Loe raamatut: «Im Malstrom», lehekülg 5

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Mit meinem Argument erreichte ich niemand, nicht einmal Jana. „Hör mal, Heini“, sagte sie auf einmal, meinen verstümmelten Vornamen wie bei einem ungehorsamen Kind explizit betonend. „Du weißt, dass ich immer auf deiner Seite bin und du weißt, dass ich genauso darüber denke wie du. Aber sei mal ehrlich, glaubst du wirklich, dass du auch nur das Geringste erreichst, wenn alle ihr Begrüßungsgeld holen und du nicht?“ Das hatte ich doch gerade erst gehört. Nicht von ihr, von Waldemar Henry! Gerade hatte Jana noch von uns gesprochen, dächte ich. Jetzt stellte ich wieder nur fest, dass ich auch in dieser Frage allein bleiben würde und antwortete deshalb, jedes Wort einzeln betonend, innerlich aber schon resigniert: „Nein, Jana, das glaube ich nicht. Ich glaube, dass das nur etwas mit Würde zu tun hat.“ Zwei Tage später fuhren wir alle vier in meinem Wartburg nach Hof in Bayern.

Damals hätte ich mir nicht einmal im Traum vorstellen können, dass zu dem Zeitpunkt, als wir in unserer Wohnküche in Wolfen Nord noch darüber debattierten, ob es ehrenrührig sei, Begrüßungsgeld anzunehmen, George W. Bush und Helmut Kohl sich bereits über den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland verständigt hatten. Nur wenig später, am 25./​26. Januar 1990 würde Michael Gorbatschow, der noch drei Monate zuvor in Berlin frenetisch gefeierte Gorbi, dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik grundsätzlich zustimmen. Gegen eine beachtliche Milliarden-Morgengabe versteht sich. Damit hatte er offenbar kein Problem. Seinem langjährigen Sattelitenchef, dem Saarländer Honecker, würde die „Noch-Sowjetunion“ wenig später sogar den minimalsten Schutz, das Asyl, verweigern und ihn ausliefern.

„Was für ein Tag der Schmach!“ (2. Könige 19,3). Zu Gorbatschows Ehre kann lediglich gesagt werden, dass nicht er es war, der ihn letztlich auslieferte.

X

Entgegen allen Erwartungen gab es so gut wie keinen Andrang vor dem Postamt in Hof. Dort hatte man für die herüberströmenden Ostdeutschen eine Ausgabestelle für Begrüßungsgeld eingerichtet. Für Hof hatten wir uns auf Drängen Waldemar Henrys und Ilonas entschieden. In Bayern würden nicht 100, wie sonst in den Bundesländern üblich, sondern sogar 150 D-Mark ausgezahlt. Jana und ich hatten zwar noch die halbe Nacht darüber diskutiert, was für ein fieser Trick der Coup mit dem Begrüßungsgeld letztendlich war, unabhängig davon blieb es dabei. Auch ich würde es mir abholen. Ich hatte ja schon beim Frühstück klein beigegeben, wie meistens in letzter Zeit.

Unseren klapprigen Wartburg hatten wir ein Stück vom Postamt entfernt in einer gerade frei gewordenen Parklücke abgestellt und gingen langsam und schweigend in Richtung Auszahlstelle. Vor uns hielt plötzlich ein Trabant mit einem Berliner Kennzeichen. Ein noch relativ junges Paar stieg aus und zerrte zwei Kleinstkinder aus dem Auto. Das jüngste war vielleicht sechs bis acht Wochen alt, das ältere musste so knapp zwei Jahre sein. Die Frau nahm die schlafende Kleine auf den Arm und hielt das quengelnde Größere an der Hand fest. Ihr Mann klappte auf der Beifahrerseite den Sitz zurück, beugte sich noch einmal ins Auto und versuchte eine alte Dame herauszuziehen. „Bitte, Oma, steige jetzt endlich aus“, sagte er erzwungen höflich. „Wir sind doch nun im Westen, wo du unbedingt hinwolltest.“ Was sie antwortete, konnte ich nicht verstehen, denn sie sprach sehr leise. Er zerrte an ihr, doch es gelang ihm nicht, sie aus dem Auto zu hieven. Scheinbar war die alte Dame ziemlich schwer. Außerdem sträubte sie sich gegen das „Aussteigen-Sollen“. Schließlich wandte sich der junge Vater an uns und bat, ihm doch zu helfen, die Oma aus dem Auto zu bugsieren. „Erst wollte sie unbedingt mit in den Westen und nun behauptet sie, nicht aus dem Wagen steigen zu können. Es ist schon ein Kreuz mit den alten Leuten.“

Der junge Mann schaute abwechselnd und halb wütend, halb bittend zu Ilona und Jana. Wahrscheinlich wäre es ihm lieber gewesen, eine Frau hätte ihm geholfen. Unsere beiden Damen taten aber, als wären nicht sie gemeint. Waldemar Henry musste sich gerade jetzt unbedingt und mit großem Interesse die nichtssagenden Häuserfassaden von Hof ansehen und bemerkte den Hilfesuchenden dadurch nicht. Also blieb es wieder an mir hängen. Verflucht sei die Höflichkeit, zu der man mich erzogen hatte. Trotzdem fragte ich mich, warum die beiden Typen mit zwei quengelnden Kindern und einer Oma, die ganz offensichtlich schlecht zu Fuß war, von Berlin bis nach Bayern gekutscht waren, um ihr Begrüßungsgeld abzuholen. Sie hätten doch einfach durch die jetzt offene Mauer nach Westberlin fahren können. Ja, so naiv war ich noch. Also nickte ich dem Berliner Typen zu, ging auf die Fahrerseite und öffnete die Tür. Sofort wusste ich, warum die alte Dame nicht aussteigen wollte. Es roch penetrant nach Schweiß und noch etwas nicht gleich Definierbarem. Dann sah ich es. Sie trug einen warmen Wollmantel und darunter etwas, das mehr einem Nachthemd als einem Kleid ähnelte. Sie war stark übergewichtig und schwitze vor Anstrengung, Angst oder einfach so. Der Mantel stand offen, ich konnte sehen, dass eins ihrer Beine gewickelt war und dann sah ich unter ihr die Pfütze und auch, dass Mantel und Sitz feucht waren. Daher der stechende Geruch von kaltem Schweiß und Urin. Der Kerl musste von Berlin bis Hof durchgefahren sein. Ich schob mich zurück und sagte: „Hör mal, lass die Oma hier sitzen. Es fällt ihr wirklich schwer auszusteigen.“ Die alte Dame sah mich erleichtert und dankbar an. Dass sie sich eingepinkelt hatte, würde er ja wohl selbst merken, dachte ich und sagte mit aller Verachtung, die ich in meine Stimme legen konnte: „Vielleicht kannst du die Lady in der Ausgabestelle auch so davon überzeugen, dass eure Oma für euch das Begrüßungsgeld in Empfang nehmen soll. Du kannst ja sagen, dass sie sich dafür schämt. So etwas gibt es wirklich.“ – „Meinst du?“, fragte er unsicher. „Sie wollte doch unbedingt noch einmal in den Westen. Was soll ich da machen?“ – „Ja, das meine ich“, antwortete ich schroff, drehte mich um und ließ ihn stehen.

„Warum sind Sie denn mit der ganzen Bagage nicht durch die Mauer nach Westberlin, sondern bis hierher nach Bayern gefahren?“, fragte Jana, die jetzt langsam mitbekommen hatte, dass irgendetwas nicht stimmte. Er wurde verlegen, zuckte mit den Schultern, antwortete dann aber doch halblaut: „Wir waren gerade hier in der Gegend!“ Da fiel mir ein, was mir Ilona und Waldemar Henry schon bei unserem Küchengespräch erzählt hatten und ich wusste, warum er von Berlin 400 Kilometer nach Westen gefahren war. Der holte sein Begrüßungsgeld zum zweiten Mal ab. Ich spuckte aus, denn mir wurde richtig schlecht.

Einige Minuten später erhielten wir vollkommen problemlos unser Begrüßungsgeld. Als wir wieder auf der Straße standen, sahen wir den Typen mit der „Lady“ vom Nebenschalter vor dem Trabant stehen und hörten, wie er ihr erklärte, dass die liebe Oma unbedingt noch einmal in den Westen gewollt habe, bevor sie die Äugelein (er hat wirklich Äugelein gesagt) für immer schließen würde. Dann drehte er sich zur Seite und schien vor innerer Rührung zu weinen. Und die mit dem Auszahlen von Begrüßungsgeld beauftragte Dame nickte gerührt und sagte: „Gut, so machen wir es.“ Wahrscheinlich war sie froh, dass die feucht gewordene Oma nicht doch noch in ihr Büro gehoben wurde. Die Scham stieg in mir hoch, ich nahm meine 150 D-Mark, zerknüllte die Scheine, warf sie auf die Straße und trat darauf. Jana nickte zustimmend, behielt aber ihre Scheine. Meine angehende Schwiegertochter allerdings hob sie auf, strich sie glatt und steckte sie ein. Ich sah sie verächtlich an. Sie wollte etwas erklären, unterließ es aber, als sie meinem Blick begegnete. Im Auto sprach niemand ein Wort, bis wir vor der Haustür standen.

XI

Bis hierhin, mein lieber Freund, verlief unser, das heißt dein und mein, Leben, abgesehen von einigen leichten, zeitbedingten Höhenunterschieden, sehr ähnlich. So, wie es uns der Saarländer vielleicht als Ziel einer „sozialistischen Menschengemeinschaft“ vorgegeben hatte. Alle in etwa gleich. Die nicht planbare Ausnahme war vielleicht, dass du und ich bereits über vier Jahrzehnte Freunde waren und unsere Frauen das nicht nur akzeptierten, sondern sich ebenfalls gut verstanden. Auch das soll ja nicht selbstverständlich sein. Beide hatten wir unser festes Wohnumfeld, langjährige Arbeitskollegen, eine im Großen und Ganzen intakte Familie, annähernd gleiche Neubauwohnungen, nur dass deine in Leipzig und meine in Wolfen Nord stand. Wir fuhren das gleiche Auto, jeder einen Wartburg. Deinen bekamst du nach 16 Jahren Anmeldungszeit und ich hätte, wenn Vater Waldemar nicht … na, du weißt schon, genauso lange warten müssen. Alles war annähernd gleich in unserer schönen DDR. Gehälter, Garderoben und sogar die Wohnungsausstattungen unterschieden sich nicht nennenswert. Ähnliche Schrankwände, Sitzmöbel und, dank deiner Hilfe, sogar vergleichbare Buchbestände und Schallplatten. Die Unterschiede bestanden nicht in der Kaufkraft, sondern in den Beziehungen. Siehe mein Vater Waldemar. Aber sonst? Dass du Chef eines Großbetriebes warst und ich der bescheidene Leiter der Elektrikerbrigade „Stromschnelle“, war äußerlich kaum zu bemerken.

Doch es änderte sich viel in den letzten Monaten. Die Gesellschaft krachte in allen Fugen und häufig zerbrachen auch über Jahre gewachsene menschliche Verbindungen und Freundschaften. Unsere hielt, obgleich ich fast jeden Montag in Leipzig um den Ring marschierte, wenn auch mit wachsenden Bedenken. Du dagegen versuchtest und schafftest schließlich auch den Spagat, die Unruhen aus deinem späteren Betrieb rauszuhalten, ihn am Markt neu zu etablieren und ihn zugleich vor den rigorosen Plattmachungsbestrebungen der Treuhand, die besonders nach der Ermordung Rohwedders am 1. April 1991 einsetzten, zu schützen. Du allein weißt, was dir das an Kraft gekostet hat. Aber schließlich hast du vielleicht nicht alles, aber viel richtig gemacht, während ich unter den neuen Bedingungen scheiterte. In Tritt kam ich nicht wieder, vielleicht auch, weil ich irgendwann nicht mehr wollte und konnte. Dabei ging es uns später nicht einmal schlecht. Alles andere wäre gelogen.

Vor uns stand das Weihnachtsfest 1989. Es sollte für meine Familie und mich für lange Zeit das letzte sorgenfrei und ohne Zukunftsangst gefeierte „Fest der Familie“ bleiben. An jenem Heiligen Abend ließ ich mich von Jana sogar überreden, in unserer heimatlichen Dorfkirche die Christmesse zu besuchen. Das hatten wir seit ein paar Jahren nicht mehr getan. Hinterher erschien mir dieser Schritt fast wie ein Symbol. Waldemar Henry und Ilona hatten sich uns angeschlossen. Natürlich nicht, um mit uns in die Kirche zur Christmesse zu gehen, sondern weil sie unbedingt noch die neue Freundin eines alten Kumpels aus Waldemar Henrys Schultagen begutachten wollten. Die Besichtigung muss erfreulich verlaufen sein, denn sie wurde ordentlich gefeiert. Auf der Rückfahrt musste ich mich jedenfalls um die „Unversehrtheit“ der hinteren Sitze in meinem Wartburg sorgen. Es lief aber alles gut ab. Nur das blöde Kichern der beiden brachte mich in Rage.

Den 1. Weihnachtsfeiertag besuchte uns wieder meine Mutter, ohne dass es zu mehr als den üblichen kleinen Meinungsverschiedenheiten zwischen ihr und Jana gekommen wäre. Mein Vater hatte dringend zu tun, ließ er uns ausrichten. Und am zweiten trafen dann wir uns. Auch das sollte ein langer Abschied werden! Einmal von unserer bereits traditionell zu nennenden Zweiten-Weihnachtsfeiertags-Begegnung. Zum anderen war es auch euer letzter Besuch in Wolfen Nord. Einige Wochen später hatte dieser Teil des Vaterlandes keine Verwendung mehr für mich. Die mir bekannte Welt zerbrach, die vor mir liegende verstand ich nicht und versuchte es dann bald auch nicht mehr, sie zu verstehen. Aber das ahnten an diesem Weihnachtstag weder du noch ich. Die Stimmung blieb, trotz aller Bemühungen von beiden Seiten, recht gedrückt. Weniger durch Jana und mich, denn wir ahnten nicht einmal, was uns persönlich bevorstand, als durch euch. Ihr wart ja schon mitten drin in dem allgemeinen Schlamassel, der besonders dich bis zur letzten Grenze fordern sollte. Trotzdem gelang es uns dann noch einmal, die schwarzen Wolken beiseite zu schieben und es wurde doch noch ein schönes Fest. Ja, unerforschlich sind des Herrn Wege.

XII

Es war in der dritten Juliwoche 1990. Die Währungsunion war gerade mal 14 Tage alt. Die Bundesrepublik hatte sich zuvor, mit Rückendeckung ihrer Verbündeten und der Schützenhilfe der frei gewählten Volkskammer der Noch-DDR, für den Anschluss und gegen einen Zusammenschluss beider Teile Deutschlands auf Augenhöhe entschieden. Mit weitreichenden Folgen. Damit wurde der Weg frei gemacht für den größten Coup in der Deutschen Geschichte nach der Umwandlung Ostpreußens vom Ordensstaat in ein weltliches Herzogtum am 8. April 1525, in dessen Folge der gesamte dortige Kirchenbesitz an Fürstenhäuser säkularisiert wurde.

Den mit einseitiger Geschichtsbetrachtung aufgewachsenen DDR-Bürgern sagte der Begriff Säkularisierung zwar genauso wenig wie Ostpreußen, dafür denen, die sich Investoren nannten, vielleicht schon. Zugreifen hieß es, denn „wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“. Und dann kamen sie, die Glücksritter, wie Schmeißfliegen, die einen frischen Haufen Scheiße wittern. Jetzt setzte sie tatsächlich ein, die Revolution. Das Wort „friedlich“ wurde erst einige Zeit später von den Gutmenschen beigefügt und vorangestellt. Aus der Sicht der Profiteure ist das sogar unbedingt richtig. Jeder Zweite im Beitrittsgebiet allerdings verlor in der Folge dieser Ereignisse seinen Arbeitsplatz, seine Ausbildung oder seine Heimat, und wird das vielleicht etwas weniger friedlich im Gedächtnis behalten haben.

In meiner und Janas Familie zum Beispiel traf es alle Angehörigen, obwohl niemand von uns der SED auch nur nahe gestanden hatte. Richtig so! Denn wir alle, der eine mehr, der andere etwas weniger, wollten ja die Freiheit. Und die bekamen wir, und andere auch! Jetzt bekam die Losung „jeder nach seinen Fähigkeiten“ eine völlig neue Bedeutung. Was wird danach kommen? Nicht mehr unser Problem! Uns wird es ja bald nicht mehr geben. Nur eins klingt mir noch in den Ohren, der Schlachtruf vom Leipziger Ring: „Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr!“ Ja, sie kam zu uns, die D-Mark, und wir gingen trotzdem, nur weniger freiwillig!

Den Anfang bei der Arbeitslosigkeit machte, wie ich bereits andeutete, überraschend unser Sohn Waldemar Henry. An einem dieser hellen Sommerabende 1990 kam er mit hängendem Kopf nach Hause. In seiner Firma waren die Aufträge stark weggebrochen, hieß es. Die neue „vorläufige Geschäftsleitung“ versuchte das Unternehmen wieder marktfähig zu machen, versicherte der Chef. Deshalb hatte sich die neue Leitung für eines der Modelle entschieden, die die Statistik, vor allem mit Blick auf das Ausland, schöner färbten, am Faktischen aber nichts änderten. Es hieß „Kurzarbeit Null“ und bedeutete, der Arbeitslose tauchte nicht sofort in der Statistik auf. Geld bekam er auch, nur nicht von der Firma, sondern vom Steuerzahler. Arbeiten durften die Betroffenen nach diesem Modell nicht.

Arbeitslosigkeit kannten wir ja aus der DDR-Zeit nicht. Beinahe hätte ich gesagt leider. Deshalb war uns auch nicht sofort klar, was das wirklich bedeutete. Entsprechend unterschiedlich waren die Reaktionen in der Familie. Jana meinte, wenn es nur vorübergehend sei, dann wäre das ja nicht so schlimm. Die Lage würde sich schnell stabilisieren, dann ginge es richtig aufwärts hier im deutschen Osten. Das hat der Kanzler uns ja versprochen. Wir sollten uns an sein Wort von den „blühenden Landschaften“ erinnern. Das hatte sie tatsächlich so gemeint, wie sie es sagte. Sie ja! Ich wollte mich nicht aufregen, deshalb sagte ich ganz pragmatisch: „Junge, du bist doch Mitglied im vorläufigen Betriebsrat. Jedenfalls hast du es so erzählt. Da kannst du gar nicht entlassen werden. So steht es im Betriebsverfassungsgesetz, habe ich gehört. Du hättest es vielleicht einmal lesen sollen, wenn du dort schon mitmachen musst.“ Waldemar Henry sah mich mitleidig an. „Das habe ich, mein Alter, darauf kannst du Gift nehmen. Aber erstens bin ich nicht entlassen. ‚Kurzarbeit Null‘ heißt das Modell. Verstehst du nicht, stimmt es?“ – „Nein!“ Weiter sagte ich nichts. Waldemar Henry erklärte es mir. „Das ist eine neue Erfindung, die sie aus dem Westen mitgebracht haben. Ich bin entlassen, aber auch nicht. Ich brauche nicht mehr in die Firma zu gehen, bekomme aber trotzdem mein Geld. Ich erscheine nicht in der Arbeitslosenstatistik, bin aber arbeitslos. Kapiert? Wie lange das so geht, weiß ich nicht.“ Er sah deprimiert auf seine Fußspitzen.

„Und das schluckst du?“ Ich brauste in meiner Naivität auf! Waldemar Henry begann laut zu lachen. „Du wirst sie schon noch kennenlernen, die neuen Herren, mein lieber Papa Heinrich.“ Was sollte ich darauf antworten? Ich schluckte wieder meinen Ärger hinunter und blieb still. Irgendwie stimmte es ja überein mit meinen heimlichen Befürchtungen. Währenddessen hatte Ilona gelangweilt einen kleinen Spiegel und einen Stift aus ihrer Beuteltasche genommen und zog die Konturen ihrer Lippen nach. „Das ist doch kein Drama, Leute“, sagte sie gelassen. „Solange er Kohle einsteckt, musst er sich doch nicht schinden, wenn es auch ohne das geht. Weißt du was“, wandte sie sich an Henry, „ich frage morgen unseren Chef, ob die vielleicht bei der Stadt auch so ein Modell in der Tasche haben. Wie sagtest du heißt es, ‚Kurzarbeit Null‘? Klingt nicht schlecht. Ich glaube, das wäre etwas für mich. Führen sie das auch bei uns ein, würde es mich sowieso als Erste treffen nach der Sozialauswahl. Kein Kind, kein Kegel, nicht einmal einen richtigen Mann. Einen ohne Job, ja. Außerdem bin ich vorlaut, sagt unser Boss. Da melde ich mich lieber gleich freiwillig! Knete abholen ohne Arbeit. Da gibt es Schlimmeres. Wir machen uns noch ein paar schöne Tage, bis …“, den Rest verschluckte sie.

Da niemand antwortete, fragte sie nach einer Weile: „Was hältst du davon, mein arbeitsloser Hauptmieter?“ Waldemar Henry sah sie unsicher an. Es klang irgendwie kalt, mitfühlend jedenfalls nicht. Dann lachte sie. „Es ist ja nicht lebenslänglich. Gibt es keine Knete mehr, suchen wir uns eben was Neues, wo die Mauer doch jetzt weg ist. Ich denke, ich finde schon was. Wenn nicht hier, dann eben anderswo. Im Übrigen habe ich die Schnauze sowieso voll von dem allgemeinen Katastrophengeschwätz hier.“ Jana und ich sahen uns ratlos an. Was hätten wir den Beiden auch raten sollen?

Der einzige, der scheinbar klaren Verstand behielt, war zu meiner großen Verblüffung der Betroffene selbst, unser Sohn Waldemar Henry. Vielleicht wollte er die Initiative in seiner Beziehung zurückgewinnen, vielleicht ahnte er auch mehr als er sagte. Jedenfalls sprach er sehr gelassen. So, als teile er uns mit, dass er jetzt in den Konsum fahren und Bier holen würde. „Ich habe auch die Schnauze voll von all dem, was jetzt hier im Osten vor sich geht.

Genau wie du, mein Mäuschen! Immer mehr Schlipsmänner stiefeln in den Betrieben wie in ihrem Vorgarten rum. Sie spionieren und quatschen dumm. Das nennen sie beraten. Wer dagegen aufmuckt, fliegt! Die führen sich jetzt schon auf, als wären sie die neuen Herren. Gnade uns Gott, wenn die es werden sollten. Dann ist Deutschland wirklich einig Vaterland, nämlich das ihrige. Sie sind die Herren, wir die Knechte. Nein danke, mit mir nicht! Da kommt mir der de facto Rausschmiss gerade recht. Die alten Genossen waren schlimm, aber vor dem, was jetzt kommt, hilft uns kein Gott, kein höheres Wesen. Die werden nicht Ruhe geben, bis ihnen auch der letzte Nagel hier im Osten gehört.“ Ilona sah ihn merkwürdig spöttisch an, als ihr Lebensabschnittsgefährte seine Meinung auszubreiten begann.

Am liebsten hätte ich jetzt gesagt, dass er vorher darüber hätte nachdenken müssen, als er, wie alle, kritiklos der D-Mark hinterher gerannt sei. Doch als ich in Janas entsetzte Augen sah, schwieg ich lieber. Außerdem war ich ja auch mitgerannt. Dann sagte Jana so leise, dass ich es kaum verstand: „Junge, was hast du vor? Unsere Familie bricht auseinander, merkst du das nicht?“ Waldemar Henry schwieg. Nach einer unendlich scheinenden Pause erklärte er uns gelassen, dass Opa Waldemar ihm empfohlen habe, lieber gleich in den Westen zu gehen, bevor der Massenansturm der Arbeitslosen einsetzt. „Genau das werde ich tun.

Opa hat mir gesagt, dass er nach der Kriegsgefangenschaft zuerst ein paar Monate in Freudenbach im Siegerland gearbeitet hat. Dort hätte er auch eine Braut, Elli hieß sie wohl, gehabt. Das mit ihr konnte aber nichts werden, weil ihre Eltern gegen ihn waren und zu Hause seine Erna auf ihn wartete. Dass es eine Erna gab, wusste Elli aber nicht. Die sei zwar jetzt ein paar Jahrzehnte älter und verheiratet, doch er gehe ihr immer noch in ihrem früher so schönen Kopf herum, behauptet er. Das wisse er genau. Außerdem habe sie ein schlechtes Gewissen, weil sie glaubt, es hätte ihm das Herz gebrochen, als ihre Eltern ihn damals rausgeworfen hatten. Er hat ihr schon geschrieben und sie um Hilfe für mich gebeten. Die wird sich für mich einsetzen, hundert pro, hat Opa gesagt.“ Als ich ihn misstrauisch ansah, ergänzte er: „Das heißt, gesagt hat er es anders, so mehr in der Altmännersprache, aber gemeint hat er es so, wie ich es sage. Gute Fachleute werden immer und überall gebraucht. Nur hier nicht, weil die aus dem Westen hier alles plattmachen wollen. Die Konkurrenz soll ‚vom Markt‘ genommen werden, nennen sie das ‚Plattmachen‘ heute. Je schneller, umso besser!“

Waldemar Henry stand auf und ging hin und her. „Sobald die Antwort da ist, fahre ich und Ilona hole ich nach.“ Dann wandte er sich ihr direkt zu, die ihm bis jetzt mit nachdenklichem Gesichtsausdruck aber schweigend zugehört hatte. „Einverstanden, Mäuschen? So lange kannst du ja hier bei meinen Eltern bleiben.“ Mit uns vorher darüber zu sprechen, hielt er offenbar nicht für nötig.

Nach dieser sehr bestimmt vorgetragenen Erklärung folgte erst einmal ein allgemeines Schweigen. Auch mir fiel kein überzeugendes Gegenargument ein. Nach einer halben Ewigkeit sprach schließlich das Mäuschen, eiskalt und bestimmend: „Schön, dass ich das jetzt auch erfahre.“ Waldemar Henry wurde verlegen und sagte, dass er ihr das alles heute im Bett habe erzählen wollen. „So! Wolltest du das? Und du glaubst, ich mache, was du mir da vorschlägst und bleib allein in deinem blöden Kinderbett und warte monatelang auf einen Arbeitslosen? Nein, mein Lieber! Mach du nur deins, lass dich nicht aufhalten. Für das Bett hast du ja Fräulein Faust. Ich komme schon zurecht. Morgen wickle ich erst mal meinen Job ab. Ich werde einfach nicht mehr hingehen. Die Stütze sollen sie mir überweisen. Schluss, aus! Viel Glück, Henry. Es war ja ganz schön mit dir, manchmal wenigstens. Aber die Zeiten haben sich geändert. Für ein hübsches Mädchen gibt es immer Chancen. Vorausgesetzt, sie ist ohne Ballast! Du verstehst, was ich meine?“ Das letzte kam mit blankem Hohn an. Damit stand sie auf, packte Spiegel und Lippenstift provozierend langsam in ihre Beuteltasche, zog ihren Mantel über, sagte: „Tschüss alle miteinander“, und verließ unsere Wohnung und unser Leben.

Waldemar Henry war so getroffen, dass er zunächst nicht wusste, was er tun sollte. Erst rief er ihr ein paar Mal hinterher, war aber wohl doch zu stolz, um ihr nachzulaufen. Genützt hätte es sicher sowieso nichts, denn der Hinweis auf seine neue Stellung als Arbeitsloser ließ ja an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Jana und ich schwiegen. Den Fall mussten die jungen Leute schon untereinander klären. Ich war sowieso der Meinung, dass es besser für beide wäre, dass sie sich gleich noch hier trennten. Jana schwieg zunächst, dann sagte sie bedrückt: „Henry, wenn du fährst, packe ich dir deine Sachen. Rucksack oder doch lieber den Koffer? Hast du Geld?“ Er schüttelte mit dem Kopf. Ich war mir nicht sicher, was er meinte. Dass er kein Geld hatte oder die Kofferfrage nicht sofort gelöst werden müsste. Doch er klärte uns schnell auf. „Wir müssen die Antwort von Opas früherer Elli abwarten.“ Dann ging er schwerfällig in sein einsam gewordenes Kinderzimmer.

Was für ein Quatsch, dachte ich, Opas Uraltbraut wird sich bedanken, falls sie überhaupt antwortet. Ich sollte mich irren. Bereits zwei Tage später traf ein Telegramm ein. „Er kann kommen“, hieß es darin, sonst nichts. Einen weiteren Tag später fuhren Jana und ich unseren Sohn zum Bahnhof nach Leipzig. Waldemar Henrys Zug ging „8 Uhr 3 Minuten“. Den Abschied von ihm hatte ich mir zwar vorgestellt, manchmal sogar gewünscht, vor allem wegen seiner Ische und meinen Badegewohnheiten, aber eben doch nicht so abrupt, so endgültig. Jana weinte, Waldemar Henry war es peinlich, deshalb gab ich ihm nur die Hand. Auf einmal wurde mir klar, dass Jana und ich wieder allein sein würden. Das war zwar seit Langem mein geheimer Wunsch, aber jetzt, als es so weit war, kam mir plötzlich sogar unsere Wohnung groß und leer vor. Für lange Abschiedsszenen blieb keine Zeit. Wir waren auf den letzten Drücker eingetrudelt. Waldemar Henry stieg sofort ein, ich reichte ihm den Koffer nach oben und zwei Minuten später setzte sich der Zug Richtung Westen in Bewegung. Jana schluchzte an meiner Brust und ich sah in die Richtung, in die der Zug langsam verschwand. So etwas wie Trauer stieg in mir hoch. Nicht über Waldemar Henrys Abreise, sondern weil ich zu spüren glaubte, dass ein Riss durch unser Leben begonnen hatte. Dabei ahnte ich nicht einmal, dass Waldemar Henry lediglich so etwas wie die Vorhut war des in den Westen ziehenden Arbeitslosenheeres. Zwei Millionen sollten es bald sein. Die Pendler nicht mitgerechnet. Gedrückt fuhren wir nach Hause.

Das erste Lebenszeichen von Waldemar Henry aus Freudenbach kam etwa drei Wochen später. Er teilte uns mit, dass die frühere Braut von Opa Waldemar ihr Wort gehalten habe. Sie hätte ihm geholfen. Als Interimslösung habe sie einen ansehnlichen Raum über ihrem Waschhaus für ihn frei gemacht. Dort könne er wohnen, bis er etwas gefunden hätte. Einen kleinen Kredit von 500 D-Mark zu acht Prozent Zinsen hätte sie ihm für das Nötigste auch gegeben. Sogar ungefragt, damit er zumindest die Miete an sie bezahlen konnte. Einen Tag später wären Waldemar Henry und Opas ehemalige Elli gemeinsam auf Arbeitssuche gegangen. Sie wusste sofort zu wem, denn gleich der erste Versuch sei erfolgreich verlaufen. Er hätte einen Job als Kraftfahrer und Transportarbeiter für 1200 D-Mark brutto in einem mittleren Baubetrieb im Nachbarort bekommen. Meier & Meier hieß die Firma. Viel sei das zwar nicht, aber sein neuer Chef habe ihm eine winzige, dafür bezahlbare Anderthalb-Raum-Dachgeschosswohnung bei einer Bekannten besorgt. Die wiederum habe ihm gleich ein paar Möbel überlassen, die er sogar auf Raten abzahlen könne. Alles in allem wären die Leute nett zu ihm und hilfsbereit auch. Sein Lebensziel sei das zwar alles nicht, aber für den Anfang hätte es schlechter kommen können. Er sei noch dabei, seine Dachgeschosswohnung vorzurichten. Aus Ellis über dem Waschhaus liegenden Raum sei er aber schon ausgezogen. Gewissermaßen lebe er jetzt auf einer Baustelle.

Jetzt wäre er aber erst einmal untergebracht. Bald werde er sich trotzdem nach einem besseren Job mit mehr Kohle umhören. Vielleicht in seinem gelernten Beruf als Dreher. Falls das nicht klappe, wenigstens einen, bei dem er ein wenig schwarzarbeiten könne. Übrigens ersetze der Staat den Firmen für die ersten drei Monate die Lohnkosten, wenn sie einen rübergekommenen Ossi einstellten. Danach müsse er wohl ohnehin weitersehen. Über Ilona schrieb er kein Wort. Jana war glücklich, ich schüttelte über die letzte Mitteilung nur den Kopf.

Von Ilona hörten wir bald etwas, allerdings zunächst nur indirekt. Die Umstände, unter denen das geschah, waren für mich allerdings mehr als unangenehm. Zufällig traf ich den Vater ihres früheren Freundes, Krause Franz, in der Kaufhalle. Wir kannten uns, wie man sich eben so kennt in einem Wohngebiet. Ausweichen konnte und wollte ich auch nicht. Franz allerdings begrüßte mich wie einen alten Freund und fragte mich übergangslos, was denn bei uns zwischen Ilona und Henry vorgefallen sei. Vor drei Wochen wäre sie spätabends verheult bei ihnen aufgetaucht und hätte weinend erzählte, dass sie bei uns rausgeflogen sei. Über die Gründe habe sie nicht sprechen wollen. Er, also Krause Franz, habe sie, als Vater ihres einstigen Verlobten, zwar umgehend vor die Türe setzen wollen. Etwas anderes hätte sie ja nicht verdient, so wie sie damals mit dem armen Jungen umgesprungen sei. Damals, als sie von ihm weg und zu unserem ins Bett gewechselt sei. Aber wer hört schon auf die Sprache der Vernunft? „Meine Alte“, erzählte er, immer wütender werdend, „und vor allem dieser dämliche grüne Blödian“, damit meinte er seinen Sohn, „freuten sich, dass sie wiedergekommen war und schwupp zog sie wieder bei uns ein. Na, Schwamm drüber, wer nicht hören will, muss eben fühlen.“

Ich antwortete Krause Franz kurz und knapp, denn ich wollte ja mit ihm keine Feindschaft: „Nach einem eher harmlosen Streit hat sie ganz plötzlich und ohne richtigen Anlass unsere Wohnung verlassen. Dazu gedrängt oder gar gefeuert hat sie niemand. Das kann ich auf meinen Eid nehmen“, sagte ich noch und fügte dann einen versöhnlichen Schluss hinzu. „Ja, Franz, da wächst eine neue Generation heran, mit eigenen Spielregeln. Die kennen wir nicht, die müssen wir auch nicht verstehen.“ Ich wollte weiter, doch Franz wollte reden. Er nickte mir freundlich zu und sagte:

„Etwas Ähnliches habe ich mir schon gedacht.“ Und dann legte er los. „Etwa 14 Tage später ist sie plötzlich wieder ausgezogen. Unserem Jungen, dem Blödian, hat sie lediglich einen unverschämten Zettel hinterlassen, das verdammte Luder. Sozusagen eine Quittung für seine Gutmütigkeit. Auf dem stand, Heinrich, ich will es dir nicht verschweigen, da ihr ja ebenfalls Betroffene seid. Obgleich ich mich als Vater für meinen Sohn schäme. Sie sei weg, stand auf dem Zettel, als hätten wir es nicht bemerkt. Er solle nicht traurig sein und sie vor allem nicht suchen. Das sei sinnlos! Es ginge nun mal nicht mit ihnen beiden. Sie hätte es mit ihm noch einmal versuchen wollen, aber er habe in der Zeit, in der sie weg war, nichts dazugelernt, gar nichts. Ihm fehle eben jegliche Bettbegabung. Es wäre besser für ihn, er würde sich keine neue Freundin suchen, sondern erst mal in einem Puff gewisse Erfahrungen sammeln, bevor er auch noch andere Mädchen langweile.

Tasuta katkend on lõppenud.

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