Zwei in Italien

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Zwei in Italien
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IMMER SCHON hatten wir uns viel auf unsere Freundschaft eingebildet. Wir fanden sie anders als andere Freundschaften und betonten ihr heiteres Schweben in unstofflichen Räumen. Wir lächelten nachsichtig über Liebes- und Leidensgeschichten.

Liebe, sagten wir, sei eine Reise – mit Etappen und Aufenthalten – von Ägypten nach Island. Immer dieselbe Reise. Bestenfalls befände man sich zuletzt auf einer Mittelstation im Zustand wohltemperierter, gelassener Freundschaft.

Darum fanden wir es zweckmäßiger, die Liebesgeschichte zu umgehen und uns von Anfang an einer dauerhafteren Sache zuzuwenden. Außerdem standen wir nicht in der ersten Jugend. Eher standen wir in der vorletzten Jugend.

Was mich betraf, so war ich es müde geworden, mich mit Komplexen herumzuschlagen und die Mühen und Plagen der Eitelkeit zu ertragen. Ich fand, dass der ewige Kampf um ihn – wenn man die Lupe der kaltblütigen Vernunft nahm und ihn innen und außen scharf betrachtete – sich in den seltensten Fällen lohnte.

Ich hatte einige »Ihns« gekannt. Anfangs hatte ich sie geblendet und lupenlos gesehen und sie als bedeutungsvolle, erstrebenswerte Geschöpfe bezeichnet. Später waren ihre Fehler und Eigenarten wie Maden aus prunkvollen Äpfeln gekrochen. Sie hatten allesamt faule Stellen. Ich auch. Aber lieben bedeutet, sich gegenseitig seine Fehler zu verzeihen – nachdem man sich lange bemüht hat, die eigenen zu verbergen und die des anderen zu übersehen.

Ich wollte nichts mehr verbergen und nichts mehr übersehen.

Paul sagte, ihm ginge es ebenso. Er wollte es gemütlich haben. Es sei entsetzlich anstrengend, dauernd zärtlich zu sein. Wäre man aber nicht dauernd zärtlich, so seien die Frauen beleidigt. Beleidigte Frauen aber seien das Ärgste, was man ihm zumuten könne.

Später erfuhr ich, dass es noch andere Dinge gab, die man ihm nicht zumuten konnte. Beispielsweise Pyjamas, an Stelle der Nachthemden, die er bevorzugte.

In Gegenwart liebender Frauen allerdings, sagte er, sei er gezwungen, Pyjamas zu tragen, die ihn überall kniffen, sodass er kein Auge schließen könne. Zudem, sagte er, hätten liebende Frauen das Bedürfnis, an seiner Schulter zu schlafen. Seine Schulter aber habe das Bedürfnis, den Kopf der liebenden Frau abzuschütteln. Davon wache die liebende Frau dann meistens auf. Und wenn er sich umdrehte, sei sie beleidigt. Beleidigte Frauen aber …

Aus allen diesen Gründen fanden wir, dass unsere Freundschaft das Beste war, was man uns hatte bieten können – wir lobten und priesen sie und hätten sie täglich gepriesen, wenn wir uns täglich gesehen hätten.

So aber, wie die Dinge nun einmal lagen, lebten wir in verschiedenen Städten, und oftmals vergingen Wochen und Monate, ehe wir uns wiedersahen.

Manchmal gefiel es dem Schicksal, uns an den gleichen Arbeitsplatz zu stellen, manchmal aber, meistens, gefiel es dem Schicksal nicht. Darum war es ein außergewöhnlicher Tag, an dem Pauls Brief kam. Kein gewöhnlicher Tag, kein gewöhnlicher Brief.

IN diesem Brief stand, dass er zwei Wochen Zeit hätte, dass er Geld in Italien liegen habe und dass er Lust hätte, zu reisen. Bis dahin las ich den Brief mit wohlwollendem Neid.

In den nächsten Zeilen aber stand, dass er es nett fände, wenn ich mitkäme, es sei langweilig für ihn, den Mammon allein zu verbrauchen.

Plötzlich hörte ich Palmen rauschen und sah Paläste und Säulen. Ich war noch nie in Italien gewesen, aber ich hatte mir lebenslänglich gewünscht, dort zu sein.

Ich war so glücklich, dass ich eine Stunde lang kettenrauchte. Dann wartete ich auf den Schaden, den ich davontragen musste, sofern die warnenden Nikotinartikel in den Zeitungen recht hatten. Aber vorläufig trug ich ihn nicht davon.

Gleichzeitig fiel mir ein, dass ich vor längerer Zeit Lire verdient hatte, die noch unbenützt dalagen. Eine kleine Summe, aber sie würde Pauls Mammon abrunden.

Wenn ich rechtzeitig telegrafierte, würde der Rechtsanwalt, der die Lire verwaltete, sie für mich abheben können. Der Rechtsanwalt wohnte in Bozen, und ich hatte ihn früher gut gekannt.

Und dann fiel mir ein, dass meine Koffer, die solid, aber betagt wirkten, nicht zu Pauls Mercedes passen würden (Luxusausführung, lang gestreckt, mit viel Wagen vorne und hinten).

Aber irgendjemand würde mir Koffer leihen. Von da an rannte ich. Ich rannte zum Telegrafenamt, ich rannte zu Else, die mir den großen, und zu Helga, die mir den kleinen Koffer lieh. Dann kaufte ich eine Kappe, nicht der Kappe, sondern des Schleiers wegen, der an ihr hing und dessen Rand gerade dort über meine Nase lief, wo der Kummer saß. Der Kummer bestand darin, dass die Nase sich erstmals entschlossen hatte, sanft nach Süden zu wandern und dann die Richtung verloren hatte, sodass sie ein wenig fragend in der Luft stand.

Ich lief und rannte und packte ein. Zuletzt kamen noch drei Telegramme. Im ersten stand, dass ich in Salzburg abgeholt werden würde, dass wir aber nach München müssten, weil Paul am nächsten Morgen noch dort zu tun hätte. Im zweiten stand, dass ich einen Tag früher kommen sollte. Im dritten stand, dass ich noch einen Tag früher kommen sollte. Dadurch geriet ich in eine Art Strudel, aus dem ich mich nur mit Mühe wieder herausfand.

Dann fuhr ich ab.

UNTERWEGS stiegen graue Sorgen in mir auf. Hatte ich das Datum richtig gelesen? Oder stand ich in Salzburg allein auf dem Bahnsteig, umgeben von Einsamkeit und Verwirrung?

Würde ich mit Gepäckträgern lange Gespräche führen, nur um nicht ganz allein zu sein?

Würde der Rechtsanwalt die Lire freibekommen, oder saß ich mitten in Italien ohne eine einzige Zigarette – denn wie ich Paul kannte, würde er mir großzügig drei Würste, fünf Zahnbürsten und sechs Bonbonnieren schenken, aber nicht eine einzige Zigarette. Nichtraucher sind unempfindlich gegen Rauchergelüste. Sie wollen den Raucher entwöhnen, sie geben vor, um seine Gesundheit besorgt zu sein. In Wirklichkeit können Nichtraucher die behagliche Sattheit nicht leiden, mit der der Raucher sich dem Rauchen hingibt. (Ungefähr wie dem Nüchternen der Anblick des Betrunkenen zuwider ist.)

Für fünf, sechs Tage ungefähr reichte mein Vorrat, falls die Grenzbeamten ihn nicht entdeckten.

Dann lief der Zug in Salzburg ein.

Als ich auf dem Bahnhof stand, sah ich mich suchend um. Da Paul nicht da war, sah ich mich so lange um, bis der letzte Gepäckträger sich im Gewühl verloren hatte.

Ich nahm Elses großen und Helgas kleinen Koffer. Ich hatte mir vorgestellt, dass ich federnd über den Bahnsteig gehen würde, aber Frauen, die Koffer tragen und wie einseitig beschwerte Küchenwaagen aussehen, verlieren viel Federndes aus ihrem Gang.

Unten auf dem Bahnhofplatz lachten und plauderten diejenigen, die Gepäckträger hatten und abgeholt worden waren. Frohe, sorglose Menschen. Ich stellte die Koffer neben mich und überlegte, was zu tun sei.

Natürlich hatte ich mich im Datum geirrt, oder Paul stand auf der Autobahn mit einer Panne – falls ihm nichts Schlimmeres passiert war.

Ich sah den Wagen, der über die Straßenböschung hinausschoss und im Wasser schwamm, mit dem Kopf, Pauls Kopf, nach unten … Ich sah den Wagen in Form eines Kerbtiers an einen Baum gepresst …

Dann legte sich von hinten eine Hand auf meine Schulter, und Paul sagte: »Grüß dich« oder etwas Ähnliches. Ich verstand nur, dass er lebendig dastand und lachte. Worauf ich vor Freude einen meiner Anfälle bekam. Sie bestanden darin, dass ich albern zu lachen anfing und nicht wieder aufhören konnte … der Kitzel saß im Hals und in der Brust und schüttelte mich, sodass ich mich selbst zur Ordnung rief und den besten Willen hatte, vernünftig zu sein, aber es half nicht, es musste sich von selber legen. Paul behauptete, dass meine Anfälle leider ansteckend seien, und so setzten wir die wortlose Begrüßung noch eine Weile fort.

Dann erfassten wir, dass plötzlich doch noch ein Gepäckträger vor uns stand, der uns besorgt ansah. Worauf wir ernst wurden und nach Kleingeld suchten. Da ich aber noch nie einen Menschen gesehen habe, der im rechten Augenblick Kleingeld findet, so gaben wir ihm in der Eile Großgeld und ersahen aus dem Glanz seiner Augen, dass er uns zu den netten Bourgeoisen rechnete, im Gegensatz zu den verdammten.

Wir standen vor dem Mercedes. Es gab keinen schöneren, er sah aus wie ein schlankes Pferd mit hellem, glänzendem Fell. Die Polster innen hatten Armstützen, und man saß so tief und geborgen, als säße man abgetrennt von jeglicher Wirklichkeit.

Der Gepäckträger verschwand, und jetzt erst, da der Wagen leise dahinglitt, begrüßten wir uns.

Flüchtig bemerkte ich, dass Paul braun gebrannt war und gut aussah. Ich bemerkte den hellen Anzug, die hellen Haare, die Augen, die grau oder grünlich grau und nicht nur in der Farbe veränderlich waren. Sie konnten sanft, freundlich, wütend, ärgerlich, scharf, kindlich, gütig, voll des kochenden Zorns und voll des spiegelglatten Hohns sein.

Derzeit waren sie sanft und humorvoll. In dieser Verfassung brachten sie es zuwege, dass sich in meinem Inneren, zwischen Hals und Magen, ein Teich von Zärtlichkeit bildete. Aber ich tat, als gäbe es keine Teiche, und sagte nur, dass ich mich freute und dass ich mit Salzburg allein zufrieden gewesen wäre – und nun Italien!

»Ja, es wird nett sein, es dir zu zeigen!«

»Es …«, fragte ich, »wo fahren wir denn hin?«

»Nach Rom«, antwortete Paul, und von da an nannten wir die Reise die Pilgerfahrt.

ZUERST pilgerten wir durch Salzburg. Hier hatten wir zusammen gearbeitet, und die Erinnerungen hingen wie Trauben an jeder Ecke und jedem Platz. Zudem war Vollmond. Wir fuhren am Salzachufer entlang, um den Mond im Wasser zu sehen, die treibenden kleinen Mondschlangen in den Wellen.

 

Dann hielten wir auf dem Residenzplatz und wussten, dass der Brunnen, die Weiden, die flachdächigen Häuser, die Festung über uns – dass jeder Platz in dieser Stadt aus Gemälden bestand, erdacht, gemalt von den Händen einer Zeit, die Schönheit mehr liebte als alles andere auf Erden.

Und wir segneten sämtliche Erzbischöfe und Stadtväter, die dieser Schönheit verfallen gewesen waren. Und langsam, den Blick immer noch zurückgewandt, fuhren wir aus der träumenden Mondstadt hinaus und der Grenze zu.

PAUL schritt aufrecht ins Zollhaus – er war ohne Gepäck und hatte nichts zu verbergen. Ich lächelte ungemein vertrauenerweckend und »kein Wasser trübend«, als es sich um meine Koffer drehte. Zigaretten … einige Zigaretten … und öffnete die Handtasche. Aber der Beamte wollte meinen Koffer sehen, den kleinen. Das war nett von ihm, denn die Zigaretten lagen im großen.

Wir fuhren weiter und hielten nur vor dem Chiemsee noch an, um neuerdings Mondschlangen zu sehen, und der Teich in mir dehnte sich noch ein wenig aus.

Paul sagte, dass es nett für ihn sei, August den Starken wieder bei sich zu haben.

Der Starke bezog sich auf ein Bild des verblichenen Herrschers, dessen Haartracht an meine erinnerte, die ich nie oder selten in die gewünschte Form brachte, sodass ich lebenslänglich die ordnungsgemäß Frisierten beneidete.

Es gab Frauen, bei deren Anblick mir geradezu schlecht wurde vor Neid. Frauen mit langen Haar-Vorhängen, Frauen mit glatten Scheiteln. Und ähnliche. Am schlechtesten wurde mir, wenn ich eine zarte, gerade Nase sah, umrahmt von sturm- und regensicheren Löckchen über der Stirn. Glücklicherweise entdeckte ich an jeder Nasenschönheit irgendeinen anderen Fehler – dicke Beine, oder abendfüllende Breitseiten von hinten –, aber Männer entdeckten diese Fehler nie, leider.

Gegen zehn Uhr kamen wir nach München. Ich hatte noch nicht zu Abend gegessen, und mein Magen knurrte diskret. Aber Paul hatte niemals Hunger. Er sagte auch, dass er ein schwacher Esser sei. Ich hatte ihn mehrfach an einem Abend ein Huhn auf Reis, Roastbeef mit Beilagen, Pudding, Käse, Ananas mit Schlagsahne und zuletzt nochmals Käse, Kompott und nochmals Ananas mit Schlagsahne essen sehen. Trotzdem hatte er den männlichen Mut, zu sagen, dass er ein schwacher Esser sei. Allerdings gab es Tage, an denen er mittags überhaupt nichts aß, an diesen Tagen also hatte er gewissermaßen ein Anrecht auf den schwachen Esser.

Diesmal schien er mittags gegessen zu haben, denn als wir in seine Wohnung kamen, die neu war, sodass ich sie noch nicht kannte, hatten wir viel zu besehen und zu bestaunen. Ich hätte sie lieber nach dem Essen besehen und bestaunt, aber trotzdem fand ich sie großartig in ihrer Mischung von kostspieliger Pracht und (noch kostspieligerer) Einfachheit.

Endlich, als ich vor Hunger Falten schlug wie ein schlappes Segel, kam das Abendessen.

Und dann kam noch etwas: Nach all der Freude musste sich eine Senkung zum Trüben, der Schatten eines Kummers einschleichen. Er kam aus einer Hoffnung, die ich genährt hatte, aus der Hoffnung auf eine gemeinsame Arbeit. Die Gemeinsame bestand darin, dass Paul Häuser entwarf und baute, während ich wie sein kleiner Schatten und unter seiner Leitung und Führung die Räume, die er entstehen ließ, mit Wohnlichkeit oder Zweckmäßigkeit zu versorgen hatte, sodass Lampen, Teppiche, Möbel, Farben und Formen in meinem Kopf wie Quellen entsprangen, in Pauls Kopf mündeten, sich dort zu Strömen sammelten oder zurückflossen zu neuen Quellen, die wiederum danach strebten, zum Ganzen zu fließen.

Als ich wegfuhr, hatte ich einen Arbeitsauftrag in Händen, nicht fest in Händen, ich besaß ihn als imaginäres Gut, als Hoffnung, als Wunsch und stille Vorfreude. Ich fand ihn schön: Eine alte Burg, die still und äußerlich unberührt der verfließenden Zeit lange zugesehen hatte, sollte in ein Hotel verwandelt werden. Die Bank, die sie erworben hatte, wollte, um Nutzen zu ziehen, viel Nützliches investieren und den alten Bau, wie die Herren sich ausdrückten, dem Fremdenverkehr erschließen.

Da die innere Umgestaltung schwierig sein würde, sollte Paul den Bau übernehmen, ich sollte adlatische Dienste tun. Wenn Paul einwilligte, würden wir zusammen arbeiten, ich würde Geld verdienen und froh sein und dergleichen mehr.

Vor Kurzem hatte sich Paul über den Plan, der inzwischen gediehen war, erfreut ausgesprochen. Er hatte Herrn Hicks gelobt, der uns den Auftrag geben wollte, und nur Zweifel gehegt, ob er ihn geben würde. Aber nun hatte er ihn gegeben, und ich erwartete, eine große Freude in Pauls Gesicht zu sehen. Aber als ich anfangen wollte, davon zu sprechen, schnitt er mir kurz das Wort ab: Ich sollte nur ja nicht, um Himmels willen nicht von Berufsdingen reden! Er sah dabei so unglücklich und gequält aus, dass ich begriff, es würde gleich mit den Nerven losgehen.

Ich schwieg also, aber ich grämte mich im Stillen. Ich war stolz gewesen, dass Hicks das Projekt »umgehend« verwirklichen wollte – und nun sollte ich nicht davon reden. Weshalb nicht? Was hatte er gegen die nette Burg, die verlassen dalag und darauf wartete, wieder ein wenig Leben in ihre Mauern zu bekommen? Außerdem wartete Hicks auf Nachricht, ob und wann Paul Zeit haben würde, zur Arbeit anzutreten.

Ich hatte vergessen, dass Ruhm- und Lorbeerleute um ihre Zusage gebeten werden wollen. Und dann hatte ich die Nerven vergessen. Aber ich besaß auch Nerven. Und ich hatte lange genug auf die Arbeit gewartet.

Also aß ich den Rest des Abendessens schweigsamer als sonst. Dann fiel mir ein, dass Paul beleidigte Frauen nicht leiden mochte. Und mit der Verlogenheit, die uns allen eignet, fing ich zu reden an. Nicht von der Burg. Von kleinen Dingen und Lächerlichkeiten – und Pauls Gesicht klärte sich auf. »Dann wollen wir also morgen losfahren!«, sagte er heiter zum Abschied, »und ich bitte dich nur um eines: Rede nur ja während der Reise nichts und niemals von diesen ekligen Berufsdingen, die ich dick und über habe bis obenhin!«

Als ich im Bett lag, kamen mir – leider neigte ich dann und wann dazu – ein paar alberne Tränen. Ihm also lag nichts an der gemeinsamen Arbeit, nichts, gar nichts. Ich kam mir unendlich bedauernswert vor. Da hatte ich nun lange gewartet, hatte andere, belanglose Arbeit getan und nicht ein Wort gesagt, als mir Paul vor Monaten eine Gemeinsame verpatzte, weil ihm die Lage des Platzes, der Schlips des Bauherrn oder sonst etwas nicht passte. Ich hatte elegant dazu geschwiegen.

Aber dann fiel mir ein, dass er mich zur Pilgerfahrt eingeladen hatte, und kam mir weniger bedauernswert vor. Herr Hicks, der auf mein Telegramm wartete, schwebte vor meinen Augen. Er schwebte so lange, bis ich einschlief.

AM nächsten Tag stürmte ich aus dem Bett und in das Badezimmer und tat alles mit Windeseile, da ich den Auftrag hatte, um neun in seiner Wohnung zu sein. Ich beschloss, nur in die Wanne zu stürzen, ohne Gemütlichkeit, nur einfach zu stürzen, zu frühstücken, zu packen, in die Kleider zu fahren.

Abgehetzt, aber pünktlich erschien ich in Pauls Wohnung und erfuhr, dass Herr Berris soeben aufgestanden sei und »gleich« käme. Ich ging ins Wohnzimmer und wartete. Ich malte mir aus, wie bequem ich noch jetzt in der Wanne liegen könnte. Dann malte ich mir aus, wie bequem ich noch jetzt im Bett liegen könnte. Ich hatte Lust, noch ein wenig zu schlafen. Aber die Möbel waren so neu, dass es keinen einzigen Platz gab, auf dem man sitzen konnte, ohne um die neue Polsterung besorgt zu sein.

Ich wagte es, eine Zigarette zu rauchen, und fand dann selbst, dass die Asche sich im neuen Aschenbecher störend ausnahm. Von Paul sah ich nichts. Ich hörte nur seine Stimme und erkannte, dass die Nerven wie junge Ziegen aus dem Stall gelassen waren, sie sprangen über die Seele der Frau Abel (der besten aller Wirtschafterinnen), sie sprangen in der Wohnung herum, sie verdammten die Koffer und die Hemden und die Anzüge und alles.

Ich trat auf den Balkon hinaus und bekam Wurzeln in den Beinen. Ich setzte mich in einen der neuen Stühle und bekam Wurzeln in jenem Körperteil, der immer als eine Art Scherzartikel behandelt wird, obwohl er im Grunde nichts Scherzhaftes an sich hat.

Dann fing ich zu grübeln an, warum Körperteile, die man am notwendigsten braucht, keine ordentlichen, vernünftigen Namen haben. Feine Leute benennen sie medizinisch-lateinisch oder gebrauchen Umschreibungen, mit verlegenem Lächeln, aber wohlklingende, nette Namen bekommen sie niemals.

Ich merkte erst, dass ich geschlafen hatte, als Paul mich weckte. Nicht mit rauer Hand. Er tippte mir mit dem Zeigefinger auf mein Kleinhirn und sagte: »Wohl bekomm’s!«

Dann gingen wir mit Koffern und Mänteln die Treppen hinunter. Frau Abel weinte – teils um »ihn«, teils, weil sie die Flasche mit dem Augenwasser versehentlich in den Ausguss geschüttet hatte. Dann fuhren wir ab.

KANNST du mir sagen«, fragte Paul, als wir die Stadt hinter uns hatten, »weshalb Frauen Augenwasser in den Ausguss schütten?«

»Weil sie verwirrt sind, aufgeregt, abgehetzt –.«

Paul schüttelte den Kopf. »Aufregung ist doch kein Grund, um Augenwasser in den Ausguss –.«

Ich schlug vor, das Augenwasser im Ausguss zu lassen und die Gegend zu betrachten! Ich deutete auf einen Baum, der in Blüte stand, kindhaft jung, wie mit weißen Schleiern bedeckt.

»Du hast kein Gefühl für Logik«, sagte Paul streng, »Aufregung, Abgehetztheit – schön. Aber darum ohne jeden Grund mein Augenwasser in den Ausguss –.«

»Aber«, fügte er hinzu, »jetzt schlage ich dir ernstlich vor, über das Augenwasser kein Wort mehr zu verlieren. Schau dort den Baum an, er sieht aus wie eine Braut!«

WIR sahen noch viele Bräute, und überall auf den Feldern kamen die ersten Halme hervor, so jung, so überaus grün, dass die Augen vom Ansehen ebenfalls jung und grün wurden, innerlich. Die Sonne schien auf den Frühling … Vorfrühling … Halbfrühling … Die Bäume waren noch kahl. Im Hintergrund standen die Berge, die mich ängstigten, nicht weil es Berge waren, sondern weil ich kein Gedächtnis hatte für ihre Namen.

Aber Paul stammte väterlicherseits aus dem Norden, und Männer, die aus dem Norden stammen, reisen mit Landkarten im Kopf, sie kennen die Flüsse, die Berge, die Pässe, die Wasserscheiden; sie wissen, dass der Granit aufhört und der Porphyr beginnt und Ähnliches. Ich wusste nichts.

»Na«, sagte Paul wohlwollend und deutete auf einen der Gipfel, der genauso aussah wie der nächste und übernächste Gipfel, »den kennst du doch.«

Ich durchblätterte aufgeregt mein Gehirn. Irgendwo musste die Zugspitze sein, aber jeder Berg war nicht die Zugspitze. Ich gestand, dass ich es nicht wusste.

»Ir-re-para-bel, dein Gehirn«, sagte er kopfschüttelnd. »Man muss doch wissen, wie das heißt, was man sieht!«

Musste man das? Ich war der Meinung, dass man es nicht zu wissen brauchte. Darüber stritten wir eine Weile. Dann war die Landschaft zu schön, um zu streiten, und Paul meinte, wir sollten anhalten und Kaffee aus unseren Thermosflaschen trinken.

Wir hielten am Straßenrand. Es gab aufgeschichtete Baumstämme am Ende des kleinen Wegs, der vom Wald herabkam. Auf diese Stämme setzten wir uns und hatten die Wiesen und Felder vor uns, die kleinen bayrischen Dörfer mit ihren Zwiebelturmkirchen, ihren heiteren Dächern und ihrem tiefen Frieden. Die Leute ackerten auf den Feldern.

»Au«, sagte Paul. Der Becher in seiner Hand war heiß, der Kaffee war zu heiß, er begriff nicht, weshalb Frauen immer heißen Kaffee in Thermosflaschen füllten! Konnten sie nicht lauwarmen einfüllen?

»Und ich begreife nicht«, sagte ich, denn damals hatte ich noch den Mut, dergleichen zu sagen, »weshalb du dir mit solchen Kleinigkeiten die Laune verdirbst!«

»Ich verderbe sie nicht! Die anderen tun es, mit ihren Unzulänglichkeiten, Dummheiten, ihrer Unvernunft und Gedankenlosigkeit.«

Ich fand, dass man ein wenig tolerant sein könnte.

Gott, mit dieser ewigen Toleranz hätte er sich nun lange genug gelangweilt, antwortete er. Auf die Dauer hätte er keine Lust mehr, tolerant zu sein. Und um sein Wort in die Tat umzusetzen, fuhr er mich an: »Man begießt sich nicht mit Kaffee, wenn man Anspruch erhebt auf ein Gran Vernunft!«

Ich hatte einen Tropfen Kaffee auf dem Rock. »Ich hab’ nicht gesehen, dass noch ein Rest im Becher –.«

»Das ist es«, höhnte er, »man sieht nach, ob noch ein Rest im Becher ist, dann erst kippt man ihn auf die Flasche.«

 

Damit kippte er seinen Becher auf die Flasche. Und wie es zugegangen war, begriffen wir niemals, aber der Erfolg seiner eindrucksvollen Belehrung waren zwei lange, breite Flecke quer über seine Hose.

Er besah sie tiefsinnig und grübelte anscheinend darüber nach, wie es möglich gewesen war, dass –.

Ich ging zum Bach hinunter, mit einem reinen Lappen, und trat hinter die Weiden, wo sie am dichtesten waren, da ich einen meiner Anfälle bekommen hatte. Dann legte ich mich in ernste Falten und kam mit dem Tuch zurück, um den Fleck aus der Hose zu putzen. Während des Putzens war es gut, dass mein Gesicht gesenkt war – denn der Anfall war noch keineswegs vorüber.

SPÄTER, als wir wieder im Wagen saßen, kam die Stille mit dämmernden Schatten von den Bergen herab. In allen Hausgärten stand der Vorfrühling mit jungen Wiesen und braun-lila Beeten. Da wir höhergekommen waren, hörten die grünen Hälmchen auf und Schneereste lagen am Straßenrand.

Ihr alle, sagten wir zu den Bäumen, werdet grün und belaubt sein und den Winter vergessen haben, wenn wir zurückkommen … Aber dann wollten wir nicht vom Zurückkommen reden. Jetzt hatten wir alles vor uns.

Wir fuhren auf der Straße, auf der Goethe gefahren war, ohne von Asphalt zu träumen; aber vom Asphalt abgesehen, war es beinahe dieselbe Straße, jedenfalls derselbe Weg, dieselbe Richtung.

Dort, wo er gestanden und aus dem Blick über die Berge die erste Ahnung Italiens erträumt hatte neben dem Denkmal, das ihm die Nachwelt zur Erinnerung gesetzt hatte, blieben wir stehen und hielten eine Art Andacht ab.

Ich saß still im Wagen, rauchte und dachte an Goethe, an Frau von Stein, die zurückgeblieben war und krank geworden war vor Gram um ihn, den frohen Reisenden. Und ich dachte, dass wir – einschließlich der klugen Frau von Stein – nie klüger wurden, auch wenn wir uns noch so klug stellten …

Dann kamen wir neuerlich zu, einer Grenze, denn nun mussten wir durch ein Stück Österreich, und diesmal erwartete ich bestimmt, dass der Beamte den großen Koffer sehen wollte, aber er wollte gar keinen sehen.

Hingegen merkte ich, dass Paul plötzlich ungeheuer zutraulich lächelte und kein Wasser trübte und dass er nach der Kontrolle noch immer blass und angegriffen aussah. Gleich nach den Schranken sagte er, dass er es nicht aushalte, ich müsste es übernehmen. Was übernehmen?

Er sagte, dass er noch einige Markscheine im Koffer hätte, falls das Vermögen nicht reichte, aber nun hätte er deutlich gemerkt, dass er zum Schmuggeln nicht geboren sei.

Frauen, sagte er, seien die geborenen Schmuggler, und ich könne ihm die Gefälligkeit tun und an den künftigen Grenzen die Markscheine übernehmen. Er gab sie mir gleich.

Nun war ich es, die blass und angegriffen aussah. Denn ich war ebenfalls keine »geborene« und hatte der Zigaretten wegen Angst genug ausgestanden. Nun hatte ich doppelte Angst. Aber ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich vor morgen Früh nicht zu schmuggeln brauchte. Er gab mir zudem die besten Ratschläge: Ich sollte die Thermosflasche abmontieren und die Scheine zwischen den äußeren und den inneren Boden legen, oder die Haarbürste abmontieren oder den Zahnbürstenbehälter –.

Ich entschied mich für die Haarbürste. Ich brauchte nur sechs kleine Schrauben aus dem Deckel zu nehmen, falls sie sich nehmen ließen …

»Aber vielleicht«, sagte Paul, »sind sie gerade auf Haarbürsten trainiert …«

So erging es uns mit allem. Wenn wir die Scheine unter die Watte des Wattepakets legen wollten, so waren wir überzeugt, dass die Beamten auf Wattepakete trainiert waren. Zuletzt war ich froh, dass ich keinen Mord begangen hatte. Anscheinend hatte ich für den immensen Ideenreichtum, der den Verbrecher befähigt, auch nur die kleinste Spur seiner Spuren zu verwischen, nur wenig Begabung mitbekommen.

Dann fuhren wir in Steinach am Brenner ein und fanden den Gasthof »Wilder Mann«, der uns empfohlen worden war, aber die Männer, die vor der Tür standen und uns den Weg zur Garage zeigten, waren nicht wild, sondern heiter-freundlich.

Der Weg, sagten sie, sei sehr einfach, man müsse neben dem Haus in den hinteren Hof einbiegen, den Hof überqueren, die richtige Scheune finden, nicht die alte und nicht die neue, sondern die frühere neue. Wenn kein Wagen davorstünde, kämen wir leicht hinein.

Es stand kein Wagen davor, aber im Hof wurde irgendetwas gebaut, und darum lagen drei hohe Lehmberge vor der richtigen Scheune, zwei Kalkberge und viele Holzlatten. Die Männer bezeichneten das alles als unbedeutend, man müsse nur darüber weg oder drum herumfahren. Paul hielt an, mit der Miene müder Hoffnungslosigkeit im Gesicht. Aber die Männer schienen den Wagen nicht für einen Wagen zu halten, sondern für einen netten Ohrwurm, der sich beliebig dünn machen konnte.

Paul tat, was Männer tun, wenn sie Hilfe brauchen, er lächelte zutunlich und leutselig, und ich tat, was Frauen in solchen Fällen tun, ich teilte Trinkgelder und Zigaretten aus. Dann trugen die Männer etliche Holzlatten weg und bastelten an den Lehmhaufen herum, sie wurden nicht kleiner dadurch, aber wir spürten den guten Willen und fühlten so etwas wie Rührung über die unverdorbene Menschlichkeit ihrer ländlichen Seelen.

Paul fuhr über Lehm-, Schutt- und Kalkberge, über Latten und Schubkarren, und ich war überzeugt, dass der Wagen aus dem Lack springen würde wie eine Schlange aus der Haut, denn als er die Berge überwunden hatte, war das Scheunentor so eng, dass Paul lange Zeit vor- und zurückfuhr, wobei ihn die Zurufe der Männer begleiteten. Sie sagten »Ho« und »Jo« und »Hü« und »Hö« und spreizten viele Finger und Arme, und als der Wagen in der Scheune stand, sagte Paul, dass – leider – die Reise hiermit zu Ende sei, denn er brächte ihn nie wieder heraus.

Dann aber gingen wir ins Haus und sanken wie matte Fliegen auf die Bänke der hübschesten Wirtsstube, die wir seit Langem gesehen hatten. Alles in dieser Stube war freundlich, angenehm und wohltuend behaglich. Die Wirtin kam mit der milden Tröstlichkeit eines geschulten Psychiaters an unseren Tisch und kochte alles, was wir wollten, und noch vieles, was Paul wollte, denn jetzt sei er hungrig, sagte er, und er log nicht, er aß zwei Forellen, zwei Beefsteaks und fünf Käsekuchen und bemerkte nachlässig, dass die Fahrt ihn esslustig gemacht hätte.

Dazu tranken wir hellroten Wein, dem man es nicht gleich anmerkte, dass er es »in sich« hatte. Wir saßen dicht nebeneinander, und Pauls Arm und Schulter lagen an meinem Arm und meiner Schulter. Ich nahm an, dass er, der Arm, aus Zerstreutheit dort lag, und darum zog ich, wie zufällig, den meinen weg. Plötzlich fiel mir ein, dass ich männliche Ärmelstoffe mit ihrer Dichte und Wärme und ihrem Geruch nach Wolle und Noppen immer gern gehabt hatte. Für Kammgarn hatte ich weniger übrig. Die Noppenwärme kam wieder näher zu meinem Arm, und diesmal rückte ich ihn nicht weg, und plötzlich merkte ich, dass ich den Kopf ein wenig schief hielt, schief nach Pauls Schulter hin, wie Bäume sich nach dem Licht drehen, und von da an hatte ich alle Kraft nötig, um den Kopf nicht nach dem Licht hin sinken zu lassen, es wäre so angenehm gewesen, ein wenig auszuruhen.

Dazu kam, dass Paul wieder von unserer Freundschaft zu reden anfing und sie als feinste Küche bezeichnete, als Mischung aus Spannung, Vernunft, Klugheit, Zärtlichkeit, Anregung, Heiterkeit und versehen mit einem Ich-weiß-nicht-was-Überguss, der sie undefinierbar schmackhaft mache.

Und heute, sagte er, sei ihm überhaupt sonderbar zumut. Es sei damit angegangen, dass er entdeckt hätte, wie nett ich mich ausnähme, wenn ich Kaffeeflecke herausputze. Er hätte bisher geglaubt, dass mein Charme hauptsächlich ein Gesprächscharme sei, aber er liege zudem noch im Häuslichen, Fraulichen. Und von den Augen weg liefen bläuliche Schatten zu den Schläfen hin, sie sähen gleichzeitig so hilflos und tüchtig aus und seien Zärtlichkeitserreger, Zärtlichkeitsamöben.