Loe raamatut: «Der Pontifex», lehekülg 10

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„Unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in Dir, o Herr.“
(Kirchenvater Augustinus)

In der Tat hat er viele Laiengläubige gleich zu Beginn seines Pontifikates vor den Kopf gestoßen, indem er sie der Lauheit und Faulheit bezichtigte und sie aufforderte, die bequeme Deckung zu verlassen und für ihren Glauben endlich zu kämpfen.

Damit forderte er auch nach Meinung einiger Kurienkardinäle die gewaltbereiten Muslime geradezu heraus. Man habe den Eindruck gewinnen können, der Papst wolle bewusst islamistische Attentäter anstacheln, die Welt mit massiven Terrorangriffen auf kirchliche und andere Einrichtungen zu schockieren, um alsdann im Gegenzug als „gerechtfertigte“ Reaktion mit aller Macht auf sie losgehen zu können.

Zum Glück scheint bisher allerdings die Neigung der Muslime gering zu sein, den hingeworfenen Fehdehandschuh auch zu ergreifen. Nicht nur in katholischen, auch in muslimischen und selbst in islamistischen Kreisen herrscht immer noch beträchtliche Verwirrung, weil man den neuen Papst nicht richtig einzuordnen vermag.

Am klügsten ist es vermutlich, erst einmal abzuwarten.

Es geht auf zwei Uhr morgens zu und Leo XIV. hat eine besondere Rede mit einem wichtigen Glaubensinhalt vorbereitet, den er demnächst im Petersdom ex cathedra zu verkünden gedenkt, ehe er auch weltweit und für Katholiken als allgemeinverbindlich verbreitet werden wird, weil durch den Anspruch der päpstlichen Unfehlbarkeit in Glaubensdingen geadelt …

Der Heilige Vater verzieht sein männlich-schönes, immer noch weitgehend faltenfreies Gesicht zu einem ironischen Lächeln. Für dieses geradezu unglaubliche „Unfehlbarkeitsdogma“, ein Produkt des Ersten Vatikanischen Konzils (1869–1870) unter Papst Pius IX., findet Leo Africanus nur einen einzigen Begriff: Genial!

Bietet es doch durch nichts in Zweifel zu ziehende Möglichkeiten, etwaige Gegner mit Fug und Recht mundtot zu machen. Immerhin soll es ja angeblich der „Heilige Geist“ persönlich sein, der den Pontifex inspiriert. Zu den weit über 200 Dogmen der katholischen Kirche wird sich in Kürze noch ein weiteres hinzugesellen. Unwillkürlich breitet sich ein befriedigtes Grinsen auf Leos Gesicht aus.

„Der Herr behütet dich; der Herr ist dein Schatten über deiner rechten Hand.“
(Psalm 121, 5)

‚Das katholische Fußvolk hat sowieso fraglos zu gehorchen und der Teil der hohen Geistlichkeit, der mir eventuell gefährlich werden könnte, ist – zum mindesten in der Öffentlichkeit – zum Kuschen verdammt’, mag Papst Pius der Neunte sich seinerzeit gedacht haben, als er sich den schlauen Coup mit der päpstlichen Unfehlbarkeit hat einfallen lassen, nachdem er sich einige Jahrzehnte zuvor schon die Dogmatisierung der Unbefleckten Empfängnis Mariens ausgedacht hatte.

Eine vollkommen sinnfreie Behauptung, die nicht das Geringste zum christlichen Glaubensverständnis, so wie Jesus es möglicherweise verstanden haben mag, beitragen kann. Man könnte ja eigentlich vermuten, diese dicke Kröte („Glaubenswahrheiten, in alle Ewigkeit wahr und unveränderbar“), die es natürlich auch heute noch für Gläubige zu schlucken gilt, stamme aus dem Mittelalter oder aus noch früherer Zeit, aber keinesfalls aus dem 19. Jahrhundert …

„Welche Chuzpe muss dieser Papst besessen haben, seinen aufgeklärten Zeitgenossen die Anmaßung, er sei quasi ein Übermensch, der in Glaubensdingen nicht irren könne, als unumstößliches Faktum vor die Nase zu setzen?“, murmelt der Heilige Vater kopfschüttelnd vor sich hin.

Ach ja, das Mittelalter! Leo Africanus unterdrückt ein weiteres ironisches Grinsen. ‚Eine oft verkannte Zeitspanne, die durchaus nicht so ‚finster’, rückschrittlich und betriebsblind gewesen ist, wie man sie heute gerne darstellt’, denkt er.

Er erhebt sich von seinem Schreibtischsessel um an eines der Fenster zu treten, dessen Vorhänge nicht geschlossen sind und ihm einen Blick nach draußen in die tiefe Nacht erlauben, die immer noch von den zahlreichen Lichtern der niemals ruhenden Weltstadt Rom erhellt wird.

‚Die effektivsten Scheuklappen verpasste man den Leuten in Wahrheit erst viel später und die dicksten Bretter, die man den Gläubigen vors Hirn knallte, wurden auch erst in späteren Jahrhunderten gesägt’, geht dem sich plötzlich vereinsamt fühlenden Mann aus einem, im geographischen Sinne, nicht allzu fernen Kontinent durch den Sinn: Afrika liegt bekanntlich nicht sehr weit weg von Europa …

„Diese Fremdheit liegt in meinem eigenen Wesen und meiner eigenen Sozialisation“, murmelt er unwillkürlich. Auf einmal sehnt er sich nach Monique, seiner vernachlässigten Geliebten. Sie bedeutet für ihn immer noch die afrikanische Heimat, das Geborgensein inmitten seiner eigenen Kultur. Er liebt sie nach wie vor – aber hat er sie dies in letzter Zeit auch fühlen lassen? Wann hat er sie das letzte Mal als Geliebte im Arm gehalten, ihren Duft verspürt und ihre Leidenschaft genossen? Gut erinnern kann sich Leo nur an ein einziges Mal, gleich nach seiner Wahl zum Papst.

Auf einmal ergreift ihn ein mächtiges Verlangen nach Monique und er überlegt ernsthaft, sie zu sich zu rufen. Aber dann verwirft Leo Africanus doch den Impuls, sie zu so später Stunde noch zu wecken. Am nächsten Tag wird er sich ihr wieder nähern …

Stattdessen sinniert er weiter.

In der Tat! Im Mittelalter hätte kein vernünftiger Mensch an so eine Absurdität – eine Blasphemie im Grunde! – gedacht, ein Mensch – und sei er auch das weltliche Oberhaupt der Kirche – könne unfehlbar sein. Zum Wenigsten hätte er es nicht gewagt, diese dreiste Anmaßung auch noch laut auszusprechen.

‚Diese Eigenschaft gebührt nach christlichem Verständnis allein Gott, dem Herrn! Darum auch der Dreh, dass Pius IX. die „Dritte göttliche Person“ (auch so ein Aberwitz; im Grunde reinstes Heidentum), den Heiligen Geist, für sein dreistes Konstrukt bemüht hat!’

Leo gestattet sich jetzt ein dröhnendes, befreiendes Lachen.

Genau diese „Dritte göttliche Person“ hat er als Thema ausgewählt für sein Dogma! Dass er damit den sogenannten „Schutzengel“, der angeblich ein Auge auf jedes fromme Schäflein hat, „entmachtet“, stört den Heiligen Vater nicht.

Von nun an ist es nach Leos XIV. Willen „der Heilige Geist“, der dieses spezielle Wächteramt übernimmt. Ist dieser doch „die Liebe, die vom Vater und vom Sohne ausgeht“ und damit ist er auch zur Liebe zu den Gläubigen verpflichtet und dafür verantwortlich, dass keinem ein Leid geschieht.“

Noch einmal blättert er die Papiere durch, prägt sich gewisse Passagen dieser speziellen Rede ganz besonders ein, ehe er die Blätter sorgfältig zusammenschiebt, aufsteht und sie dann, penibel Kante auf Kante gelegt, in seinem Tresor verwahrt, zu dem allein er den Schlüssel verwahrt. Er weiß noch nicht genau, wann er diese bedeutsame Predigt halten wird.

Einen Augenblick verweilt der Papst kerzengerade mitten im Raum; er streckt sich dabei und nimmt beide Arme nach oben, um das vom langen Sitzen gestresste Rückgrat zu entspannen. Selbst nach so langer Zeit europäischer Sitz-Gepflogenheiten, bereitet ihm das ungesunde, stundenlange Ausharren auf Stühlen hin und wieder immer noch Schwierigkeiten …

Wie stets vor dem Schlafengehen wird Seine Heiligkeit noch einmal ein paar seiner sich selbst auferlegten gymnastischen Übungen absolvieren. Er möchte unbedingt jugendlich und gelenkig bleiben.

Sein Vater Patrice mit seinen gut dreiundsiebzig Jahren hält dies ganz genauso – und der alte Herr ist in der Tat noch topfit.

„Sollte ich mal dauerhaft den Rollstuhl brauchen, werde ich mir die Kugel geben“, hat er seinen hochwürdigen Sohn kürzlich wissen lassen. Dass Selbstmord eine Todsünde ist, interessiert den alten Schwerenöter, der kürzlich noch eine kleine Tochter mit einer seiner jugendlichen Konkubinen gezeugt hat, keineswegs.

„Ich weiß, mein lieber Papa“, hat Leo ihm milde geantwortet. „Falls es nach dir ginge, würdest du am liebsten noch zu Fuß zu deiner eigenen Beerdigung marschieren!“

Aber der schlaue Fuchs kennt die Bibel ganz gut und wusste zu kontern:

„Haltet mich nicht auf, denn der Herr hat Gnade zu meiner Reise gegeben. Lasst mich, dass ich zu meinem Herrn ziehe.“ Zu lesen, mein lieber Sohn, im ersten Buch Mose, Kapitel 24, Vers 56.“

Über das bemerkenswert glatte Gesicht des Präsidenten hatte sich ein breites Grinsen gelegt. „Und ich kann dir noch jemanden zitieren, nämlich den heiligen Augustinus: „Ihr, die ihr mich so sehr geliebt habt, seht nicht auf das Leben, das ich beendet habe, sondern auf das Leben, welches ich beginne.“ Und im Psalm 36, Vers 10 heißt es: „Denn bei Dir ist die Quelle des Lebens und in Deinem Licht sehen wir das Licht.““

Patrice Obembe hatte sich anschließend vorgeneigt, als wolle er dem Papst leise ins Ohr flüstern: „Was allerdings keineswegs heißen soll, dass ich an ein Leben nach dem Tod glaube, mein lieber Maurice.“

LESUNG, AUS DEM NEUEN TESTAMENT

„Halleluja!“

„Ich schlief und träumte, das Leben sei Freude. Ich erwachte und sah, das Leben war Pflicht. Ich handelte und siehe: Die Pflicht war Freude.“

(Rabindranath Tagore, indischer Dichter und Philosoph)

Aufatmend lässt der Papst sich in seinem Gemach auf dem glänzenden Parkettboden aus Edelhölzern nieder, drapiert seine Beine in die übliche „Lotus-Haltung“, legt die Hände entspannt auf die Knie und beginnt wie üblich, nicht zu beten, sondern zu meditieren …

Erneut will er sich Kraft holen, von irgendwoher aus dem All, um seine ehrgeizigen Pläne umso leichter umsetzen zu können. Mittendrin erinnert er sich an einen Vorfall, der sich vor mehr als zwei Jahrzehnten zugetragen hat.

Yoweri Museveni, damals so alt wie Patrice Obembe heute, nämlich dreiundsiebzig, und Langzeitpräsident von Uganda, erregte seinerzeit beträchtliches Aufsehen, als er laut die Meinung vertrat, christlicher Glaube und Gebete hätten in den vergangenen Jahrhunderten die Entwicklung in Afrika verlangsamt.

Anlässlich einer religiösen Veranstaltung in der Hauptstadt Kampala hatte er laut ugandischer Medien ungeniert all jene kritisiert, die „beten und beten und rufen, als ob Gott taub wäre“.

Den Gläubigen in dem ostafrikanischen Land, übrigens ein Nachbarstaat von Ghanambo (wo Muhammad Obembe, Leos Onkel, regiert), empfahl Museveni stattdessen, „weniger zu beten und mehr zu arbeiten!“

Eine Forderung, die Leo Africanus aufrichtigen Herzens unterstützt – und zwar nicht nur für christliche, sondern auch und vor allem für muslimische oder hinduistische Länder: „Wo der Glaube und nicht das Wissen die Hirne der Menschen dominiert, regieren Engstirnigkeit, Fremdenfeindlichkeit, Überheblichkeit, Rückständigkeit und Unwissenheit – einfach Dummheit!“

Dass der neue Papst so denkt, wissen nur etwa eine Handvoll Menschen. Der Heilige Vater legt natürlich Wert darauf, unter allen Umständen den Anschein eines Gemäßigten zu erwecken – und das soll auch so bleiben.

Dass er in Wahrheit äußerst radikal, ja atheistisch, zumindest antichristlich und vehement gegen die Kirche – als eine Institution der ungeliebten Weißen – eingestellt ist, soll und darf kein Fremder wissen.

Zu ihnen zählt in diesem Falle auch Schwester Monique, seine angebliche Vertraute seit gefühlten Ewigkeiten. Die kluge Frau mit dem feinen Gespür für Veränderungen jeglicher Art, macht sich allmählich, das spürt er genau, gewisse Sorgen um ihn, ihren langjährigen Gefährten. Obgleich er darauf wetten würde, dass sie nicht dezidiert zu sagen vermöchte, was sie im Einzelnen beunruhigt, fühlt er ihr wachsendes Unbehagen.

Dass ihr Liebster keineswegs der Frömmsten einer ist, weiß sie natürlich, aber dass er alles, was mit Kirche, Katholizismus und christlichem Glauben zu tun hat, zutiefst verabscheut und geradezu hasst – davon hat sie keine Ahnung.

Deutlich spürbar war Moniques Irritation unlängst, als er in einem Gespräch mit ihr zufällig auf die 245 Dogmen der katholischen Kirche zu sprechen kam und den päpstlichen Anspruch „diese Glaubenswahrheiten seien in alle Ewigkeit wahr und unveränderbar“ mit den Vokabeln „mit der Vernunft auf keinen Fall vereinbar“ und „völlig antiquiert“ abqualifizierte.

Ja, Leo XIV. hatte sich nicht einmal gescheut, grinsend ein ­Goebbels oftmals zugesprochenes Zitat unseligen Angedenkens zu zitieren: „Eine Lüge muss nur oft genug wiederholt werden, dann wird sie auch geglaubt.“

Sein Gefühl trügt den Heiligen Vater nur selten. Auch jetzt irrt er sich nicht. Moniques weiblicher Instinkt mit seinen feinen Antennen verrät ihr in der Tat, dass gewisse Veränderungen im Wesen ihres Liebsten vor sich gehen; und zwar Wandlungen von jener unguten Art, die für gewöhnlich großen Ärger und Unheil mit sich bringen.

Scherzhaft pflegt der Papst Monique „Mami Wata“ zu nennen, was auf Suaheli „Meerjungfrau“ heißt, aber eigentlich „Weisheit des Ozeans“ bedeutet. Sollte sie seine wahren Pläne tatsächlich durchschauen, würde ihm das keineswegs gefallen, obwohl er ihrer unbedingten Loyalität noch ziemlich sicher ist.

Leo Africanus ahnt nicht, dass Schwester Monique bei ihm eine beunruhigende Obsession zu argwöhnen anfängt, eine besorgniserregende Pathologie, die sich ihrer Meinung nach bereits in seiner Physiognomie zu offenbaren beginnt. Seit kurzem zeigt sein Gesicht gewisse Züge, die sein makellos schönes, ja klassisches Antlitz, vergleichbar mit den Gesichtern schwarzer Pharaonen, zunehmend abstoßend machen. Gelegentlich lässt sie der Ausdruck seiner dunklen Augen frösteln.

Im Stillen beschließt Leo Africanus, Monique künftig vorsichtshalber nicht mehr darüber zu informieren, was er denkt und was er im Einzelnen plant. Er möchte seine Geliebte nicht beunruhigen – das redet er sich zumindest ein. In Wahrheit scheut er die heftigen Auseinandersetzungen mit ihr; mit ihrem wachen analytischen Geist, gepaart mit einer gewissen Scharfzüngigkeit hat er im Laufe der vielen Jahre ihrer Beziehung schon etliche Male Bekanntschaft gemacht. Das will er sich künftig ersparen.

„Jedes Ereignis, alles auf der Welt hat seine Zeit: Geboren werden und Sterben, Weinen und Lachen, Klagen und Tanzen.“
(Prediger, 3, 1–4)

Maurice Obembes Familie ist die wichtigste unter mehreren Sippen, die jahrhundertelang im Wechsel mit anderen Familien, die mittlerweile bedeutungslos geworden sind, die Herrschaft im Osten und Südosten Afrikas ausgeübt hat. Eine kurze Unterbrechung hatte es allerdings vom späten neunzehnten bis zum frühen zwanzigsten Jahrhundert gegeben.

Geschuldet war dies der Gier des Deutschen Reiches nach exotischen Kolonien, gepaart mit rücksichtsloser Ausbeutung von Ressourcen aller Art, seien es die Bewohner selbst und ihre Arbeitskraft, seien es Agrarprodukte oder die Bodenschätze eines fremden Kontinents. Zum Glück war dieser demütigenden Episode keine allzu lange Dauer beschert gewesen.

Nach einigen Jahrzehnten und einem verlorenen Weltkrieg war der deutsche Spuk in Afrika Geschichte und die ehemals führende Eingeborenenfamilie schwang bald darauf erneut das Zepter – und tut dies noch heute. Allerdings mit einer gravierenden Änderung:

Der weit verästelte Familienclan der Obembes hatte sich nämlich nach dem zweiten Weltkrieg geteilt und zwar in einen muslimischen und in einen katholischen Zweig; und dies war geschehen im gleichen Verhältnis (nahezu halbe-halbe), wie es sich glaubensmäßig in der Bevölkerung manifestierte. Mehr oder weniger zufällig hatte sich die religiöse Spaltung gegen Ende des neunzehnten und zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, also noch während der kurz darauf endenden Kolonisation, weiter entwickelt. Im Laufe zweier Generationen hat sich die Trennung dann immer noch weiter verfestigt.

Dementsprechend haben Maurice Charles Patrice Obembes Vorfahren nach 1945 ihr riesiges Reich halbiert, in einen nördlichen Teil, Ghanambo, in dem der Islam die bestimmende Religion war und ist, sowie in einen südlichen, Ghanumbia, in dem eine Mehrheit sich (noch) taufen lässt.

Das hat unter anderem den unschätzbaren Vorteil, dass unterschiedliche Religionen nicht zum Zankapfel und zur Ursache bewaffneter Zwischenfälle innerhalb eines Staatsgebietes werden können. Die Ländergrenze verläuft seitdem im Großen und Ganzen gemäß jener Grenzen, welche die Religionsgemeinschaften von sich aus vorgeben. Nur ganz wenigen Eingeborenenfamilien musste erlaubt werden, in den jeweils anderen Teil des ehemals gemeinsamen Staatsgebietes überzuwechseln.

Papst Leos Vorfahren verfügten erstaunlicherweise über eine so große politische Macht und Durchsetzungsfähigkeit, dass die unübliche friedliche Teilung eines enorm großen Gebietes mit unterschiedlichsten Völkern nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Kolonisation großer Teile Afrikas letztendlich ohne Bruderkrieg und ohne die fatale Einmischung fremder Staaten vonstattenging – und dank der Umsicht der Regierenden bis jetzt ohne nennenswerte Komplikationen Bestand hat.

„Wundert euch nicht darüber! Die Stunde kommt, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören und herauskommen werden!“
(Johannes, 5, 28 und 29)

„Auf dem gesamten Kontinent Afrika gärt es seit langem, gibt es blutige Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Staaten, aber mehr noch Stammeskriege innerhalb der einzelnen Länder. Letztere immer noch als logische Folge der willkürlichen und unreflektierten Zusammenlegung seit ewigen Zeiten verfeindeter Volksgruppen durch die unsensiblen Kolonialmächte.

Das führte und führt immer noch zu enormen Spannungen, die sich bereits im zwanzigsten Jahrhundert zu extrem schwierigen Gemengelagen aufschaukelten, die auch heute nicht selten in blutigen Gemetzeln münden – trotz unzähliger diplomatischer Verhandlungen und des meist völlig nutzlosen Einsatzes von UN-Blauhelmsoldaten“, erklärt Seine Heiligkeit gerade dem harten Kern seiner Anhängerschaft. Ausgesprochen stolz fährt Papst Leo fort:

„Die ‚Bruderstaaten’ Ghanumbia und Ghanambo gelten nicht ohne Grund als nachahmenswerte Vorzeigeländer Afrikas. Sie werden allerdings nicht nur bestaunt und bewundert, sondern vielfach beneidet, aber auch, allerdings nur von einer Minderheit, mit gehöriger Skepsis betrachtet!“

Das war nicht immer so und der Papst liebt es, genau darüber seinen Getreuen, die er regelmäßig in seinen Gemächern im Vatikan um sich schart, sozusagen eine „Geschichtslektion“ zu erteilen.

„Vor genau zwanzig Jahren stand das südostafrikanische, muslimische Land Ghanambo kurz vor dem Staatsbankrott!“, hört ihn Moniques Nichte, Schwester Angélique, die eben eine Handvoll Gäste freundlich zu Tisch bat, vor seinen Freunden dozieren. Auch sie lauscht interessiert, denn im Gegensatz zu ihrer Verwandten Monique hat sie davon noch nie gehört.

„Katastrophale Unwetter, Überschwemmungen und Dürren, Bergrutsche, Krankheiten und Viehseuchen hatten Land und Leute schwer gebeutelt. Die Möglichkeiten der Regierung, den Schuldendienst zu stemmen, waren extrem eingeschränkt und das Finanzministerium Ghanambos teilte mit, dem Land bleibe kein Spielraum, anstehende Zinszahlungen auf in US-Dollars notierte Anleihen zu bedienen.

Ganz konkret handelte es sich um einen Betrag von knapp sechzig Millionen Dollar. Auch nach heutigen Begriffen kein hoher Betrag. Aber wenn kein Geld vorhanden ist, machen auch kleine Summen Probleme. Die Laufzeit der Anleihe reichte noch bis ins Jahr 2023.

Jetzt kam erneut der Internationale Währungsfond ins Spiel; er sollte künftig wieder Hilfsgelder fließen lassen.

Der IWF hatte nämlich im April 2016 seine Unterstützung beendet, nachdem die Regierung meines Onkels sowohl dem IWF als auch der Öffentlichkeit die Aufnahme von Staatsschulden in Milliardenhöhe verschwiegen hatte. Zugegebenermaßen ein dummer Fehler, den mein Onkel, Muhammad Obembe, bis heute noch bedauert! Zum Glück haben er und sein Land die Krise bravourös gemeistert!“

Zu den beiden afrikanischen Herrscherpersönlichkeiten ist Folgendes zu sagen: Papstvater Patrice Obembe sowie sein entfernter Cousin Muhammad – Männer Mitte der Siebziger und kerngesund – regieren autoritär, ja diktatorisch. Innenpolitische Widerstände wissen sie effektiv zu brechen; in keinem der beiden Staaten gibt es derzeit eine Persönlichkeit, die imstande wäre, ihren absoluten Machtanspruch ernsthaft infrage zu stellen. Die wenigen Oppositionellen haben einen denkbar schlechten Stand. Kurzum: Von einer Demokratie sind beide Länder weit entfernt.

„Aber es herrscht Frieden; zumal die zwei Alten es geschickt verstehen, in ihren Ländern der Bevölkerung einen relativ befriedigenden Lebensstandard zu gewährleisten – gemessen an den Zuständen, die im übrigen Schwarzafrika vorherrschen. Ja, diesen Standard wissen sie sukzessive noch zu verbessern. Die Zwangslage Ghanambos 2016 bildete die absolute Ausnahme“, behauptet Leo Africanus mit Überzeugung. „Derartiges hat sich nie mehr wiederholt.“

Damit sagt Leo Africanus sogar die Wahrheit.

„Von all den Potentaten in den Entwicklungsländern, „die Wasser predigen und selbst Wein trinken“, heben sie sich geradezu wohltuend ab“, lobt er seine Verwandten. „Obwohl sie nach Kräften den Einfluss und den Reichtum ihrer eigenen Clans mehren, gönnen sie auch den übrigen Bürgern ihrer Länder die Teilhabe an bescheidenem Wohlstand und gewissen Segnungen der Zivilisation.

Wie etwa Bildung ‚sogar’ für Mädchen! Bereits meine Schwester Monique hat davon profitiert und für unsere Cousine Angélique war es schon ganz selbstverständlich, zur Schule und zur Universität zu gehen. Außerdem wurde eine Art bedingungslose Rente für alleinstehende Alte ohne Familienunterstützung eingeführt. Das ist sehr klug und schafft Stabilität und Frieden im Inneren.“

Leos Geliebte Monique, die den Gästen die Getränke zum Essen einschenkt, flicht ein: „Dadurch entfällt für die Frauen auch der Zwang, einen Haufen Kinder in die Welt zu setzen, um im Alter jemanden zu haben, der dafür sorgt, dass sie nicht verhungern!

Solange das nicht in allen rückständigen Ländern so klug gehandhabt wird, wird sich an der Massenarmut der Bevölkerung und der dadurch bedingten hohen Kindersterblichkeit auch nichts ändern. Es war ein unseliger ewiger Kreislauf, den unser Herr Vater und unser Onkel durchbrochen haben, Heiligkeit!“

„So ist es, liebe Schwester. Es gibt in beiden Ländern kaum etwas, wogegen die Bevölkerung gewaltsam anrennen müsste! Zumal alle fünf Jahre ‚freie und demokratische’ Wahlen abgehalten werden.“

Auch damit hat der Heilige Vater Recht – wenn auch nur im Prinzip. Dass die Kandidaten, die gekürt werden können, allesamt von ihren Präsidenten im Vorfeld sorgfältig ausgesucht werden, tut der Zustimmung der Bevölkerung keinen Abbruch. Immerhin ist ihnen der Urnengang gestattet; ja, er ist sogar gewollt.

„Gerade eben hat in Ghanumbia wieder die Wahl des Staatsoberhaupts und seiner wichtigsten Minister stattgefunden und ich habe es nicht versäumt, meinem Vater zur Wiederwahl bei einer Wahlbeteiligung von weit über neunzig Prozent zu gratulieren; obwohl es keine Wahlpflicht gibt, nur den ‚Wunsch’ der politischen Führung, das Volk möge sich zur Stimmabgabe bequemen.“ Großer Stolz spricht aus den Worten des Papstes

„Sowohl mein Vater Patrice wie sein Verwandter Muhammad Obembe, sind außerdem so schlau, dafür zu sorgen, dass die ausgewählten Ministerkandidaten jeweils verschiedenen Stämmen angehören. Damit umgehen beide den Vorwurf, bei der Regierungsbildung nur das eigene Volk der Wahehe zu bevorzugen!“

Der Beichtvater Seiner Heiligkeit, Monsignore Pierre Katanga, meldet sich jetzt lächelnd zu Wort: „Euer Vater, Heiligkeit, leistet sich sogar den Luxus, immer zumindest ein Regierungsmitglied in petto zu haben, das nicht unbedingt sein Busenfreund und damit automatisch Sympathisant der Obembes ist …“

„Was oft recht spannende Rededuelle im Parlament erzeugt“, unterbricht ihn der Heilige Vater. „Duelle, die im Stande sind, ausländische Beobachter, die im Übrigen jederzeit als Augen- und Ohrenzeugen willkommen sind, zu verblüffen und hin und wieder sogar zu Begeisterungsstürmen in westlichen Medien führen.“

Erneut fällt ihm sein Beichtvater ins Wort: „Da fällt es dann auch nicht ins Gewicht, dass letztendlich der Präsident mit dem Leopardenfell um die Schultern das Sagen hat und bestimmt, wo es langgeht …“

Statt unwillig auf die mehrmalige Unterbrechung zu reagieren, breitet sich im Gesicht des Heiligen Vaters ein vergnügtes Grinsen aus und die Tischrunde reagiert mit anerkennendem Kopfnicken. Der Beichtvater darf sich solch kühne Sätze schon erlauben.

Leo Africanus geht jetzt sogar noch einen Schritt weiter. „Die Beziehungen zu den reichen Ländern Europas und Asiens sind ausgezeichnet, was sich in sehr guten Handelsbeziehungen auszahlt – mögen auch einige andere lästern, beide Herrscher würden sich vor allem ‚beim dekadenten Westen in schandbarer Weise anbiedern’, um sich ‚in unzulässiger Manier die eigenen Taschen vollzustopfen’. Manche nennen es Korruption. Eine Kritik, die im Übrigen beide Obembe-Clan- und Regierungschefs vollkommen kalt lässt.“

„Ach, Heiliger Vater, was heißt schon ‚Korruption’? Ein sehr garstiges Wort“, sagt einer der Geladenen, ein hoher Geistlicher aus Kenia, leichthin; er ist dabei, mit gezierten Bewegungen eine Gabel mit gebratenem, köstlichem Springbock-Zicklein zum Mund zu führen.

„Das arabische Wort dafür heißt ‚wasta’ und bedeutet so viel wie ‚wen man kennt’ und meint ‚Gefallen’. Im Grunde handelt es sich doch nur um kleine Geschenke unter guten Freunden. Also, wozu sich darüber aufregen?“

Tasuta katkend on lõppenud.

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