen, die ihr Leben lang übermütige Straßenjungen bleiben, mit seinem Kopf, geistvollen, stets aufmerksamen Augen, ins Rötliche spielendem Haar und mit spitzauslaufendem Schnurrbart. Er schnalzt gern mit der Zunge an den weißen, scharfen Zähnen und ist eingefleischter Liebhaber von Kalauern und Calembours, ebenso bereit zum Angriff wie zur Abwehr, das Gehirn voller Schnurren – »eine vollständige Ausstattung«, sagt er – von unverwüstlichem Humor, immer Possen treibend und ohne sich deshalb, weil sie seine Kollegen zuweilen in Verlegenheit bringen, ein graues Haar wachsen zu lassen. Darum treffen ihn auch häufig die Vorwürfe und väterlichen Strafpredigten des Führers und Oberhauptes des Quartetts.
Es gibt hier natürlich auch einen Führer, den Violoncellisten Sébastien Zorn, ein Oberhaupt ebenso durch sein Talent wie durch sein Alter – er zählt bereits zweiundfünfzig Sommer – dieser ist klein, dick und fett, blond, mit reichlichem, den Schläfen mit Herzenshäkchen anliegendem Haar und starrem Schnurrbart, der sich im Gewirr des spitzauslaufenden Backenbartes verliert. Sein Teint spielt ins Backsteinfarbige und seine Augen glänzen durch die Gläser der Brille, die er beim Lesen u. dgl. noch durch eine Lorgnette verschärft. Dabei hat er fleischige, runde Hände, von denen die rechte, der man die Gewohnheit an die wiegenden Bogenbewegungen anmerkt, am Gold- und am kleinen Finger mit großen Ringen geschmückt ist.
Diese flüchtige Skizze genügt wohl, den Mann und den Künstler zu kennzeichnen. Man hält aber nicht ungestraft vierzig Jahre hindurch einen klingenden Kasten zwischen den Knien. Das beeinflusst das ganze Leben und modelt den Charakter. Die allermeisten Violoncellspieler sind redselig und auffahrend, haben gern das große Wort und reden über allerlei – übrigens nicht ohne Geist. Ein solches Exemplar ist auch Sébastien Zorn, dem Yvernes, Frascolin und Pinchinat die Leitung ihrer musikalischen Streifzüge willig überlassen haben. Sie lassen ihn reden und nach Gutdünken handeln, denn er versteht sich aufs Geschäft. An sein etwas befehlerisches Wesen gewöhnt, lachen sie darüber nur, wenn er einmal »über den Steg hinausgreift«, was für einen Streichinstrumentenspieler, wie Pinchinat respektlos bemerkte, sehr bedauerlich ist. Die Zusammenstellung der Programme, die Leitung der Reisen, die schriftlichen Verhandlungen mit den Impresarios … alle diese vielfachen Arbeiten lagen auf seinen Schultern und gaben ihm vollauf Gelegenheit, sein aggressives Temperament zu betätigen. Nur um die Einnahmen bekümmerte er sich nicht, ebensowenig wie um die Verwaltung der gemeinschaftlichen Kasse, die der Obhut des zweiten Violinisten und in erster Linie haftbaren, des sorgsamen und peinlich ordentlichen Frascolin anvertraut war.