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Loe raamatut: «Winnetou 4», lehekülg 2

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Trotzdem aber sind sie noch lange nicht das, wofür wir sie halten. Ich habe noch keinen Weißen kennengelernt, der von irgendeinem Medizinmann in seine Geheimnisse und Anschauungen eingeweiht worden ist oder der wenigstens die Symbolik der betreffenden Gebräuche derart begreift, wie sie begriffen werden muß, ehe man behaupten kann, über sie sprechen oder gar schreiben zu dürfen. Ein wirklicher Medizinmann, der es ernst mit seinem Amt und seiner Würde nimmt, gibt sich nie zu Schaustellungen her. Die sogenannten Medizinmänner der von Zeit zu Zeit hier bei uns herumvagabundierenden Völkerwiesenindianer sind alles andere, aber nur keine wirklichen Medizinmänner, und an ihren Verrenkungen, Sprüngen und sonstigen Possen würde ein solch letzterer gewiß ebensowenig teilnehmen, wie zum Beispiel bei uns ein ernstgesinnter Gottes- oder Weltgelehrter auf den Gedanken kommen könnte, auf einem Jahrmarkt oder Vogelschießen für Geld und öffentlich einen Schuhplattler oder einen Purzelbäumler zu tanzen.

Ich bitte meine Leser, diese Ausführungen ja nicht für langweilig oder gar für überflüssig zu halten. Ich mußte das sagen, denn es gilt, von nun an gerecht zu sein und von den bisherigen Fehlern, die wir in der Psychologie der roten Rasse begingen, endlich einmal abzulassen. Wenn wir in Tatellah-Satah einen jener alten, hochstehenden Medizinmänner der Vergangenheit kennenlernen, die wie Säulen im Bild eines Tagesscheidens stehen, so war ich als gewissenhafter und wahrheitstreuer Zeichner verpflichtet, den forschenden Blick auf die Betrachtung dieses Gemäldes vorzubereiten.

Der geheimnisvolle Mann, von dem ich mit so großer Hochachtung spreche, war nicht etwa mein Freund gewesen, o nein! Aber ja auch nicht mein Feind! Er war überhaupt keines Menschen Feind. Sein Denken und Fühlen war absolut gerecht und absolut human, sein Handeln ebenso. Aber wie er zu mir stand, das war noch schlimmer und noch niederdrückender, als wenn er mein Feind gewesen wäre. Ich war nämlich für ihn gar nicht vorhanden. Er übersah mich vollständig. Warum? Weil er mich seit dem Tag, an welchem der Vater und die Schwester meines Winnetou ermordet worden waren, als ihren eigentlichen Mörder betrachtete. Sie war aus eigenem Wunsch und auf Wunsch ihres ganzen Stammes zu meiner Frau bestimmt gewesen, ich aber hatte sie abgewiesen. Sie hieß Nscho-tschi, und sie trug diesen Namen mit Recht. Nscho-tschi heißt auf deutsch »Schöner Tag«, und als sie starb, ging eine helltagende, schöne Hoffnung der Apatschen mit ihr aus dem Leben, besonders eine liebe, große Hoffnung des alten Medizinmannes Tatellah-Satah. Sie war für ihn die schönste und beste Tochter sämtlicher Apatschenstämme, und er behauptete, daß sie damals nicht erschossen worden wäre, wenn ich mich nicht abweisend, sondern entgegenkommend verhalten hätte. Ich gab dies zwar unumwunden zu, fühlte mich aber von jedem Selbstvorwurf so vollständig frei, als ob die liebe, aufopferungsvolle Freundin heut noch lebte. Sie hatte nach dem Osten gewollt, um sich eine höhere Bildung anzueignen, und war unterwegs mit Intschu-tschuna, ihrem Vater, erschossen worden, um beraubt zu werden. Nie war es Winnetou, ihrem Bruder, eingefallen, deshalb, weil sie diese Reise meinetwegen unternommen hatte, auch nur den Schatten einer Anklage gegen mich zu richten; Tatellah-Satah aber hatte mich dafür aus seinem Buch, aus seinem Leben und aus allen seinen Berechnungen gestrichen, und zwar für immer und ewig, wie es schien. Er wohnte seit Menschengedenken in größter Einsamkeit hoch oben im Gebirge. Nur Häuptlinge durften sich ihm nahen, und auch das so selten wie möglich. Es mußte sich um Angelegenheiten von höchster Wichtigkeit handeln, ehe jemand die Erlaubnis bekam, zu ihm emporzusteigen. Nur Winnetou, sein ganz besonderer Liebling, durfte kommen, so oft es ihm beliebte. Ihm wurde jeder Wunsch erfüllt, dessen Erfüllung überhaupt möglich war, aber nur der eine nicht, den er oft vergebens äußerte, nämlich der, mich einmal mitbringen zu dürfen.

Und nun jetzt, nach so langer Zeit, auf einmal diese dringende Einladung! Das konnte nur sehr ernste und sehr gewichtige Gründe haben, Gründe, die keine gewöhnlichen und alltäglichen Ziele verfolgten, sondern sich auf Besseres und Wertvolleres bezogen, als ich jetzt, da ich seinen Brief soeben erst erhalten hatte, schon zu durchschauen vermochte. Aber es stand nun fest, daß ich hinüberging und daß ich zur rechten Zeit auf dem Nugget-tsil eintreffen Würde, um die mir bezeichnete Blaufichte zu mir sprechen zu lassen. Und ebenso bestimmt war es, daß das Herzle mich begleitete.

Als sie das hörte, jubelte sie nicht etwa auf, sondern sie zeigte mir ganz im Gegenteil ihr ernsthaftestes Gesicht. Sie dachte an die Anstrengungen einer solchen Reise und an die Gefahren eines solchen Rittes durch den Westen. Denn daß die von nah und fern herbeieilenden vielen Häuptlinge sich nicht der Eisenbahn bedienen würden, verstand sich ganz von selbst; das war überhaupt schon durch die Heimlichkeit, mit der Alles zu geschehen hatte, ausgeschlossen. Aber sie dachte, indem sie von diesen Anstrengungen und Gefahren sprach, nicht an sich selbst, sondern nur an mich. Es gelang mir jedoch sehr leicht, sie zu überzeugen, daß man jetzt zwar noch von einem »Westen«, aber schon langst nicht mehr von einem »Wilden Westen« sprechen könne und daß ein solcher Ritt für mich nur eine Erholung, nicht aber eine Beschwerde sei. Was sie selbst betrifft, so war sie gesund, mutig, geschickt, ausdauernd und frugal genug, um mich begleiten zu können. Sie beherrschte die englische Sprache, und sie hatte durch das fleißige Zusammenstudieren und Zusammenarbeiten mit mir sich so ganz nebenbei auch eine Menge indianischer Wörter und Redensarten angeeignet, die ihr zustatten kommen mußten. Auch was das Reiten betrifft, so war ihr unser letzter längerer Aufenthalt im Orient eine gute Lehrzeit gewesen. Sie hatte sich da ganz geschickt benommen und nicht nur Pferde, sondern auch Kamele gut zu behandeln gelernt.

Und wie stets und überall, so zeigte sie sich auch hier als klug berechnende, wirtschaftlich vorausschauende Hausfrau. Ich hatte von einigen amerikanischen Verlagsbuchhändlern Offerten erhalten, die sich auf die Herausgabe meiner Werke in englischer Sprache für da drüben bezogen. Diese Herren sollte ich, so meinte das Herzle, bei dieser Gelegenheit persönlich aufsuchen, um, falls sie auf meine Bedingungen eingingen, mit ihnen bequemer abschließen zu können, als es aus der Ferne und brieflich möglich war. Um die Deckelbilder vorzeigen zu können, machte sie sich von den Originalen derselben photographische Kopien im Großformat, die ihr sehr gut gelangen, denn das Herzle versteht das Photographieren viel, viel besser als ich. Am besten gelang ihr der Sascha Schneidersche zum Himmel aufstrebende Winnetou. Von demselben Künstler besitze ich auch zwei prächtige, ergreifende Porträts von Abu Kital, dem Gewaltmenschen, und Marah Durimeh, der Menschheitsseele. Auch diese beiden, die für die nächsten Bände bestimmt sind, wurden photographiert, um mitgenommen zu werden, und zwar nicht auf Karton, sondern unaufgezogen, also so dünn, daß sie im Koffer fast gar keinen Raum einnahmen und zusammengerollt oder zusammengebrochen in die Rocktasche gesteckt werden konnten.

Ich bitte, auch diese rein geschäftlichen Bemerkungen nicht für langweilig oder gar für überflüssig zu halten. Man wird im Verlauf der Erzählung sehen, daß einige dieser Bilder eine nicht gewöhnliche Wichtigkeit in der Kette der Ereignisse erhielten. Wer mich kennt, der weiß, daß es für mich keinen »Zufall« gibt. Ich führe Alles, was geschieht, auf einen höheren Willen zurück, mag man diesen Willen als Gott, als Schicksal, als Fügung oder sonst irgendwie bezeichnen. Diese Fügung waltete auch hier, dessen bin ich überzeugt. Die Buchhändlerofferten verliefen und zerronnen später zu nichts; ich fand gar keine Zeit, diese Herren aufzusuchen. Ihr Zweck war nur, den Anstoß zu dem Gedanken zu bilden, die Buchdeckel zu kopieren und diese Abzüge mitzunehmen.

Noch klarer und noch deutlicher trat dieser Schicksalszweck bei einer anderen Verlagsofferte hervor, die mir aber nicht schriftlich, sondern mündlich gemacht wurde, und zwar auffälligerweise genau zu derselben Zeit und auch von einem Amerikaner. Besonders beachtenswert sind hierbei die Nebenumstände, durch welche der Gedanke, es nur mit einem Zufall zu tun zu haben, vollständig ausgeschlossen wurde.

Ich habe hier in Dresden einen Freund, der ein viel in Anspruch genommener Arzt und Psychiater ist. Besonders auf dem letzteren Gebiet hat er ganz bedeutende Erfolge errungen. Er wird da als Autorität bezeichnet und von Fremden nicht weniger als von Einheimischen zu Rate gezogen. Dresden ist bekanntlich eine vielbesuchte Fremdenstadt.

Bei einem Besuch, den dieser Freund uns machte, nicht etwa Sonntags, wo er frei war, sondern mitten in der Woche, und zwar abends spät, also zu einer Zeit, in der wir noch niemals von ihm aufgesucht worden waren, kam die Rede auf unsern Entschluß, mit dem Norddeutschen Lloyd nach New York zu fahren.

»Etwa um Nuggets zu holen?« fragte er so schnell, als ob er nur auf diese unsere Mitteilung gewartet hätte.

»Wie kommen Sie grad auf Nuggets?« antwortete ich.

»Weil ich heut eines gesehen habe. Es war so groß wie ein Taubenei und wurde, als Berlocke gefaßt, an der Uhrkette getragen«, antwortete er.

»Von wem?«

»Von einem Amerikaner, der mir übrigens noch viel interessanter war als dieses sein Klümpchen Gold. Er sagte mir, er sei nur für zwei Tage hier, und erbat sich mein Gutachten in einer Angelegenheit, die für jeden Psychologen, also auch für Sie, mein lieber Freund, ein ,Fall‘ allerersten Ranges ist.«

»Wieso?«

»Es handelte sich um den in einer Familie sich vererbenden Zwang zum Selbstmord, einen Zwang, der unbedingt sämtliche Glieder der Familie ergreift, ohne auch nur ein einziges zu verschonen, und bei dem einzelnen ganz leise, leise beginnt, um nach und nach an Stärke zu wachsen, bis er unwiderstehlich wird.«

»Ich hörte schon von solchen Fällen und lernte einen derart Belasteten sogar persönlich kennen. Es war noch dazu ein Schiffsarzt, mit dem ich von Suez nach Ceylon fuhr. Wir verbrachten eine ganze, helldunkle Sternennacht auf dem Oberdeck über psychologische Fragen. Da gewann er Vertrauen zu mir und teilte mir mit, was er sonst Keinem sagte. Ein Bruder und eine Schwester hatten sich bereits das Leben genommen; der Vater ebenso. Mutter war vor Gram und Angst gestorben. Eine zweite Schwester schickte ihm jetzt während seiner Auslandstour Briefe nach, daß sie dem unglückseligen Drang unmöglich länger widerstehen könne, und er selbst war nur deshalb Arzt geworden, um, falls kein Anderer helfen könne, vielleicht selbst den Weg der Rettung zu finden.«

»Was ist aus ihm und seiner Schwester geworden?«

»Das weiß ich nicht. Er versprach mir, zu schreiben und mir seine heimatliche Adresse anzugeben, hat dies aber nicht getan. Er war Oesterreicher. Stand es mit diesem Ihrem Amerikaner ebenso traurig?«

»Ob mit ihm selbst, kann ich nicht sagen. Er nannte keine Namen, auch den seinigen nicht, und tat so, als ob er nur von Bekannten spreche, nicht aber von seiner eigenen Familie. Aber der Eindruck, den er auf mich machte, war ein solcher, daß ich ihn für persönlich beteiligt halte. Er hatte so unendlich traurige Augen. Er schien ein guter Mensch zu sein, und es tat mir wirklich aufrichtig leid, ihm keine sichere Hilfe in Aussicht stellen zu können.«

»Aber doch wenigstens Trost?«

»Ja, Rat und Trost. Aber denken Sie sich so eine Fülle von Unheil: Die Mutter hatte Gift genommen. Der Vater war spurlos verschwunden. Von fünf Kindern, die lauter Söhne waren, lebten nur noch zwei. Sie alle sind verheiratet gewesen, aber von ihren Frauen verlassen worden, weil bei ihren Kindern der Drang zum Selbstmord schon im Alter von neun oder zehn Jahren eingetreten ist und sich derart schnell entwickelt hat, daß nur ein einziges von ihnen das Alter von sechzehn Jahren erreichte.«

»Sie sind also alle tot?«

»Ja, alle. Nur die erwähnten beiden Brüder leben noch. Aber sie kämpfen mit dem Mordzwang Tag und Nacht, und ich glaube nicht, daß einer von ihnen so stark sein wird, diesen Dämon in sich zu besiegen.«

»Schrecklich!«

»Ja, schrecklich! Aber ebenso rätselhaft wie schrecklich! Dieser unglückselige Drang existiert nämlich nur erst in der zweiten Generation; vorher war er nicht vorhanden. Leider konnte mir nicht gesagt werden, bei wem er sich zuerst äußerte, ob bei der an Gift gestorbenen Mutter oder bei dem verschollenen Vater. Auch erfuhr ich nicht, ob diese Krankheit etwa seit irgend einem Ereignis datiert, welches mit großen oder gar unheilvollen seelischen Erschütterungen verbunden war. Das Würde doch wenigstens einen Anhalt geben. So aber mußte ich mich darauf beschränken, anstrengende Arbeit für Körper und Geist anzuraten, treue Pflichterfüllung, die mit heiterer, aber ja nicht niedriger Zerstreuung abzuwechseln hat, und vor allen Dingen fortwährende Übung und Weiterstählung der Charakter- und Willenskräfte, auf die es hier in diesem Fall am meisten anzukommen hat. »

»Haben Sie den Stand dieser unglücklichen Familie erfahren?«

»Ja. Das war ja eine der Hauptfragen, die ich vorzulegen hatte. Der verschollene Vater war Westmann, Squatter, Trapper, Goldsucher und sonst alles Derartige gewesen und hat von Zeit zu Zeit das, was er dabei erübrigte, heimgebracht. Das sind oft ganz ansehnliche Summen gewesen. Er hat die Manie gehabt, Millionär werden zu wollen. Das wurde zwar nicht erreicht, aber reich, ziemlich reich ist die Familie doch geworden. Die fünf Brüder vereinigten sich zu einem Großgeschäft in Pferden, Rindern, Schafen und Schweinen – —«

»Sie hatten also wohl viel mit den großen Schlächtereien zu tun?« unterbrach ich ihn.

»Allerdings.«

»Das konnte bei dieser Veranlagung nur schädlich sein, sehr schädlich!«

» Unbedingt! Massentötung von Schlachtvieh! Warmer Blutdunst! Immerwährender Fleisch- oder gar Kadavergeruch! Hieraus folgende Verhärtung des Mitgefühles! Förmliche Auffütterung und Anmästung jenes innerlichen Dämons! Ich habe das dem Amerikaner ganz offen gesagt und ihn gewarnt. Da teilte er mir mit, daß er das gar wohl gefühlt habe und darum für die beiden Brüder der Ratgeber und Helfer gewesen sei, das Geschäft zu verkaufen. Das sei im vorigen Jahr geschehen, doch ohne daß sich hierauf eine Veränderung oder gar Verringerung des Leidens eingestellt habe. – Doch, da unterhalte ich Sie noch am späten Abend mit Dingen, die Ihnen und mir nur die Nachtruhe verderben können. Ich bitte um Verzeihung und bin so pfiffig, mich, um nicht von Ihnen fortgewiesen zu werden, jetzt selbst hinauszuwerfen. Schlafen Sie wohl!«

Er brach so kurz ab und entfernte sich so schnell, wie es sonst seine Art gar nicht war. Genau ebenso verhielt es sich überhaupt mit seinem heutigen Kommen. Es war, als habe er uns so ganz außerhalb der gewohnten Zeit nur deshalb aufgesucht, um uns auf diesen Amerikaner aufmerksam zu machen. Das Herzle hatte dasselbe Gefühl wie ich.

»Er ist mir heut gar nicht wie ein besuchender Freund, sondern wie ein Bote vorgekommen«, sagte sie. »Sollte es mit diesem Yankee irgendeine Bewandtnis haben, die auch uns angeht? So darf ich freilich nur dich fragen, nicht aber andere, die es für selbstverständlich halten würden, mich auszulachen!«

Ich gab ihr recht. Aber siehe da: Am nächsten Vormittag, zur Besuchszeit, so um elf Uhr, saß ich bei der Arbeit. Da hörte ich die Hausglocke. Es wurde jemand eingelassen. Ich hatte gesagt, daß ich heute absolut für niemand zu sprechen sei. Dennoch kam nach einiger Zeit das Herzle zu mir herauf, legte eine Visitenkarte vor mich hin und sagte:

»Verzeih! Ich kann nicht anders; ich muß dich doch unterbrechen! Es ist gar zu sonderbar – du wirst dich wundern.«

Ich warf einen Blick auf die Karte. »Hariman F. Enters« stand darauf, nur dieser Name, weiter nichts. Ich sah das Herzle erwartungsvoll an.

»Ja, es ist wirklich erstaunlich«, nickte sie. »Er hat das taubeneigroße Nugget an der Uhrkette.«

»Wirklich? – Wirklich?«

»Ja! Und die ganz auffallend traurigen Augen sind auch da!«

»Und was will er?«

»Mit dir reden.«

»Ich habe keine Zeit. Hast du ihm das gesagt? Er mag wiederkommen!«

»Er muß noch heut fort, sonst versäumt er das Schiff. Er sagt, er gehe nicht fort, ohne mit dir gesprochen zu haben. Er bleibe sitzen, bis du kommst. Du sollst ihm sagen, was die Zeit kostet, die du dadurch versäumst; er werde sofort bezahlen.«

»Das ist amerikanischer Unsinn! Hat er dir gesagt, was er ist?«

»Verlagsbuchhändler. Er scheint kein Wort Deutsch sprechen zu können. Er will dir den ,Winnetou‘ abkaufen.«

»Hast du ihm hierauf vielleicht schon Bescheid gegeben?«

»Ich teilte ihm mit, daß wir schon ähnliche Offerten von drüben bekommen haben und nächstens mit dem Lloyd hinübergehen werden, um das zu erledigen.«

»Du, Herzle, das war nicht sehr gescheit von dir!«

»Warum nicht?«

»Wer nach dem ,Westen‘ gehen will, der hat sich vor allen Dingen in der Schweigsamkeit zu üben, ganz gleich, ob es da drüben noch ,wild‘ zugeht oder nicht.«

»Aber wir sind ja noch gar nicht drüben!«

»Ich habe gesagt, schon wenn man hinüber will, verstanden, will! übrigens brauchen wir, um schweigsam sein zu müssen, gar nicht erst hinüber, denn er ist schon hier hüben bei uns.«

»Wo?«

»Unten bei dem Amerikaner. Dieser Mr. Hariman F. Enters ist der amerikanische Westen.«

»Meinst du?«

»Gewiß! Du wirst bald sehen, daß dies richtig ist. Mag er sein, wer er will, und mag er wollen, was er will, wir spielen jetzt Amerika. Er ist gekommen, sich bei uns anzuschleichen. Drehen wir den Spieß um! Geh jetzt hinab und sag, daß ich kommen werde; aber teile ihm nicht mehr mit. Sprich mit ihm überhaupt so wenig wie möglich!«

Sie ging, und ich folgte ihr nach einiger Zeit nach. Mr. Enters war ein wohlgebauter, glattrasierter Mann im Alter von ungefähr vierzig Jahren. Er machte einen wohlwollenerweckenden Eindruck, ohne grad das Benehmen eines hochgebildeten Mannes zu zeigen. Er trat bescheiden auf, war aber trotzdem dabei auch ein wenig Protz. Das von den traurigen Augen, das stimmte. Lachen schien er gar nicht zu können, und wenn er ja einmal lächelte, so machte das mehr den Eindruck der Qual als der Heiterkeit. Meine Frau stellte uns einander vor. Wir verbeugten uns und saßen uns dann einander gegenüber. Ich bat ihn, mir zu sagen, womit ich ihm dienen könne. Er antwortete, indem er fragte:

»Ihr seid Old Shatterhand?«

»Man nannte mich so«, erwiderte ich.

»Auch jetzt noch?«

»Höchstwahrscheinlich.«

»Ihr geht nächstens wieder hinüber?«

»Ja.«

»Wohin? Bis wie weit?«

»Weiß ich noch nicht.«

»Mit welchem Schiff?«

»Ist noch unbestimmt.«

»Auf wie lange?«

»Das wird sich erst drüben entscheiden.«

»Ihr besucht alte Bekannte?«

»Vielleicht.«

»Werdet Ihr Euch mehr nach dem Norden oder nach dem Süden der Staaten wenden?«

Da stand ich von meinem Sitz auf, verbeugte mich, drehte mich um und ging nach der Tür.

»Wohin wollt Ihr, Mr. May?« rief er da hastig hinter mir her.

Ich blieb stehen und antwortete:

»Wieder an meine Arbeit. Ich habe Euch aufgefordert, mir mitzuteilen, was Ihr von mir wünscht. Anstatt dies zu tun, legt Ihr mir eine ganze Reihe von Fragen vor, zu denen Euch absolut kein Recht gegeben ist. Hierauf zu antworten, habe ich keine Zeit!«

»Ich habe Mrs. May gesagt, daß ich sofort bezahle, was das kostet«, warf er ein.

»Das könnt Ihr nicht. Ihr seid zu arm dazu, viel zu arm!«

»Glaubt Ihr? Mache ich wirklich einen so armen Eindruck? Ihr irrt Euch, Sir!«

»Gewiß nicht. Denn selbst wenn Ihr Euch im Besitz von tausend Milliarden befändet, so wäret Ihr trotzdem außerstande, sogar dem allerärmsten Teufel auch nur eine Viertelstunde der ihm von Gott gegebenen, vollständig unersetzlichen Lebenszeit zu bezahlen!«

»Wenn Ihr das so betrachtet, so mag es sein. Bitte, setzt Euch wieder nieder! Ich werde mich so kurz wie möglich fassen.«

Er wartete, bis ich diesen seinen Wunsch unter scheinbarem Zögern erfüllt hatte, und fuhr dann fort:

»Ich bin Verlagsbuchhändler. Ich kenne Euern ,Winnetou‘ – – – » »Sprecht und lest Ihr Deutsch?« unterbrach ich ihn.

»Nein«, antwortete er.

»Wie könnt Ihr da diese Erzählung kennen? Sie ist meines Wissens noch nicht in das Englische übersetzt.«

»Sie wurde in einer mir befreundeten Familie, in welcher auch deutsch gesprochen wird, gelesen und mir zuliebe gleich während des Lesens übersetzt. Was ich da hörte, interessierte mich derart, daß ich einen jungen, stellenlosen Deutschamerikaner zu mir nahm, um sie mir in voller Muße nach und nach derart vorlesen zu lassen, daß ich alles verstand und mir die notwendig erscheinenden Notizen machen konnte.«

»Ah, Notizen! Wozu Notizen?«

Ich bemerkte, daß diese Frage ihn in Verlegenheit brachte. Er versuchte, dies zu verbergen, und antwortete:

»Natürlich nur rein literarische, als Buchhändler, selbstverständlich! Ich habe dann auf meinen weiten Ritten durch den Westen diese Notizen bei mir gehabt und Alles, was in Euern drei Bänden steht, nachgeprüft. Darum bin ich imstande, Euch sagen zu können, daß Alles stimmt, Alles, sogar oft die geringsten Kleinigkeiten.«

»Danke!« sagte ich kurz, als er mich hierbei ansah, ob dieses Lob einen Eindruck auf mich machen werde.

»Nur zwei Orte«, fuhr er fort, »konnte ich noch keiner Prüfung unterziehen, weil ich sie noch nicht aufzufinden vermochte.«

»Welche, Sir?«

»Den Nugget-tsil‘ und das ,Dunkle Wasser‘, in welchem Sander sein wohlverdientes Ende fand. Werdet Ihr vielleicht auf Eurer jetzigen Reise an diese Stellen kommen?«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber ich höre, daß Ihr schon wieder so überflüssige Fragen bringt, anstatt mir zu sagen, was Ihr wollt – – – !«

Ich machte Miene, wieder aufzustehen.

»Bleibt sitzen, bleibt sitzen!« rief er schnell. »Ich bin ja sofort wieder bei der Sache, oder vielmehr, ich habe mich von ihr noch gar nicht entfernt. Ich wollte Euch nur zeigen, daß ich Eure Bücher geprüft und der Uebersetzung in die englische Sprache für wert gefunden habe.«

»Geprüft? Dazu gehören lange Jahre!«

»Haben es auch, haben es auch!« nickte er eifrig, ohne zu bemerken, daß jetzt ich der Anschleichende war. »Es hat eine sehr lange Zeit gedauert, ehe ich alle die Orte berühren konnte, um die es sich da handelte.«

»Vertrug sich das mit Eurem Geschäft?«

»Gewiß, gewiß. Wir hatten damals ein Grossogeschäft in Pferden, Rindern, Schweinen und Schafen und trieben uns bei unseren Einkäufen sehr viel im alten Westen herum.«

»Ihr sagt ,wir‘. Also Kompagnons?«

»Ja, aber keine Fremden, sondern brüderliche Kompagnie. Wir waren fünf Brüder, sind aber jetzt nur noch zwei. Auch noch Kompagniegeschäft, aber nicht in Pferden und Rindern, sondern in Büchern. Wir wollen Euch Eueren ,Winnetou‘ abkaufen – – – »

»Nur ihn?« fiel ich ihm in die Rede.

»Ja, nur ihn«, erwiderte er.

»Warum nicht auch die andern Bücher, die doch auch Reiseerzählungen sind?«

»Weil sie uns nicht interessieren.«

»Ich denke, es kommt hierbei mehr darauf an, was die Leser interessiert?«

»Mag sein; bei uns aber ist das anders. Wir wollen nur den Winnetou, weiter nichts.«

»Hm! Wie denkt Ihr Euch dieses Geschäft?«

»Sehr einfach: Ihr verkauft ihn uns mit allen Rechten, ein für allemal, und wir bezahlen ihn Euch ein für allemal.«

»Wann geschieht diese Zahlung?«

»Sofort. Ich bin imstande, Euch eine Anweisung an jede Euch beliebige Bank zu geben. Wieviel verlangt Ihr?«

»Wieviel bietet Ihr?«

»Je nachdem! Wir dürfen drucken, so viel wir wollen?«

»Wenn wir einig werden, ja.«

»Oder auch, so wenig wir wollen?«

»Nein.«

»Wie? Was? Nicht?«

»Nein! Natürlich nicht!«

»Wieso? Warum?«

»Ich schreibe meine Bücher, damit sie gelesen werden, nicht aber damit sie verschwinden.«

»Verschwinden?« fragte er unter einer Bewegung der Überraschung. »Wer hat Euch gesagt, daß sie verschwinden sollen?«

»Gesagt wurde es allerdings noch nicht; aber Ihr erwähntet doch, daß auch so wenig gedruckt werden darf, wie Euch beliebt.«

»Ganz natürlich. Wenn wir sähen, daß die Bücher im Englischen keinen Anklang fänden, so würden wir eben darauf verzichten, sie zu drucken. Das versteht sich doch wohl von selbst!«

»Ist das Euer Ernst?«

»Ja.«

»Sagt, hat Eure Reise nach Deutschland noch andere Zwecke?«

»Nein. Ich habe keinen Grund, Euch zu verheimlichen, daß ich nur dieser Eurer drei Bücher wegen herübergekommen bin.«

»So tut es mir leid, daß Ihr diese Reise so ganz umsonst gemacht habt. Ihr bekommt die Bücher nicht.«

Ich war wahrend dieser Worte aufgestanden. Auch er erhob sich von seinem Stuhl. Er war nicht imstande, die völlig unerwartete, große Enttäuschung zu verbergen, die ihn ergriff. Sein Blick wurde ängstlich, und seine Stimme vibrierte, als er fragte:

»Verstehe ich Euch da recht, Sir? Ihr wollt den ,Winnetou‘ nicht verkaufen?«

» Wenigstens nicht an Euch. Ich gebe meine Bücher nicht einzeln zur Uebersetzung. Wer eins oder nur einige wünscht, der ist gezwungen, sie alle zu nehmen.«

»Aber wenn ich Euch nun für diese drei Bände so viel zahle, wie Ihr für alle verlangt?!«

»Auch dann nicht.«

»Seid Ihr denn gar so reich, Mr. May?«

»Nein, keineswegs. Von Reichtum ist bei mir keine Rede. Ich habe nichts als mein gutes, für mich und meine Zwecke grad so zureichendes Auskommen, mehr nicht. Aber das genügt mir vollständig. Und wenn Ihr meine Erzählung ,Winnetou‘ wirklich kennt, so wißt Ihr, daß ich überhaupt nicht nach Reichtum trachte, sondern nach höherstehenden, wertvolleren Gütern, mit denen ich meine Leser erfreuen und segnen will. Dazu ist notwendig, daß meine Bücher den richtigen Verleger finden, und daß Ihr der nicht sein könnt, davon habt Ihr mich soeben überzeugt.«

Meine Frau sah und hörte es mir an, daß an diesem meinem Entschluß nicht zu rütteln war. Der Yankee tat ihr leid. Er stand mit einer Miene und in einer Haltung vor uns da, als ob ein nicht wieder gut zumachendes Unheil über ihn hereingebrochen sei. Er zögerte, meinen Bescheid als mein letztes Wort zu betrachten. Er machte Einwendungen. Er brachte Gründe. Er gab Versprechungen, doch vergeblich. Schließlich, als gar nichts helfen wollte, sagte er:

»Ich gebe die Hoffnung trotz alledem nicht auf, daß ich den ,Winnetou‘ doch noch von Euch bekomme. Ich sehe, daß Mrs. May dieser Sache viel weniger abgeneigt ist, wie Ihr. Beratet Euch mit ihr, und gebt mir Zeit, inzwischen mit meinem Bruder, der doch mein Kompagnon ist, zu reden.«

»Wollt Ihr dann etwa wieder herüberkommen? Das würde ebenso nutzlos sein wie Eure jetzige Reise,« erklärte ich.

»Herüber zu kommen, habe ich nicht nötig, weil Ihr ja, wie ich höre, baldigst hinübergeht. Gebt mir irgendeine Adresse da drüben an, und bestimmt mir einen Tag, an dem Ihr dort zu treffen seid, so stelle ich mich ein.«

»Auch das hätte keinen Erfolg!« versicherte ich.

»Könnt Ihr das jetzt schon wissen? Ist es nicht möglich, daß ich nach der Besprechung mit meinem Bruder Euch ein Anerbieten machen kann, welches Euern Zwecken und Wünschen besser entspricht als das heutige?«

Ich fühlte, daß er innerlich davor zitterte, auch noch hiermit abgewiesen zu werden. Auch ich hatte Mitleid, aber ich durfte diesem Gefühl nicht die Herrschaft über meine Entschlüsse einräumen. Das Herzle bombardierte mich mit bittenden Blicken, und als dies nicht schnell genug wirken wollte, ergriff sie gar meine Hand. Da sagte ich:

»Gut, so mag es sein. Geben wir uns Zeit zum überlegen! Meine Frau war noch niemals mit da drüben. Sie erwartet ganz besonders, den Niagarafall zu sehen. Wir werden also von New York aus mit dem Hudsondampfer nach Albany fahren und von da mit der Bahn nach Buffalo, von wo aus es bis zu den Fällen nur noch eine Stunde ist. In Niagara-Falls wohnen wir auf der kanadischen Seite, und zwar im Clifton-Hotel, wo ich – – —«

»Das kenne ich; das kenne ich sehr gut!« unterbrach er mich. »Da ist man sehr gut aufgehoben. Ein Hotel allerersten Ranges, still, vornehm, mit allen Errungenschaften der Neuzeit ausgestattet und – – —«

» Well!« fiel nun ich ihm in die Rede, um ihm dieses Lob, mit dem er nur sich selbst in das Licht stellen wollte, abzuschneiden. »Wenn Ihr es kennt, so ist es ja gut. Also dort sind wir zu finden.«

»Wann?«

»Das weiß ich jetzt noch nicht. Am besten ist es, Ihr setzt Euch mit der Verwaltung dieses Hauses in Verbindung, daß sie Euch von unserer Ankunft sofortige Nachricht gibt.«

»Richtig! Das ist das beste, und das werde ich tun!«

Dabei blieb es. Es gab hüben und drüben noch einige höfliche Abschiedsworte, dann war dieser Besuch, der viel größere Wichtigkeit besaß, als selbst ich jetzt dachte, beendet.

Das Herzle konnte nicht ganz mit mir zufrieden sein. Sie ist so sehr zum Mitleid und Erbarmen geneigt, und der ängstliche, gequälte Blick dieses Mannes wollte ihr noch tagelang nicht aus dem Sinn kommen.

Sie meinte, daß ich nicht höflich genug und zu abweisend mit ihm verfahren sei.

»Warum tatest du das?« fragte sie.

»Weil er mich belog«, antwortete ich. »Weil er nicht offen und ehrlich war. Weißt du, wer er ist?«

»Ja.«

»Nun, wer?«

»Einer der beiden übriggebliebenen Söhne jener unglücklichen Familie, deren Glieder alle durch Selbstmord sterben.«

»Ja, das ist er allerdings, aber zugleich auch etwas anderes. Er heißt nicht Enters.«

»Du glaubst, er führt einen falschen Namen?«

»Ja.«

»Hältst ihn also für einen Schwindler, einen Hochstapler?«

»Nein. Grad weil er ein ehrlicher Mann ist, trägt er nicht seinen eigentlichen, richtigen Namen. Er schämt sich desselben. Ich vermute sogar, daß er nur infolge meiner drei Bände ,Winnetou‘ auf diesen Namen verzichtete.«

Sie war so erstaunt hierüber, daß sie mich weiterzufragen vergaß. Darum fuhr ich unveranlaßt fort:

»Hältst du es für möglich, daß ich überzeugt bin, seinen wirklichen Namen zu wissen?«

»Sage ihn!« forderte sie mich auf.

»Dieser Mann heißt nicht anders als Sander.«

Da warf sie mir im höchsten Erstaunen die atemlose Frage hin:

»Welchen Sander meinst du? Den Mörder von Winnetous Vater und Schwester?«

»Ja. Der Mann, der bei uns war, ist sein Sohn.«

»Unmöglich, unmöglich!«

»Gewiß, gewiß!«

»Beweise es!«

»Das ist eigentlich gar nicht nötig. Du müßtest es ebenso schnell und leicht erraten haben wie ich.«

»Wirklich? Bis jetzt erkenne ich nur das Eine, daß du ihn für einen Lügner hältst, weil er sich Enters anstatt Sander nennt.«