Loe raamatut: «Der Stoff, aus dem die Helden sind»
Jürgen Kalwa
DER STOFF, AUS DEM DIE HELDEN SIND
33 Sportreportagen, Essays und Interviews
Arete Verlag Hildesheim
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2022 Arete Verlag Christian Becker, Hildesheim
Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Dies gilt auch und insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Verfilmungen und die Einspeicherung sowie Datenvorhaltung in elektronischen und digitalen Systemen.
Umschlagillustration: Peter Cusack
Layout, Satz und Umschlaggestaltung: Composizione Katrin Rampp, Kempten
Druck und Verarbeitung: CPI, Leck
ISBN 978-3-96423-078-2
eISBN 978-3-96423-079-9
Inhalt
VORWORT
KAPITEL 1
WERKSTOFF – DER STOFF, AUS DEM DIE LEGENDEN SIND
THE SPIRIT
Das Koordinatensystem einer Sportwelt, die Helden produziert, weil sie Helden braucht.
DENKMALPFLEGE
Seit hundert Jahren glorifizieren Amerikas Ruhmeshallen den Sport mit Wallfahrtsorten für nostalgiebeseelte Fans. Allen voran: die Baseball Hall of Fame in Cooperstown.
TOTE LEBEN LÄNGER
Erst ein Gericht beendete das Tauziehen um den Jahrhundert-Athleten Jim Thorpe. So blieben seine sterblichen Überreste in der Stadt, die seinen Namen trägt. Ein Ortstermin.
MIRACLE ON ICE
Der Sieg der amerikanischen Eishockey-Amateure bei den Winterspielen von Lake Placid über die sowjetischen Favoriten gilt als der spektakulärste Außenseiter-Sieg aller Zeiten. Buzz Schneider war nicht nur dabei, sondern mittendrin.
ALLES NUR THEATER?
Amerikas berühmtester Football-Trainer war der Verfechter eines erbarmungslosen Körperkults. Ein Typ wie geschaffen für den Broadway.
VORNE WEG
Das Gelbe Trikot der Tour de France ist das berühmteste Stück Stoff im internationalen Sport. Ein knallfarbenes Hemd mit einer scheckigen Geschichte.
KAPITEL 2
FARBSTOFF – DIE DUNKLE SEITE
MIT GEBALLTER FAUST
Einst geächtet, heute geachtet: Tommie Smith und John Carlos waren die Protagonisten der symbolträchtigen Black-Power-Demonstration von Mexico City 1968. Zwei Interviews mit zwei bemerkenswerten Figuren der Sportgeschichte.
BLACKBALLED
Sein Hymnenprotest sollte auf die Brutalität der Polizei gegenüber seinen schwarzen Landsleuten aufmerksam machen. Statt dessen wurde Colin Kaepernick selbst zur Zielscheibe.
RICHARD LÖWENHERZ
Erfolg im Sport hat gewöhnlich viele Väter. In der Tennisfamilie Williams hatte er nur einen – einen kauzigen Selfmade-Man und Medien-Clown, der gleich zwei Töchter nacheinander an die Weltspitze brachte.
EIN MENSCH AUS PUREM GUTEN WILLEN
Die seltsame Verehrung für den stummen und zitternden Muhammed Ali. Versuch einer Erklärung.
KAPITEL 3
REIZSTOFF – FRAUEN-POWER
„THE CHAMP IS A VAMP“
Für Frauen im Sport gibt es mehr Entfaltungsmöglichkeiten denn je. Die werden jedoch von einer Wertewelt bestimmt, in der Optik oft genug mehr zählt als Leistung.
HERAUS AUS DEM WINDSCHATTEN
Eine Zeit lang war die IndyCar-Serie das perfekte Laboratorium für Wettbewerbsformate, in denen Frauen gegen Männer antreten. Dokument einer Spurensuche.
TIEFENRAUSCH
Obwohl eine Ausnahmeerscheinung in der Männerdomäne der Freitaucher hat Tanya Streeter nie vergessen, was beim Härtetest im warmen Meerwasser alles auf dem Spiel steht: Leben und Tod.
KAPITEL 4
TREIBSTOFF – DAS MENTALE SPIEL
EIN ESKIMO KENNT KEINEN SCHMERZ
Die Ureinwohner von Alaska haben eigene Olympischen Spiele. Mit Sportarten, in denen sich das Leben in einer der härtesten Klimazonen unseres Planeten widerspiegelt.
LUST AUF KARACHO
Für die ersten Mountain-Bike-Helden war die Kamikaze-Abfahrt von Mammoth Mountain die ideale Projektionsfläche für ein schwieriges Projekt: sich so konsequent wie möglich von alten Konventionen zu verabschieden.
AUS EINEM ANDEREN HOLZ
Einblicke in die innere Beschaffenheit des Golfprofis Tiger Woods.
ZUNGE AN DER WAAGE
Wie Andre Agassi den Aufschlag von Boris Becker entschlüsselte, gehört zu den faszinierendsten Fallbeispielen psychologischer Kriegsführung im Sport.
GLAUBENSSACHE
Ein Dialog mit Golfprofi Bernhard Langer über Religion, die Bibel und deren Bezug zum Spitzensport von heute.
NACH 83 STUNDEN OHNE SCHLAF FAHREN DIE MARSMÄNNCHEN MIT
Unterwegs mit dem Race Across America, dem härtesten Radrennen der Welt.
KAPITEL 5
SCHMIERSTOFF – GESCHÄFT IST GESCHÄFT
DOLLAR GEHT’S NIMMER
Kein Sportler besitzt ein derart unverstelltes Verhältnis zum Geld, wie der Boxer Floyd Money Mayweather.
DAS TRENDBRETT
Warum sich Snowboarding immer wieder neu erfinden muss, um einer Generation nach der anderen den coolen Lebenstraum von Freiheit und Abenteuer zu verkaufen.
WO NUR NOCH ZAHLEN ZÄHLEN
Der exzessive Umgang mit statistischem Datenmaterial ist zu einem eigenen Sport geworden. Nicht nur Nerds erliegen der Faszination, ein unkalkulierbares Geschehen berechenbar zu machen.
DIE GRÖSSTE PARTY DER WELT
In Amerika gibt es zwei bedeutende säkulare Feiertage: Thanksgiving Day und Super Bowl Sunday.
KAPITEL 6
SCHADSTOFF – KRIMINAL-TANGO
ZUR STRECKE GEBRACHT
Niemand hat einen größeren Anteil am Sturz von Lance Armstrong. Doch deshalb hält niemand Floyd Landis für einen Helden. Am wenigsten er selbst.
„WIE VIELE KLEINE AUTOUNFÄLLE“
Teure Schadenersatzprozesse haben dafür gesorgt, dass die Langzeitrisiken von Kopfverletzungen in Sportarten wie Football, Eishockey und Fußball ernst genommen werden.
JANE DOE VS. DAS ESTABLISHMENT
Der Fall der amerikanischen Turnerinnen demonstriert nachdrücklich, wie schwer der Kampf gegen sexuellen Missbrauch im Sport ist. Verbände und Funktionäre schützen lieber die Täter als die Opfer.
NARZISSTEN UNTER DER ZIRKUSKUPPEL – RATLOS
Wenn große Stars vom Sockel zu stürzen drohen, sehen sie oft nur noch einen Ausweg aus dem Dilemma: Gestehen, um Vergebung bitten, Reue zeigen. Die Flucht nach vorn kommt allerdings oft zu spät.
KAPITEL 7
BITTERSTOFF – MANCHMAL IST DER WEG DAS ZIEL
IM CAMP
Ein Box-Weltmeister braucht gute Reflexe, ein Gefühl für Balance und Tempo sowie eine Vision. Anders ist die Quälerei vor dem Kampf nicht auszuhalten.
DER TRAKTOR-FAKTOR
Dem Basketball-Genie Don Nelson ist in seiner Karriere so mancher Coup gelungen. Darunter: die Verpflichtung von Dirk Nowitzki. Eines war ihm jedoch nie vergönnt – der Gewinn einer Meisterschaft.
MAGIER AUS EINER FERNEN WELT
Einen Sommer lang erfüllte sich Michael Jordan einen Kindheitstraum. Er wurde Baseballprofi.
DAS VERGESSENE GENIE
Er mag der beste Stürmer sein, den das Mutterland des Fußballs hervorgebracht hat. Doch er stand im wichtigsten Spiel seiner Karriere nicht auf dem Platz. So wurde Jimmy Greaves zum Paradebeispiel für die Schattenseiten eines gnadenlosen Heldenkults.
WIE IN EINEM SCHLECHTEN FILM
Es gibt nur einen Augenzeugenbericht vom letzten offiziellen Spiel in der Tenniskarriere von Steffi Graf. Diesen.
EPILOG
BEND IT LIKE HEIDEGGER
Sinnsuche mit Hilfe von Sport. Das geht durchaus. Ein Gespräch mit einem Philosophen, der so tief im Fußball schürft wie nur wenige.
DER AUTOR
VORWORT
Der Tag war grau, fast zu grau. Aus dicken Wolken nieselte feuchter Schnee und verdeckte die hohen Berge hinter einem dichten Schleier. Die Stimmung schien alles in Watte zu packen.
Die Geräusche.
Das Rot der schweren Schlitten neben dem kleinen Starterhäuschen.
Die innere Anspannung.
Aber vielleicht sollte ich zuerst von den Schlitten erzählen, diesen knapp zwei Meter langen Metallgehäusen, die wie große, aufgebogene Cola-Dosen aussahen. Man setzte sich nicht einfach auf sie. Man schlängelte sich hinein und legte sich auf den Rücken. Dann stemmte man die Füße gegen ein schräg gestelltes Brett und verstaute den von einem Helm geschützten Kopf unter einem dünnen Überrollbügel aus Stahl.
Diese Schlitten gehörten auf der Bob- und Rodelbahn von Park City in den Jahren vor den Olympischen Spielen von 2002 zum Inventar. Man hatte ihnen den Namen Ice Rockets gegeben. Das klang werbewirksam und gefährlich, aber es führte in die Irre. Diese Eisraketen konnten nicht fliegen. Die Parallele existierte in einer anderen Dimension: Einmal angeschoben schossen sie steuerlos die spiegelglatte Rinne hinunter.
Die eigentliche Arbeit leistete die Schwerkraft. Sie beschleunigte das Vehikel auf 80 Stundenkilometer. Der Rest fand im Kopf des Reisenden statt und prägte sich dort für immer ein. Das begann, ehe es überhaupt losging, mit einer suggestiven Panik, ausgelöst von der Vorstellung, dass der Schlitten in einer Kurve hart gegen die Wand rempelt und man anschließend bäuchlings den Rest der 1.300 Meter langen Strecke hinabrast.
Am Ende stellte sich das Ganze als bloßes Spiel mit den Nerven heraus. Besonders in den Steilkurven, wo man sich – angeschnallt und eingeklemmt – wie ein hilfloses Bündel vorkam, wenn der Körper mit dem Fünffachen seines Gewichts Richtung Wand gepresst wurde. Ein Gefühl, als ob einem jemand Bleiplatten auf den Bauch legt.
Nach einer Minute war die Fahrt vorbei. Die Angst verwandelte sich in Euphorie. Ein Effekt, der sich in der Andeutung des Chefs des Utah Winter Sports Park verborgen hatte, als er bei der Begrüßung prophezeite: „Das nächste Mal, wenn Sie von der Bahn hören oder sie sehen, dann wissen Sie, was es bedeutet.“
Das nächste Mal ergab sich tatsächlich, Jahre später, als an derselben Stelle die olympischen Entscheidungen im Rodeln, Bob und Skeleton ausgetragen wurden. Ich sah die Bahn zwar nur von weitem – auf dem Fernsehbildschirm. Aber ich erinnerte mich an diesen Satz und beschäftigte mich damals zum ersten Mal mit der Frage, was es denn „bedeutet“, wenn man das Besondere an einer relativ gefährlichen Sportart schon einmal erlebt hat, aber diese Erfahrung in der Berichterstattung nicht widergespiegelt findet. Was fehlt einem als Zuschauer, wenn einem die Fernsehreporter in Park City die Bahn als bloße Kulisse in einer von Sonne und Schnee verwöhnten Winterlandschaft zeigen? Eine Kulisse, in der Sportler wie routinierte Darsteller in einem Medaillentheater wirken, eingehüllt in windschlüpfrige Kleidung und verborgen unter Helmen mit Vollvisier.
Es gehört nicht sehr viel dazu, und man begreift in einem solchen Moment, dass eine derartige Inszenierung den Stoff, aus dem die Helden der Eisrinne sind, überhaupt nicht zu erfassen vermag. Das Resultat: Ein regulärer Zuschauer, der in seinem Leben vermutlich niemals die Möglichkeit erhalten wird, sich eine Rodelbahn hinabzustürzen, wird nie herausfinden, worin die besondere sportliche Leistung eigentlich besteht.
Das Beispiel aus Park City ist übrigens nur eines unter vielen, bei denen die Medien von heute einen erheblichen Teil ihrer beachtlichen Kraft dazu benutzen, die Darstellung der Realität hauptsächlich in eine Richtung zu lenken: Dorthin, wo sich die vorgefundene Welt auf ein paar simple Aspekte reduzieren lässt. Und sei es auf so absurde Zeiteinheiten wie Tausendstelsekunden. Denn selbst das produziert Dramen und Kontroversen. Bei den Winterspielen von Nagano 1998 etwa betrug der Zeitunterschied nach vier Fahrten zwischen Gold- und Silbermedaille und den beiden deutschen Fahrerinnen Silke Kraushaar und Barbara Niedernhuber nur zwei Tausendstelsekunden. Umgerechnet auf die gefahrene Gesamtdistanz von mehr als vier Kilometern: die Länge eines kleinen Fingers. Zum Vergleich: Der Wimpernschlag des menschlichen Auges dauert 300 bis 400 Tausendstelsekunden.
Wie hanebüchen das alles ist, belegte eine technische Untersuchung zur systemimmanenten Fehlerquote der eingesetzten Lichtschrankentechnologie. Ihr Ergebnis: Sie beträgt bei jedem Lauf zwei Tausendstelsekunden. Es könnte also sein, dass die Platzierung und die Vergabe der Medaillen von Nagano gar nicht korrekt waren. Und dass die Erfolgsprämien der Deutschen Sporthilfe (15.000 Euro für die Goldmedaille, 10.000 für Silber) falsch verteilt wurden.
Aber mal abgesehen von einer Welt, in der eine solche surreale Resultatsdifferenzierung ganz reale Konsequenzen hat: Es wäre im Prinzip gar nicht so schwierig, sich stattdessen im Rahmen des journalistischen Alltags aus einer plausibleren Nähe mit den Persönlichkeiten und Phänomenen im Sport zu beschäftigen und für ein umfassenderes, vielfältigeres und vielschichtigeres Bild zu sorgen. Stoff gibt es mehr als genug.
Dazu müssten Journalisten allerdings an den Ort des Geschehens ein wenig mehr mitbringen als bloße Neugier und Beobachtungsgabe und die Fähigkeit, das Erlebte hinterher nachzuerzählen. Sie müssten sich mit ihrem eigenen Gedächtnis auseinandersetzen. Das Gedächtnis, so hat der Hirnforscher Gerhard Roth mal geschrieben, ist „unser wichtigstes Sinnesorgan“: die Schaltstelle für die fünf anderen Sinne („die Tore des Gehirns zur Welt“1), wo das Erlebte „unter Zuhilfenahme angeborener und erworbener Gestaltungsmuster zusammengefügt“ wird, damit die sinnlich erfahrbare Welt auch tatsächlich Sinn ergibt. „Die aktuellen Sinnesreize sind nur der Anlass für unser Gehirn, bewährte Konstrukte aus dem Gedächtnis abzurufen“ und mit den neuen Informationen abzugleichen.2
Sportjournalisten scheinen theoretisch für das Abgleichen und Zusammenfügen bestens prädestiniert. „Von all den schrägen Vögeln im Zeitungszoo“, schrieb der Schriftsteller Paul Gallico in den dreißiger-Jahren in seinem Buch Farewell to Sport, „ist der Sportjournalist der eigenartigste. Er ist Reporter, Kritiker, Kommentator, Detektiv, PR-Agent, Zyniker und Heldenverehrer, und zwar alles in einem.“3
Für ihn selbst stimmte diese Beschreibung. Gallico betrieb das Metier so intensiv wie kaum ein anderer: beim Schwimmen zusammen mit dem Olympiasieger und späteren Hollywood-Tarzan Johnny Weismuller, beim Golf mit dem Ausnahmespieler Bobby Jones und beim Sparring im Ring mit dem Boxer Jack Dempsey. Das passierte vor einem Kampf, über dessen Vorbereitungen damals alle Zeitungen berichteten. Als Kameras zum ersten Mal ausführlich die Atmosphäre von Trainingslagern einfingen und Material drehten, das später im Stil von Wochenschauen nachvertont wurde. Mit übertrieben klingenden Kommentaren wie diesem: „Firpo knows that Dempsey can throw a punch so fast, you can’t even see it coming.“4
Für diese Einschätzung gab es eine Quelle: Paul Gallico, der wie keiner der angereisten Journalisten so weit gegangen und mit Dempsey in den Ring gestiegen war. Sein Schlagabtausch im August 1923 in Saratoga Springs mit dem damaligen Schwergewichtsweltmeister vor dem Titelkampf gegen den Argentinier Luis Ángel Firpo wurde zu einem eindrucksvollen Selbstversuch. Gallico ging zwar bereits nach einer Minute und 37 Sekunden K.o., aber gab schon eine halbe Stunde später seiner Redaktion, der Daily News in New York, am Telefon einen Erfahrungsbericht durch.5
Der großgewachsene Journalist hatte im Laufe der Jahre viele verschiedene Sportarten ausprobiert, aber vorher noch nie geboxt. Dennoch fühlte er sich in guter körperlicher Verfassung, nachdem er erst kurz zuvor sein Studium an der Columbia University in New York abgeschlossen und dort vier Jahre lang im Achter der Rudermannschaft gesessen hatte. Das sollte sich in der Vorbereitung auf eine Runde mit einem Box-Champion von Format als unzureichend herausstellen. Die Lektion war hart und unmissverständlich, aber ihr Erkenntniswert ließ sich selbst einem unerfahrenen Publikum nahe bringen: „Ich habe herausgefunden“, schrieb Gallico, „dass ein Boxer – so wie ein Soldat im Krieg, der nie die Kugel hört, die ihn umbringt – nicht den Schwinger sieht, der ihn mit einem Mantel aus Dunkelheit bedeckt und für ein Gefühl sorgt, das so wirkt, als würde die Schädeldecke explodieren. Und das einem alle Sinne raubt.“
Sein Experiment, als ungeübter Skifahrer 1936 den olympischen Abfahrtshang am Kreuzeck in Garmisch-Partenkirchen auszuprobieren, war kein minder dramatisches Erlebnis. Als er bei einem Sturz auf halber Strecke auf einer engen Passage direkt neben einer Kante landete, von der der Hang fast senkrecht 600 Meter in die Tiefe abfiel, hatte er „so viel Angst wie noch nie“. Irgendwie schaffte er es „auf wundersame Weise unverletzt“ bis ins Ziel und kam so auch hier zu einer wichtigen Erkenntnis: Bei den Abfahrern handele es sich um „eine großartige Gruppe von Sportlern, die die Bedeutung des Wortes ‚Furcht‘ nicht kannten“.6
Es wäre übertrieben zu verlangen, jeder „schräge Vogel im Zeitungszoo“ (und in den elektronischen Medien von heute) möge sich so unmittelbar wie Gallico mit der jeweiligen Sache auseinandersetzen. Immerhin haben es einige getan und auf diese Weise ihren Lesern das Milieu näher gebracht. So wie der Schriftsteller George Plimpton, als er sich der körperlich herben Erfahrung von Football-Profis auslieferte7. Oder der Journalist Steven Fatsis, der Jahrzehnte später etwas Ähnliches probierte8. Und was mit dem Blick auf die besondere Rolle einer klassischen Figur im Golfsport auch die Herangehensweise von Rick Reilly ausmacht. Er übernahm den Job des Caddies für prominente Spieler wie Jack Nicklaus, David Duval, Tom Lehman und John Daly.9
Er hatte in der Vorbereitung auf das Buch übrigens auch einen Einsatz an der Seite von Donald Trump, ehe der Präsident der Vereinigten Staaten wurde. Das floss in ein späteres Buch ein10, das auch auf Deutsch erschien.
Als wir uns darüber unterhielten, bestätigte er eine alte Weisheit aus dem Golfspiel, wonach es den wahren Charakter von Menschen offenlegt, vor allem den von krankhaften Narzissten und notorischen Lügnern: „Auf der Runde hat er sich bestimmt sieben Mulligans zugestanden. Fehlschläge, die er nicht mitgezählt hat. Er hat vor einem Grün den Ball aufgehoben und behauptet, den Schlag hätte er garantiert eingelocht. Seine Caddies haben extra Holzstifte dabei, sogenannte Tees, mit denen er im tiefen Gras neben dem Fairway den Ball höher legen kann. Und sie legen Bälle an Stellen aus, von denen er viel besser weiterspielen kann.“
Allesamt klare Regelverstöße übrigens.
Gleichzeitig muss es erlaubt sein zu fragen, weshalb es nur sehr selten passiert. Denn den Porträts einer Welt mit Menschen im Zentrum, die im Laufe ihrer Karriere durch ein ganzes Kaleidoskop von Belastungen und Entbehrungen, Verletzungen an Körper und Seele und emotionale Hochs und Tiefs gehen, fehlt ohne einen Zugang zu diesen Erfahrungen etwas Wesentliches. Es mangelt an Augenhöhe.
Die über viele Jahre gesammelte Erfahrung lehrt übrigens, dass dies von den Beteiligten meist gar nicht als Defizit wahrgenommen wird. Eine regelmäßige gründlichere Auseinandersetzung mit sich selbst, das stellt sich bei ausführlicheren Gesprächen heraus, vermissen nur wenige Sportler. Oder sie gehen gleich so weit und verlangen ein Mitspracherecht bei der detaillierten Gestaltung der Berichterstattung.11 Sie versuchen, Journalisten zu Mitwirkenden in ihrem PR- und Propagandatheater zu machen.
Und die Medienmenschen? Viele empfinden Distanz als professionell, Annäherung als schwierig oder sogar kontraproduktiv. Auf eine Ich-Geschichte und die damit verbundene sich selbst zugemessene Rolle des Protagonisten verspüren sie kaum Appetit. Anders als ein Schriftsteller wie Norman Mailer in seinem Buch The Fight12 über den Kampf zwischen Muhammad Ali und George Foreman im Oktober 1974 in Kinshasa (dem Rumble in the Jungle). Er nutzte den persönlichen Blickwinkel, um das Ereignis über den rein sportlichen Gehalt hinaus in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Als Stilmittel geht er darin so weit, dass er auch über sich selbst spricht, wenn auch in der dritten Person Singular, was gespreizt klingt. Zitat: „Nun, unser weiser Mann besaß ein Laster. Er schrieb über sich selbst. Er beschrieb nicht nur die Ereignisse, die er sah, sondern auch seinen eigenen, kleinen Einfluss auf die Ereignisse.“
Eine solche Vereinahmung des Mythenrservoirs des Boxens, des Kampfs gegen sich selbst mit der Aussicht auf Erfolg und sozialen Aufstieg, die eine Zuneigung zum männlichen Authentizitätskult intellektuell überhöht13, illustriert, wie viele unterschiedliche Ansatzmöglichkeiten es gibt, „die Sozialfigur des Sporthelden in postheroischen Zeiten zu durchleuchten und die im Spitzensport vorfindbare Heroisierungspraxis auf ihre soziale Konstruiertheit hin zu befragen“, wie das der Sportwissenschaftler Professor Dr. Karl-Heinrich Bette in seinem Buch Sporthelden – Spitzensport in postheroischen Zeiten formuliert hat.14
Es ist eine Aufgabe, die ich mir selbst auch immer wieder stelle und die zu einem Leitmotiv für dieses Buch geworden ist, in dem es nicht nur ums Durchleuchten und Befragen geht. Sondern auch darum, sich das Vorgefundene einzuverleiben, wie das der wegen seiner Interviews bewunderte Fernsehmann und Dokumentarist Georg Stefan Troller häufiger genannt hat15. Und der dies unter anderem 1974 in seinem Halbstünder vor dem zweiten von drei Kämpfen zwischen Joe Frazier und Muhammad Ali (Personenbeschreibung: Muhammad Ali – Der lange Weg zurück) auch mit einem Thema aus dem Sport eindrucksvoll demonstriert hat.
Wo das nicht geschieht, so hat der Journalist Bertram Job, Autor einer sehr empfehlenswerten Box-Anthologie16, mal vor einiger Zeit in einem Artikel in der taz geklagt, entsteht eine nicht zu übersehende Lücke: „Es ist immer das gleiche mit den Sportschreibern in diesem Land. Die affirmativ sind, kleben unkritisch an den Helden; die kritisch sind, wollen sich keine Affirmation leisten. Und an der Schnittstelle zwischen beiden liegt – Brachland.“17
Dieses Brachland ließe sich durchaus urbar machen und auf diese Weise gegen den allgemeinen Trend zum Clickbait-, Klatsch- und Kontroverse-Spektakel antreten.18 Denn fraglos bietet selbst der aalglatte, durchgetaktete, kommerzielle Sport von heute mannigfachen und ausgesprochen guten Stoff. Mehr als jene innere Spannung, die einen erfasst, wenn man eine olympische Rodelbahn hinabschlittert, in Kitzbühel auf eigenen Skiern die Hahnenkamm-Abfahrt attackiert, auf einem Polopferd – die eine Hand am Zügel, die andere mit dem Schläger bewaffnet – im Galopp dem kleinen Ball hinterherjagt oder ein paar Minuten vor dem Start eines Automobilrennens in Indianapolis zwischen den dröhnenden Boliden steht und in Richtung erste Kurve schaut. Mehr als die gängigen Denkschablonen und Plattitüden, die sich in der Sprache der Medienarbeiter festgesetzt haben. Mehr als die nervig klappernde Mühle mit ihren Transfergerüchten über irgendwelche Fußballer. Mehr als den Versuch, ein „Schlangennest aus sich bekämpfenden Interessen und Egos“ von Trainern, Agenten, Clubs und Sponsoren abzubilden, was nicht nur der britische Journalist Oliver Franklin-Wallis missbilligt19. Und mehr als die eine oder andere Geschichte, die erzählt, was hinter den Kulissen, beim Training, in den Vertragsverhandlungen, beim Doping-Doktor oder in einem Gerichtssaal passiert, in dem ein ungeimpfter Tennisspieler seine Einreise in ein fremdes Land einzuklagen versucht.
Um dieses Mehr geht es in diesem Buch, das sich dabei überwiegend an Vorbilder aus der amerikanischen Sportpublizistik orientiert, die über die erwähnten Autoren hinaus bemerkenswerte Maßstäbe gesetzt hat. Etwa mit der Sachbuch-Serie The Best American Sports Writing20, einer breitgefächerten und gleichzeitig aufschlussreichen Archäologie des Sports. Angelehnt an etwas, das Paul Gallico in Farewell to Sport bereits skizziert hatte: „Heldenverehrung ist menschlich. Vorausgesetzt der Held ist ebenfalls menschlich.“
Ein hilfreiches Zitat, um an dieser Stelle näher auf den Begriff einzugehen, der sowohl in Gallicos Muttersprache als auch im Deutschen ähnlich stark schillert. Klassischerweise werden nicht nur außergewöhnlich mutige Menschen mit dieser Vokabel belegt. Sie wird auch auf die Hauptgestalten von Romanen angewendet und auf ein ganzes Rollenfach beim Theater (wo es noch andere klischeehafte Figuren gibt wie den jugendlichen Liebhaber oder die Salondame). Die Ausdehnung des Begriffs auf den kommerziellen Sport ist also nachvollziehbar. Denn er liefert dem Geschehen mit seinen heldenhaften, theatralischen Taten im Zentrum einen zusätzlichen Fixpunkt und schwebt als sinnstiftende Vokabel über der Inszenierung von Sport und der Idol-Kultur, die sie fördert.
Oft genug allerdings steht die Vita von prominenten Athleten dem Bedürfnis nach versimpelnder Idolisierung und Heroisierung entgegen. Der damalige Spiegel-Redakteur Nils Minkmar etwa nahm nach dem Unfalltod des Basketballers Kobe Bryant eine Tendenz ins Visier, mit einer aufgeschminkten, selektiven Würdigung die unangenehmen Details seiner Biographie zu vertuschen. Bryant hatte einst wegen Vergewaltigung vor Gericht gestanden und war trotz starker Indizien nur deshalb freigesprochen worden, weil die betreffende Frau vor einer Aussage in einem öffentlichen Prozess zurückgeschreckt war und so das Verfahren zum Platzen gebracht hatte. Und der das Schweigen dieser Frau mit einem hohen Betrag entlohnt hatte.21
Was Minkmar zu der Anmerkung veranlasste: Es möge „besonders schwer auszuhalten“ sein, dass „Helden eine Schwäche haben, dunkle Charakterzüge, seltsame Ansichten oder gar schuldig wurden“. Man könne allerdings deshalb nicht einfach dafür plädieren, dass „auf den glatten Bildschirmen der digitalen Moderne“ immer „alles makellos erscheinen“ soll. Auf diese Weise „verrennt sich die Moral in den Bereich der Ästhetik: Die Schönen sollen gut sein und vice versa.“22
Was Gesellschaftswissenschaftler nicht überrascht. So hat der Freiburger Soziologe Prof. Dr. Ulrich Bröckling 2020 im Deutschlandfunk in einem Interview auf Folgendes hingewiesen23: „Der Sport verbindet etwas, was auch für Heldenfiguren ganz grundsätzlich ist: dieses Moment des Kämpferischen, des Sich-auszeichnen-Wollens, der außerordentlichen Leistung. Das alles bietet der Sport. Er bietet spannende Inszenierungen von Kämpfen, von Wettkämpfen. Und gleichzeitig ist es etwas, was politisch nicht so brisant oder moralisch so verwerflich ist wie militärisches Heldentum.“
Und das funktioniert so, wie Karl-Heinrich Bette in Sporthelden: Spitzensport in postheroischen Zeiten schreibt: „Der Spitzensport ist ein Sozialbereich, der real existierende Figuren der Außeralltäglichkeit“ in einer unterhaltsamen und sozial harmlosen Weise und im Kontrast zu anderen Teilen des Lebens hervorbringt. Dort, in diesen anderen Teilen des Lebens, habe die Marginalisierung traditioneller Heldenfiguren „eine Lücke hinterlassen, in die der Sport mit seiner Personen- und Körperorientierung, seiner Sichtbarkeit und Theatralität, seinen agonalen Konfliktinszenierungen, der Serialität seiner Ereignisse und seinen Stellvertretungsofferten mit Erfolg hineinstoßen konnte.“24
Die Wechselwirkung kommt folgendermaßen zustande: Einerseits existiert, so Bette, eine weltweit gestiegene Nachfrage „nach spannenden, heroischen, affektiv aufgeladenen, gemeinschaftsstiftenden, personen- und körperorientierten Sportleistungen durch ein interessiertes Massenpublikum“. Andererseits gebe es „Kollateralwirkungen des gesellschaftlichen Wandels“. Zu denen gehören seiner Auffassung nach unter anderem solche Entwicklungen wie Körperdistanzierung, Gemeinschaftsverlust, Beschleunigung und „biografische Diskontinuität“. Der Spitzensport bediene damit und mit seinen Heldeninszenierungen „in einer klamm-heimlich-kritischen Weise die ausgeprägte Ambivalenz der Moderne“.
Eine Ambivalenz, die die COVID-Pandemie noch deutlicher herauskristallisiert hat. Mit einem „weniger heroischen, professionellen Typ von Athleten“ wie der amerikanische Sportjournalist und Buchautor Howard Bryant unlängst schrieb. Er meinte prominente Vakzin-Verweigerer wie Novak Djokovic, Aaron Rodgers und Kyrie Irving. Die seien „ganz sich selbst verpflichtet, unbelastet von der Gemeinschaft oder der Verantwortung für andere“ und benutzen die sozialen Medien „um Pseudowissenschaft zu verbreiten und sich selbst zu profilieren und abzusetzen.“ Deren Botschaft an den Rest der Welt: „Sie schulden uns gar nichts, weil sie soviel erschaffen: Einnahmen und Vermächtnis für die Männer in Anzügen. Spaßkultur für die Zuschauer und wirtschaftliche Sicherheit für ihre Familien.“25
Mit Stoff ist in diesem Zusammenhang übrigens keine einzelne Materie gemeint. Und keine fixe Größe. Der Begriff ist nicht minder ambivalent. Er dient vor allem als Inspiration und Gedankenstütze beim Brückenschlag zwischen Hauptkapiteln und innerhalb dieser Kapitel.
Es geht schließlich um unterschiedliche stoffliche Dimensionen: um Rohstoff und Wirkstoff, Farbstoff, Klebstoff und Schadstoff, natürlich auch um Lesestoff und Gesprächsstoff und sicher auch Lehrstoff und Zündstoff. Um unterschiedliche Idiome und Substanzen, in denen viele Fasern, Farben und Facetten aufgehen. Dinge wie Geld und Kommerz, wie Doping, Religion und Politik, wie Vermarktung und Narzissmus, wie Hautfarbe, Missbrauch und Nostalgie. Eigenschaften wie Mut und mentale Stärke, Arbeitsethos und Risikobereitschaft, genetische Vorprägung und Hybris. Empfindungen wie Agonie oder Teamgeist, aber auch so etwas Fundamentales wie pure Begeisterung für die Sache. Etwas, was ich im Laufe der Zeit aus Begegnungen und ausführlichen Gesprächen mit knapp 200 Aktiven, Trainern, Betreuern, aber auch mit Historikern, Wirtschaftswissenschaftlern, Psychologen und Juristen herausdestillieren konnte.