Weltenreise

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Weltenreise
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Julia Beylouny

Weltenreise

Durch die Flut 1

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Durch die Flut 1

Weltenreise

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Kapitel 101

Kapitel 102

Kapitel 103

Kapitel 104

Danke

Impressum neobooks

Durch die Flut 1
Weltenreise

Kapitel 1

Kriemhild

 

Das x-förmige Landekreuz war eines der ersten Dinge, die sie von Boston, Massachusetts, auf sich zukommen sah. Erst als kleine graue Bahn, dann immer größer werdend, bis das Rumpeln und Bremsen der Maschine die Illusion der neuen Welt real werden ließ.

Seit festgestanden hatte, dass sie die Reise unternehmen würde, hatten sich viele Emotionen in ihr abgespielt: Erleichterung und Vorfreude, aber auch Ablehnung und Unentschlossenheit.

Auf den ersten Blick war Boston nicht anders als jede andere Großstadt, die Kriemhild aus Europa kannte – voller Beton, Stahl, Lärm und Dreck. Allerdings wirkte alles größer, weitläufiger und imposanter als daheim.

Boston. Sie war die Auserwählte, die ihr Trost und Zuflucht spenden sollte.

Die letzten acht Flugstunden waren ziemlich ermüdend gewesen – Kriemhild hatte nicht schlafen wollen, um nichts zu verpassen, aber der immer gleichbleibende, endlose Ozean unter ihr und der monoton blaue Himmel über ihr waren bloß langweilig gewesen.

Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn sie den Flug doch verschlafen hätte – wenigstens, um dem Jetlag zu entgehen.

Kriemhild dachte an Justus und schüttelte den Kopf, um die Gedanken an ihn wieder zu vertreiben. Nein, sie war schließlich nach Amerika gekommen, um ihn zu vergessen.

Wie hätte sie ahnen können, dass der Sommer in den Staaten ihr Leben komplett verändern würde?

Jemand hielt ein Schild mit ihrem Namen hoch. Es war nicht das einzige Schild – die Empfangshalle wimmelte nur so von fremden Namen, die von stummen Tafeln leuchteten. Aber ihr Name war der schlimmste von allen und seit der Reise hasste sie ihn noch mehr. Zum hundertsten Mal hatte sie ihn den Amerikanern buchstabiert und ihrem Sitznachbarn den altdeutschen Ursprung erläutert, so dass er inzwischen so staubig und vorurteilsvoll klang, dass sie wünschte, Onkel John würde das Schild endlich in seiner Tasche – oder besser einer Mülltonne – verschwinden lassen. Kriemhild eilte schnell auf ihn zu und ließ sich umarmen. Zu ihrer Überraschung schmeichelte sein Akzent ihrem Namen so sehr, dass sie beschloss, ihn vorerst noch nicht abzulegen.

„Kriemhild, schön, dich zu sehen! Geht es dir gut? Wie war dein Flug? Willkommen in den Staaten!“

Sie hatte Onkel John zuletzt als Kind gesehen, als er und Tante Margarethe zur Silberhochzeit ihrer Eltern zu Besuch gewesen waren. Sie war damals erst fünf Jahre alt gewesen. Ihre Mutter hatte sie ziemlich spät bekommen – mit zweiundvierzig.

Wenn er das Schild nicht hochgehalten hätte, hätte sie ihn niemals wiedererkannt. Johns Haare hatten ihn in den vergangenen Jahren eines nach dem anderen verlassen und die wenigen, die übrig geblieben waren, waren ergraut. Sein Gesicht war jedoch von so liebenswürdigen Falten durchzogen, dass es den Anschein hatte, er würde ununterbrochen lächeln. Und in dem Moment galt sein Strahlen ihr.

„Du bist groß geworden“, bemerkte er.

„Das ließ sich leider nicht vermeiden. Danke, dass ich den Sommer bei euch verbringen darf. Wie geht es Tante Margarethe?“

„Margret? Sie kann es kaum erwarten, dich zu sehen. Seit Tagen bereitet sie alles vor.“

Seltsam, wie vertraut sie sich nach all den Jahren waren. Kriemhild lehnte sich lächelnd an die Scheibe des Beifahrersitzes. Boston lag hinter ihnen und sie fuhren auf dem Highway 3 Richtung Süden. In etwa einer Stunde würden sie Falmouth erreichen. Während die sagenhafte Landschaft Neuenglands an ihnen vorüberzog, nahm das Kribbeln in Kriemhilds Bauch zu. Etwas sagte ihr, dass sie sich dort wohlfühlen würde. Die Anspannung des Flugs und der Zeit davor fiel langsam von ihr ab und sie spürte, wie Müdigkeit ihren Platz bereitwillig einnahm. Kriemhild seufzte, als sie versuchte, das Bild von Justus in sich fortzuschieben.

„Genieße die Zeit, die vor dir liegt. Dies ist ein anderes Land.“ John riss sie aus den Gedanken und sie nickte.

„Eine ganz andere Welt, wie mir scheint.“

„Du musst müde sein.“

„Schon verrückt. Ich bin um elf Uhr abgeflogen und um dreizehn Uhr angekommen. Dazwischen liegen ganze acht Stunden.“

Onkel John lächelte. Keine halbe Stunde und er war ihr bereits ans Herz gewachsen.

„Wir können irgendwann nach Boston fahren, wenn du magst. Es gibt viele interessante Dinge dort. Zum Beispiel das Old State House, von dessen Balkon 1776 die Unabhängigkeitserklärung verlesen wurde.“

„Danke, Onkel John. Sicher. Warum nicht?“ Ohne Zweifel würde sie dort genügend Ablenkung finden.

Kurz vor Buzzards Bay war sie eingeschlafen, zu überwältigt von all den neuen Eindrücken wie den wunderhübschen Häuschen, die überall in den Ortschaften im typischen georgianischen Stil erbaut waren. Streng symmetrisch verteilte Fenster und Türen, kleine Vordächer und Veranden.

Sie wurde von einem scheuen Räuspern geweckt: „Kriemhild?“

Der Motor des Wagens war abgestellt und sie parkten in der Kiesauffahrt eines hübschen grauen Holzhauses. Weiße Fensterläden umgaben weiße Sprossenfenster, der Rasen war geschnitten und die Beete geharkt.

„Wir sind da.“ Ihr Onkel lächelte. „Tut mir leid, dass ich dich wecken musste. Ich dachte nur, vielleicht wäre ein Bett bequemer zum Schlafen.“

Sie gähnte und reckte sich, den Blick noch immer auf das Anwesen der Gilberts gerichtet.

Im selben Moment öffnete sich die Haustür und eine ältere Dame folgte den Sprüngen eines munteren Labradors. Sie war zierlich und Kriemhild staunte, wie sehr ihr Äußeres dem ihrer Mutter ähnelte.

„John, Kriemhild! Da seid ihr ja endlich! Herzlich willkommen!“ Margret riss die Autotür auf und bevor Kriemhild aussteigen konnte, lag ihre Tante in ihren Armen. „Mein liebes Kind, du bist eine richtig hübsche junge Dame geworden! Lass dich ansehen!“

„Hallo, Tante Margret. Ich freue mich, dich zu sehen.“

John begab sich an den Kofferraum und begann, das Gepäck ins Haus zu tragen. Als Kriemhild endlich aus dem Sitz kroch, stupste eine feuchte Hundenase an ihre Hände. Sofort beugte sie sich hinab und nahm das Tier in Augenschein. „Hallo, wer bist du denn?“

„Das ist unser Jacob“, sagte Margret stolz. „Er hat dich bereits ins Herz geschlossen. Komm, ich zeige dir dein Zimmer. Sicher willst du dich ein wenig frisch machen?“

Drinnen war es so, wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Urig und gemütlich. Weiß vertäfelte Wände, braune und beigefarbene Teppiche und Holzdielen vermittelten einen warmherzigen Charme. Eine weiße Wendeltreppe führte hinauf in ihr Zimmer, von wo aus der Ausblick des halbrunden Fensters direkt auf den Strand und das Meer hinaus ging. Die Fensterbank war breit genug, um auf ihr sitzen zu können. Tante Margret hatte dicke, altrosafarbene Kissen darauf ausgelegt. Der gleiche Stoff, aus dem auch die schweren Vorhänge und die Tagesdecke des Bettes genäht waren. Durch das geöffnete Fenster drangen das Kreischen der Seemöwen und das Rauschen der Brandung an ihr Ohr.

„Ich hoffe, dir gefällt unser Gästezimmer. Ich habe extra alles neu hergerichtet.“

„Gefallen? Tante Margret, ich fühle mich wie in einem Traum! Das alles ist viel mehr, als ich mir vorstellen konnte.“

„Ja –“, Onkel John erschien im Türrahmen, „und wenn die Sicht klar ist, kannst du bis nach Martha’s Vineyard schauen. Da drüben am Horizont.“

Kriemhild blickte über den endlosen Naturstrand, der zum Land hin in hohe Dünen mündete.

Das Fleckchen Erde grenzte an ein Paradies.

„Komm, John. Gönnen wir unserem Gast ein wenig Ruhe. Kriemhild ist sicher wahnsinnig müde.“

„Tante Margret? Würdest du mich bitte in zwei Stunden wecken? Sonst kann ich abends nicht schlafen. Vielleicht schaue ich mir nachher den Strand an.“

„Gern. In der Zwischenzeit informiere ich deine Mutter, dass du gut angekommen bist.“

Bevor Kriemhild sich schlafen legte, schaltete sie ihr Handy ein. Sie hatte es am Morgen vor dem Flug abgestellt und war gespannt, ob ihr jemand geschrieben hatte. Ein leises Piepen kündigte den Empfang einer Nachricht an. Sie war von Justus.

Bitte ruf mich an, wir müssen reden.

Kapitel 2

Samuel

Er saß in den Dünen. Mit seinen für die Jahreszeit bereits ziemlich gebräunten Armen umschloss er die Knie und starrte aufs Meer hinaus. Die Sonne stand im Westen, irgendwo über der Bay – nicht mehr lange und sie würde golden in die Flut sinken.

Seine Sandalen lagen irgendwo neben ihm. Er hatte die Zehen in den Sand gebohrt und versuchte, die Wut in sich abzubauen – die Wut und das Gefühl, die Nase von allem gestrichen voll zu haben. Er war es satt, täglich hinunter zu fahren, nach Woods Hole. Er hatte die Vorträge seines Vater satt, und den mitleidigen Blick seiner Mutter. Und das gackernde Lachen seiner Schwester, wenn sie von ihm sprach, was sie in letzter Zeit immer öfter tat. Sie war fein raus, soviel stand fest! Während Sam sein Dasein in jener Konstellation noch lange fristen würde. Aber er war nahe dran, eine Lösung zu finden. Täglich kam er an den Strand und mit jeder Minute, die er in den Dünen verbrachte, spürte er, dass es nicht mehr ewig so weiter gehen konnte.

In der Ferne, nahe des Hafens, legte sich der Pier dunkel über das Wasser. Eine Gruppe Jugendlicher streifte vorbei und ihr Lachen drang zu Samuel herüber. Ohne hinzusehen wusste er, dass sie ihn musterten und wieder ihre dummen Späße machten. Er atmete tief durch und beschloss einmal mehr, sie zu ignorieren. Was wussten die schon, die Einfaltspinsel?

Samuel richtete seinen Blick auf die Sommerhäuser der Großstädter. Die Strandvillen und Bungalows, die bald wieder über die warme Jahreszeit von lärmenden Touristen bezogen werden würden. Dann könnte er einmal mehr losziehen und die ignoranten Leute darauf aufmerksam machen, ihren Müll gefälligst nicht in die Dünen zu werfen. Warum nur? Warum war das Los auf seine Familie gefallen?

Der Wind frischte auf und Samuel bemerkte eine schmale Figur, die am Ufer entlang spazierte, barfuß, während die Wellen sanft an ihren Knöcheln nagten. Er kniff die Augen zu engen Schlitzen zusammen, um schärfen sehen zu können. Kein Zweifel, das Mädchen war neu in der Gegend. Er hatte sie noch nie zuvor gesehen, aber ihr blutrotes Haar zog ihn augenblicklich in seinen Bann.

Es floss in langen Wellen an ihrem Oberkörper hinunter oder tanzte im Wind, wenn er es erfasste. Sie war allein. Ab und zu bückte sie sich in die Wellen und hob etwas aus der Brandung, um es zu begutachten und dann zurück ins Meer zu werfen. Immer wieder blieb sie stehen, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute hinaus auf den Horizont.

Samuel seufzte selbstverachtend. Er hatte gegen eine seiner eigenen Regeln verstoßen. Sein Blick wanderte zurück zum Pier, wo die Jugendlichen sich lärmend umherschubsten. Dann schaute er erneut zu dem fremden Mädchen hinüber. Was gäbe er drum, ihre Gedanken zu lesen. Ach, verdammt!

Samuel beschloss heimzufahren. Seine Eltern waren ohnehin schon aufgebracht genug, wegen der Gespräche, die sie in letzter Zeit immer wieder geführt hatten. Gespräche, die grundsätzlich im Streit geendet und zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt hatten. Er wollte ihnen nicht noch einen zusätzlichen Anlass zum Ärger geben.

Er angelte nach seinen Sandalen und schlug sich den Sand von den Shorts und den Knien, als ihm plötzlich etwas an die Brust sprang. Eine kalte, nasse Nase stupste gegen seine Wangen, während zwei starke Fellpranken sich gegen seinen Oberkörper stützten. Der Hund wedelte fröhlich mit dem Schwanz, als er Sam mit heraushängender Zunge ansah. Samuels Wut und all seine Aggressionen lösten sich augenblicklich in Luft auf. Er grinste breit und klopfte die Flanke des Tieres. „Na, mein Junge, was treibt dich denn in der Dämmerung noch in den Dünen herum?“

Er wuschelte das helle Fell des Labradors und tollte übermütig mit ihm umher. Das Tier hatte seine wahre Freude an dem Spielkameraden und auch Samuel genoss die erfrischende Ablenkung. Er liebte Tiere mehr als Menschen. Sie hatten etwas Ursprüngliches, Unverfälschtes. Sie kannten nur Gut und Böse. All die nervigen Grauzonen der menschlichen Psyche blieben ihnen verschlossen. Dann durchbrach ein heller Ruf das Rauschen der Wellen.

„Jacob? Jacob, komm her!“

Es kam vom Strand. Das fremde Mädchen rief nach dem Hund und ihre Stimme säuselte wie die See nach einem Sturm. Ein angenehmer Schauer durchfuhr Sam. All seine Sinne fokussierten sich auf sie. Für eine Sekunde lang gab er dem nach, doch als es ihm bewusst wurde, blockte er sofort ab.

 

„Jacob, wo steckst du?“

Instinktiv duckte Sam sich in die Dünen hinab, nahm den Vierbeiner zu sich und strich ihm liebevoll das Fell. „So heißt du also, ja? Jacob? Was für ein feiner Name. Na los, Jacob. Hau schon ab, sie ruft nach dir.“ Dann klapste er ihm auf die Hüfte und der Labrador streunte zurück an den Strand.

„Da bist du ja. Komm her, das machst du nicht noch einmal, verstanden?“

Der Hund wedelte seinem Frauchen zu und schaute immer wieder in die Dünen, um sie auf ihn aufmerksam zu machen.

„Was ist denn da? Ich sehe nichts. Komm her, wir gehen zurück zum Haus. Ich hoffe nicht, dass du die Möwen gejagt hast.“

Ein letztes Bellen hallte über den Strand. Sam erhob sich aus seinem Versteck und blickte dem rothaarigen Mädchen lange nach. Wieso wurde er das Gefühl nicht los, dass sie anders war als die Mädchen, die er aus der Gegend kannte?

Du hast sie schon viel zu lange angesehen, vergiss sie einfach. Seine innere Stimme holte ihn schnell in die Realität zurück. Er drehte sich um und stapfte durch die Dünen zu seinem Wagen.

Kapitel 3

Margarethe

Kurz zuvor stand Margret auf der Veranda und genoss die Abendstimmung, während sie ihrer Nichte lächelnd nachblickte. Dabei zog sie den Strickschal enger um ihre zierlichen Schultern. Der Wind frischte auf, doch der Himmel erstrahlte in einem wunderschönen Goldorange. Nicht mehr lange und die Sonne würde untergehen.

Kriemhild stapfte barfuß durch die Wellen und erinnerte Margret an sich selbst – damals, vor fast fünfzig Jahren, als sie zum ersten Mal den malerischen Strand erkundet hatte. Die Landschaft hatte sich seitdem beinahe nicht verändert.

Dabei war alles anders gekommen, als sie es sich mit ihren süßen siebzehn Jahren erträumt hatte. Manchmal, wenn sie nachts lange wach lag und John tief und fest an ihrer Seite schnarchte, erinnerte sie sich daran, dass sie auch Deutsche war. Und dann kam es ihr vor wie ein dunkler Traum, ein Traum aus einer längst vergangenen Zeit – der Nachkriegszeit. Jahre, denen noch immer der Schrecken anhaftete, den die ganze Welt am liebsten vergessen und ungeschehen machen würde.

Ein leises Klacken auf den Holzbohlen der Veranda ließ Margret aufblicken. Jacob setzte sich direkt auf ihre Zehenspitzen – wie er es immer tat – und sah sie mit treuen Augen an. Ihre Hand glitt hinab und kraulte sein Ohr, als sie flüsterte: „Lauf, Jake. Lauf zu Kriemhild, sie sieht so einsam aus auf dem endlosen Strand.“

Sofort erhob sich der Hund, wedelte mit dem Schwanz und lief los, als hätte er verstanden, dass jemand gerade einen Freund brauchte.

Margrets Gedanken fielen in der Zeit zurück.

Es war ein paar Straßen weiter von dort, mehr zum Stadtzentrum hin. Ein Wagen fuhr vor, ein silberroter Lowrider, Cadillac. Wie John das Auto geliebt hatte! Bis zum bitteren Ende, als er es in Old George’s Liquerstore parkte, nachdem er mit seinen Kameraden zu tief ins Glas geschaut hatte.

„Siehst du? Habe ich dir zu viel versprochen, mein Herz?“, fragte John.

Margret schaute an der Fassade des weißen Holzhauses hoch. Es war der typische Kolonialstil, ein für die Gegend beinahe zu pompöses Haus mit Veranda, die sich hervorhob und den Balkon im ersten Stockwerk mit einbezog. Aber nach allem, was sie bisher von den Gilberts mitbekommen hatte, passte es wie die Faust aufs Auge. Sein Vater war ein sehr angesehener Arzt, der John im Vertrauen eine Alternative der anderen Art vorgeschlagen hatte, wie sie später herausfand. Eine Alternative, das naive, schrill lachende deutsche Mädchen mitsamt ihrem kleinen „Problem“ wieder loszuwerden.

Sie liebte John noch mehr, wenn sie daran dachte, wie er sie vor seinem Vater immer in Schutz genommen hatte.

„Es sieht sehr hübsch aus“, antwortete sie. „Können wir es uns von innen anschauen?“

„Natürlich! Wieso glaubst du sind wir sonst hier?“

Er stieg aus, ging um den Wagen und öffnete ihr – wie es sich gehörte – die Tür, um ihr mit starker Hand beim Aussteigen behilflich zu sein. Sie stöhnte kurz auf, bevor sie aufrecht auf dem Gehweg stand. Besorgt sah John sie an. „Ist alles in Ordnung?“

„Ja, alles bestens. Lass uns hineingehen.“

Das Sommerhaus der Gilberts entpuppte sich als das Romantischste, Verrückteste und Extravaganteste, was Margret in ihrem bisherigen Leben geboten bekommen hatte. Die Schwierigkeiten jener Zeit – vor allem die gesellschaftlichen – blendete sie grundsätzlich aus, wenn sie an ihr erstes gemeinsames Heim zurückdachte. In dem Haus hatte sie die schönsten und zugleich leidvollsten Stunden ihrer – wie Vater sagte verkorksten – Jugend verbracht.

Johns Arme umschlangen sie zärtlich, als er zu ihr auf die Veranda hinaustrat und ihre Schläfe küsste. „Ist das nicht ein wundervoller Abend?“

„Ja, das ist es.“ Margret nickte und fand zurück in die Gegenwart. „Einer von vielen, die wir beiden erleben durften. Womit haben wir das nur verdient?“

John lächelte. Sie konnte seine Mundwinkel an ihrer Wange spüren. „Woran hast du eben gedacht? Ich kenne diesen Ausdruck in deinen Augen. Hast du jemals bereut, hier zu sein?“

„Nein! Das weißt du doch. Auch jetzt nicht, wenn ich sie betrachte. Sie ist so groß geworden, und bildhübsch. Ganz anders als ihre Mutter. Was meinst du, John, werden die Jungs aufmerksam auf unsere Kriemhild?“

„Das will ich doch hoffen! Wir dürfen stolz darauf sein, eine so wunderbare Nichte zu haben, meinst du nicht?“

Margret nickte. Eine vernarbte Wunde in ihrem Herzen riss erneut auf und begann zu bluten. Sie spürte, dass John ihren Schmerz erahnte. Er drehte sie herum, strich eine graue Strähne aus ihrer Stirn und lächelte. „Komm, wir sollten unserem Gast ein unvergessliches Willkommensessen bereiten. Sie muss nach der langen Reise ausgehungert sein.“

Der Tisch war eingedeckt und die Dunkelheit würde sehr bald hereinbrechen. Margret entzündete die beiden schmalen Kerzen, die sie in die silbernen Halter gesteckt hatte. Sie rundeten die feine Tischdekoration ab. Schritte ertönten auf der Veranda, als Kriemhild erschien, die Haare vom Wind zerzaust, und die linke Hand am Halsband des Hundes. Sie strahlte über das ganze Gesicht. Ihre helle Haut glitzerte vom Salz und der Gischt, die in der Luft lagen. „Seht mal diesen Streuner hier. Er hat in den Dünen die Möwen gejagt.“

Jacob wedelte unschuldig mit dem Schwanz und ließ ein leises Jaulen hören. Margret lächelte und ging ihm entgegen. „So? Hast du das wirklich getan? Los, ab in deinen Korb!“

Sie legte die roten Haare hinter Kriemhilds Ohren. „Er wird beim Essen betteln. Lass dich nicht darauf ein, hörst du? Er hat bereits einen Napf leergefressen. Sein Blick wird versuchen, dich zu täuschen.“

Das junge Mädchen schaute zum Tisch hinüber. Margret entging die beschämte Röte auf ihren Wangen nicht.

„Du hättest mich rufen sollen, Tante. Ich hätte dir beim Decken geholfen.“

„Papperlapapp. Wozu habe ich meinen John? Er liest mir die Gedanken von den Augen ab und schon deckt sich der Tisch von selbst. Geh hoch auf dein Zimmer, zieh dich um und dann iss etwas mit uns. Du bist doch sicher sehr hungrig?“

„Ja, das bin ich tatsächlich. Ich beeile mich.“

Sie lief die knarrende Wendeltreppe hinauf. Margret stellte die weißen Porzellanschüsseln bereit. Die Pellkartoffeln dampften. Dazu hatte sie Matjesfilet in Sahnesauce mit Lauch, Nüssen und Rosinen vorbereitet. John schaute über ihre Schulter. „Hoffentlich mag sie Fisch.“

„Elisabeth sagt, es sei ihr Leibgericht.“

„Mein unverbesserliches Herz. Du tust alles, damit Kriemhild für immer bleibt, hab ich Recht?“

„Gönn mir diese kleine Illusion. Es ist doch nur einen Sommer lang.“

„Es schmeckt sehr gut! Danke, Tante Margret.“

„Das freut mich. Aber erzähl mal, wie hat dir unser Strand gefallen?“

Sie musterte das Mädchen und der Anblick ließ ihr Herz höher schlagen. Kriemhild war zwar blass, doch es war eine gesunde Blässe, vornehm, wie Mutter sagen würde. Ihre Wangen und die Nasenspitze waren mit kleinen Sommersprossen gesprenkelt. Ihre schlanke Figur hatte sie in ein enganliegendes Strickkleid gehüllt, das Haar von der Stirn und den Schläfen zurückgebunden. Im Kerzenschein schimmerte es mahagonifarben. Von Kriemhilds Kummer bemerkte man nicht den Hauch einer Spur.

„Der Strand ist Wahnsinn! Ganz anders als unsere Nordsee. Ich liebe das Meer.“ Sie stockte. „Aber meistens hasse ich es.“

Margret bemerkte, wie der Blick ihrer Nichte ins Leere fiel. Mit einem Räuspern hoffte sie, die Stimmung zu retten. „Was hast du denn für den Sommer geplant? Womit können wir dir eine Freude bereiten?“

„Oh, es reicht schon aus, dass ich einfach nur hier sein darf. Ich frage mich die ganze Zeit über, wieso ich erst neunzehn werden musste, um euch zu besuchen? Es ist so wunderschön hier, ich hätte jeden Sommer bei euch verbringen sollen!“

John ergriff die Hand seiner Frau und sie wünschte, er würde das leichte Beben nicht bemerken.

„Du wirst sicher schnell Freunde in deinem Alter finden. Wenn die Saison erst begonnen hat, wimmelt es hier nur so von hübschen Kerlen aus der Stadt. Dazu Strandpartys … Glaub mir, langeweilen wirst du dich jedenfalls nicht.“

Kriemhilds Handy piepte. Sie hatte es mit heruntergebracht und wenn sie zuvor noch gestrahlt hatte, erstarrte sie bei dem Geräusch zu einer leblosen Säule. Mit ein paar Klicks öffnete sie die Kurzmitteilung, überflog sie und legte das Telefon schweigend zurück auf den Tisch. Dann stocherte sie mit der Gabel unentschlossen in ihrem Essen.

„War er es wieder?“, fragte Margret

Kriemhild nickte. „Justus weiß nicht, dass ich hier bin. Er will unbedingt mit mir reden, sagt er.“

John hob eine Braue. „Vielleicht solltest du das Ding ausschalten. Du hast Urlaub und wirklich ein wenig Erholung verdient!“

„Vielleicht. Danke für das Essen. Ich bin ziemlich erschöpft. Gute Nacht.“

Sie erhob sich und ging die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Margret seufzte. John nahm ihre Hand und lächelte. „Weißt du, irgendwie verstehe ich diesen jungen Burschen. Ihr Anblick kann einem wirklich den Verstand rauben.“