Loe raamatut: «Der Pontifex», lehekülg 2

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Den sperrigen Namen hatte man dem Jungen in der katholischen Missionsstation verpasst, wo er getauft worden war, genau wie Elisa, Maurice und seine jüngeren Geschwister.

Maurices zweijährige Schwester Margarethe hörte auf den Namen Greta und das Baby, Andreas getauft, würde später als Andi durchs Leben gehen, während er den Namen Mauritz erhalten hatte und von allen Maurice gerufen wurde, weil es sich leichter aussprechen ließ.

Henri war nicht ganz gesund. Schon vor der Flucht hatte er wochenlang gekränkelt; er litt an Halsweh und hatte geschwollene Rachenmandeln.

Maurice, 1888 als Erbe und Nachfolger des stolzen Häuptlings Mkwa Obembe im Dorf Tangwelule in Ghanumbia geboren, einem großen, von den Weißen zwar eroberten, aber noch immer ziemlich unerforschten Land im Osten des riesigen Kontinents Afrika, schämte sich plötzlich.

‚Mein Bruder Henri ist zwei Jahre jünger als ich. Er ist krank, hat ein bisschen Fieber, sagt Mama, und er ist sehr schwach. Er muss Bauchschmerzen haben vor lauter Hunger, denn er hat sich gestern geweigert, diese ekligen Raupen zu essen. Und trotzdem: Er beklagt sich nicht, jammert nicht einmal, sondern stapft einfach tapfer weiter. Ich, als sein großer Bruder, müsste ihm eigentlich ein Vorbild sein!’

„Soll ich dir Andi eine Weile abnehmen, Mama?“, fragte er schüchtern und schaute seiner Mutter, einer hochgewachsenen schönen Wahehe-Frau, in die großen, ausdrucksstarken, schwarzen Augen. Ihr erschöpfter und tieftrauriger Ausdruck rührte ihn um ein Haar zu Tränen, weshalb ihn nicht zum ersten Mal ein Gefühl unbändigen Hasses auf die weißen Eroberer aus Europa erfasste.

‚Sobald ich groß bin und ein starker Mann’, schwor er sich, ‚werde ich, als Nachfolger meines Vaters, Anführer von tapferen Wahehe-Kriegern sein und alle weißen Teufel aus unserem Land jagen! Viele von ihnen werde ich töten zur Strafe, weil sie meinen Vater ermordet, unser Dorf zerstört und meine Mama, mich und unsere ganze Sippe zu Sklaven gemacht haben!’

„Der Kleine ist zu schwer für dich, mein Sohn! Aber bis zu unserem nächsten Rastplatz könntest du das Bündel übernehmen, das unsere Kleidung und noch anderes Wichtige enthält, Maurice! Das wäre sehr lieb von dir!“

Damit reichte sie ihm, ohne im Gehen innezuhalten, ein buntes Tuch, das, zusammengeknotet, eine Stofftasche bildete, in der sich die wenigen Habseligkeiten der einst wohlhabenden Häuptlingsfamilie befanden.

Maurice hängte sich das Ding um den Hals und ging beinahe in die Knie infolge des Gewichts, welches man dem Bündel äußerlich gar nicht ansah. Er würde wohl noch langsamer gehen müssen.

‚Hoffentlich verliere ich nicht den Anschluss an die Gruppe’, machte der kleine Junge sich Sorgen, als ein Flüchtiger nach dem anderen ihn auf dem mit Gras überwucherten und für ihn beinahe unsichtbaren Dschungelpfad überholte.

Nur Elisa vermochte unbeirrt mit sicherem Instinkt den richtigen Weg durch diese grüne, bereits dämmrig-dunkle, feuchtheiße Hölle zu erkennen. Ohne Zweifel war sie die beste und erfahrenste Fährtenleserin. Hier in der Gegend sollte es immerhin wilde Tiere geben neben den allgegenwärtigen giftigen Schlangen und Skorpionen …

‚Gut, dass mein Vater uns nicht mehr sehen kann’, überlegte Maurice nach einer Weile, während er den Schleim in seiner Nase hochzog. In der vergangenen Nacht im Freien hatte er sich einen Schnupfen geholt. Nach Sonnenuntergang konnte es nämlich empfindlich kalt werden.

‚Unsere stolze Familie, seit fast einem Jahrhundert Herrscher über die Wahehes, auf der Flucht vor den weißen Eroberern: Was für eine Schmach!’

Bitterer Groll erfüllte den kleinen Jungen.

* * *

Den Aufenthalt in der Sixtinischen Kapelle scheint Kardinal Obembe außerordentlich zu genießen. Obwohl er die päpstliche Hauskapelle im Vatikan, erbaut von Papst Sixtus IV. von 1473 bis 1481, nicht zum ersten Mal besucht, ist er genau wie einst als junger Priester bezaubert von dem einmaligen Kunstgenuss.

Ihn stört nicht, dass bereits sechzehn Wahlgänge abgehalten worden sind und in Kürze der siebzehnte Urnengang ansteht. Er könnte an diesem Ort gerne noch eine lange Zeit verweilen, nur um in aller Ruhe die grandiosen Fresken zu Themen des Alten und des Neuen Testamentes zu bewundern von so bedeutenden Künstlern wie Perugino, Pinturicchio, Botticelli, Ghirlandaio, Rosselli und Signorelli an den Längswänden sowie die Fresken Michelangelos:

Schöpfungsgeschichte, Propheten, Sybillen et cetera an der gewölbten Decke und natürlich das Nonplusultra, das Jüngste Gericht an der Altarwand. Auch die imposante Architektur der weiträumigen Kapelle lässt er mit Genuss auf sich einwirken.

‚Meine Kapelle’, jubelt es in seinem Inneren und wieder wandert der entzückte Blick des Kardinals hinauf zu Michelangelos „Erschaffung des Adam“.

Dass sowohl der Schöpfer der Welt wie sein Geschöpf, das er angeblich nach seinem eigenen Bild geschaffen hatte, der weißen Rasse angehören, belustigt ihn nur. Ist man sich doch seit längerem sicher, dass die Menschwerdung in Wahrheit in Afrika stattgefunden hat … Dem begnadeten Künstler nimmt er es nicht übel: Der konnte das damals, als er sein Werk schuf, nicht wissen.

‚Im Übrigen sollen sich die Weißen bloß nicht so überheben’, denkt er bei sich. ‚Einer vor zwei Jahrzehnten durchgeführten Studie zufolge sind die Nordeuropäer länger dunkelhäutig gewesen, als sie bis dahin für möglich gehalten haben – und als ihnen lieb ist.’

Obembe hatte diese Studie sehr aufmerksam gelesen.

Den Sachverhalt legte eine DNA-Analyse nahe, durchgeführt von Londoner Wissenschaftlern an Resten eines 10 000 Jahre alten männlichen Skeletts aus Großbritannien. Die Knochen waren bereits im Jahr 1903 im Südwesten Englands gefunden worden. DNA-Analysten des britischen Naturhistorischen Museums und des University College of London befassten sich allerdings erst 2018 damit und „seien überrascht gewesen, dass ein Bewohner der britischen Insel damals zwar blaue Augen, aber dazu richtig dunkle Haut haben konnte.“

Zu Kardinal Obembes großer Freude fand man noch mehr he­raus: Der Stamm dieses Mannes war am Ende der letzten Eiszeit auf die Insel gezogen. Die Forscher konnten die DNA des Skeletts mit menschlichen Relikten aus Ungarn, Luxemburg und Überresten aus Spanien in Verbindung setzen.

Vor zwanzig Jahren eine Nachricht, die nicht nur Maurice Obembe, sondern auch viele andere gebildete Afrikaner mit Genugtuung erfüllt hatte. In europäischen Ländern machte man hingegen keinerlei Aufhebens davon; es war leider bloß ein Fall für Anthropologen und Naturhistoriker geblieben.

„Anscheinend passte die Entdeckung nicht ins ‚weiße’ Weltbild“, sagt sich der Kardinal mit einem zynischen Lächeln.

Wie ein x-beliebiger Rom-Tourist hatte er sich am Flughafen den neuesten Führer der Sixtina gekauft. Den blättert er durch, während der nächste Wahlgang vorbereitet wird. Er weiß jetzt zum Beispiel, dass sie exakt über die gleichen Maße verfügt wie der im Alten Testament erwähnte Tempel König Salomons mit einer Länge von 40,23 m, einer Breite von 13,41 m und einer beeindruckenden Höhe von immerhin 20,70 m.

Eigentlich eine Information, die die wenigsten, die das Büchlein durchblättern, interessieren wird. Aber für den Kardinal bedeutet sie schlichtweg alles: sieht er die Sixtina mittlerweile doch längst als „seine“ Kapelle an.

„Ihr werdet euch freuen, die ihr jetzt eine kleine Zeit, wenn es sein soll, traurig seid in mancherlei Anfechtungen, auf dass euer Glaube bewährt und viel kostbarer befunden werde als vergängliches Gold.“
(1. Petrusbrief, 1, 6–7)

Innerlich frohlockend, aber äußerlich gelassen, sieht Maurice Obembe zwei Kardinäle auf sich zu kommen. Mit offenem Blick und freundlichem Lächeln kommt er ihnen, die mindestens fünfzehn bis zwanzig Jahre älter sind als er, ein paar Schritte entgegen. Einen von beiden, einen umgänglichen Spanier, kennt er ziemlich gut; der andere, ein etwas gebückt gehender Franzose, gilt allgemein als streng und verschlossen, ein Hardliner, wie er im Buche steht.

Was die Herren von ihm wissen möchten, erfüllt den Geistlichen aus Ghanumbia mit stiller Genugtuung und lässt sein Herz insgeheim höherschlagen.

„Verehrter Bruder in Christo, nur mal so zu unserer Information“, beginnt der französische Kirchenmann betont lässig, während der spanische sein farbiges Gegenüber wohlwollend mustert: „Einmal angenommen, die verehrte Wählergemeinde wäre des Patts zwischen den beiden asiatischen Kandidaten müde und zeigte sich bereit, ihre Gunst möglicherweise einem schwarzen Mitbruder zu gewähren: Wären Sie in diesem Falle bereit, die Wahl zum Heiligen Vater anzunehmen?“

„Falls dem nicht so wäre, zögern Sie bitte nicht, uns das mitzuteilen, damit wir nicht noch mehr unnütze Zeit vergeuden!“, fügt der Spanier, ein hochgewachsener, sich betont aufrecht haltender Andalusier mit unleugbar maurischem Einschlag, mit einem gewinnenden Lächeln hinzu.

Der Angesprochene verfügt über genügend schauspielerisches Talent und hat keine Mühe, sein Triumphgefühl zu verbergen. Ehrfurchtsvoll neigt er seinen glattrasierten Schädel vor den älteren Kardinälen.

„Es wäre mir eine überaus große Ehre, von meinen hochverehrten Brüdern in Christo für würdig erachtet zu werden, Mutter Kirche als Oberhaupt der Gläubigen in Demut und größter Verantwortung zu dienen. Selbstverständlich würde ich mich in diesem Fall dem Votum des erlauchten Gremiums nicht verweigern!“

Mit Erfolg bemüht Obembe sich, den zwei hohen Geistlichen nicht mit triumphierender Miene hinterherzuschauen, als sie sich zu den anderen Konklave-Teilnehmern zurückbegeben. Für ihn besteht in diesem Moment nicht mehr der geringste Zweifel: Er hat es geschafft! Natürlich weiß er auch, dass unangenehme Überraschungen nie ausgeschlossen sind; dennoch fühlt er sich so gut wie am Ziel.

Im Laufe der Zeit haben sich die Wahlmodalitäten stark verändert. Anders als früher muss nicht mehr krampfhaft wochen- oder gar monatelang nach einem Kompromisskandidaten gesucht werden. Hat nach dreißig Wahlgängen immer noch kein Kandidat die notwendige Zweidrittelmehrheit erreicht, kann die absolute Mehrheit die Entscheidung bringen.

‚Und die wird dann auf alle Fälle mit meinem Namen verbunden sein!’ Freilich hofft er insgeheim, dass es etwas schneller gehen wird. Es würde sein Ansehen erhöhen …

Nach längerer Zeit schweifen seine Gedanken ab zu seiner Geliebten Monique, die sicher schon ungeduldig auf sein Startzeichen wartet, den Flug nach Rom antreten zu können. Natürlich freut er sich auf ihr Kommen – obwohl er sich zu seiner eigenen Verblüffung eingestehen muss, sie bisher nicht allzu sehr vermisst zu haben.

‚Sollte ich mich ihr womöglich ein wenig entfremdet haben?’, fragt sich der Kardinal insgeheim. Allerdings verwirft er den Gedanken sofort als völlig absurd. Er mag viele Fehler haben – Untreue gehört definitiv nicht dazu. Seit er mit der schönen Monique zusammen ist, hat er keine andere Frau mehr angesehen, geschweige denn angerührt.

„Die Zeit kommt aus der Zukunft, die nicht existiert, in die Gegenwart, die keine Dauer hat und geht in die Vergangenheit, die aufgehört hat, zu bestehen.“
(Kirchenvater Augustinus)

Im siebzehnten Wahlgang taucht tatsächlich erstmals ein „Kardinal Maurice Obembe“ mit einer stattlichen Anzahl von Unterstützerstimmen auf, während die Nominierungen der beiden asiatischen Kandidaten drastisch schrumpfen. Auch die weißen Anwärter, in der Hauptsache Italiener aus Mailand, Venedig, Padua und Palermo, haben Stimmanteile eingebüßt.

Der Kirchenmann aus Ostafrika mag ja bisher ein relativ unbeschriebenes Blatt sein – aber immerhin hat er dadurch auch noch keine Möglichkeit gehabt, sich im Kardinalskollegium unbeliebt zu machen oder sich im Vatikan persönliche Feinde zu schaffen.

Dass ihn einige auch weiterhin ablehnen werden, wird also hauptsächlich seiner dunklen Hautfarbe geschuldet sein – aber damit kann er mittlerweile gut leben. In seinem Inneren weiß er es: „Da ist sie, die von mir erhoffte und sehnlichst erwartete Wende!“

Ursprünglich rechneten die meisten Teilnehmer mit einem nur kurz andauernden Konklave; hatten doch im Voraus „gut unterrichtete Kreise“ in Rom verlauten lassen, dieses Mal werde man sehr schnell zu einer Einigung gelangen, weil man sich einig sei, einen Asiaten, den Kardinal von Manila, zum Pontifex zu küren. Was sich dann allerdings als Irrtum herausstellt. Von „Einigkeit“ unter den Wahlberechtigten kann keine Rede sein.

Plötzlich werden immer mehr von ihnen auf den bisher kaum in Erscheinung getretenen Schwarzafrikaner aufmerksam.

„Warum eigentlich nicht?“, mag sich manch einer der hohen geistlichen Herren fragen. „Ein farbiger Papst wird dieses Mal sowieso von aller Welt gewünscht. Und dieses Kriterium erfüllt der Mann aus Afrika ja nun weiß Gott!“

Einige, Neider und Missgünstige, werden später zwar, bar jeder Logik und entgegen der Wahrheit, behaupten, die „geheime“ Wahl dieses Kandidaten sei von Anfang an mehr oder weniger eine Farce gewesen, weil das gewünschte Ergebnis im Grunde von Anfang an festgestanden habe.

Richtig ist zwar, dass dieser Kardinal, der die Wahl, so sie denn auf ihn fiele, auch anzunehmen versprach, die „richtige“ Hautfarbe besaß, jedoch keinesfalls als glücklicher Zufall anzusehen war, sondern es ist quasi eine Art conditio sine qua non gewesen. Galt es doch längst als überfällig, endlich einem Farbigen das höchste Amt, das die Kirchenhierarchie zu vergeben hat, zuteilwerden zu lassen. Aber über Obembes Person waren im Vorfeld nun wirklich keinerlei Festlegungen getroffen worden.

Zweifellos war es wichtig, die Kirche aus ihrer bedrohlichen Schieflage zu befreien. Wobei man allerdings stillschweigend davon ausgegangen war, einen Ostasiaten zum Pontifex zu küren. Aber ein Schwarzer war letztendlich auch nicht schlecht.

* * *

„Und dass die Kirche gerettet werden muss, das sehen die Gläubigen anscheinend – der Himmel mag wissen warum! – durch einen Papst der Dritten Welt am ehesten gewährleistet“, soll sich später in kleinem Kreis einer der enttäuschten italienischen Papstanwärter spöttisch geäußert haben; wofür er mehr oder weniger verärgerte Zustimmung erntete.

Diejenigen, die sich über das Wahlergebnis mokierten, ließen dabei, ob bewusst oder unbewusst, ganz außer Acht, dass sie damit ja den Heiligen Geist desavouierten, der doch angeblich jede Papstwahl dominierte …

Das Häuflein weißer Kardinäle, allesamt Italiener, die sich selbst Chancen auf den Papstthron ausgerechnet haben, begründen ihren Standpunkt folgendermaßen: „Gerade weil Mutter Kirche sich in großer Not befindet, hätte man im jetzigen Augenblick Kontinuität bewahren müssen!“

Offenbar trauen sie einem Schwarzen die Herkulesaufgabe nicht zu, der Kirche ein Revival zu ermöglichen. Was allerdings nach der Wahl keiner mehr laut ausspricht – zumindest nicht, wenn einer mithören kann, der mit Sicherheit „den Neger“ gewählt hat.

„Mimikama!“soll der neue Heilige Vater leise auf Suaheli gemurmelt haben, was „Gefällt mir!“ bedeutet, nachdem die Stimmen nach dem neunzehnten und letzten Wahlgang ausgezählt waren und das positive Ergebnis – immerhin fünfundachtzig Prozent! – den wahlberechtigten Kardinälen bekannt gegeben wurde. Das will zumindest ein kenianischer, etwas geschwätziger Teilnehmer gehört und sofort ausgeplaudert haben.

Natürlich nahm der Gewählte ohne das geringste Zögern das schwere Amt an.

I. BUCH

INTROITUS

„Willkommen im Hause des Herrn!

Die Gemeinde versammelt sich, getreu dem Worte Jesu: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen.“

Die Schar der Frommen und hauptsächlich der Neugierigen, die sich auf dem Petersplatz versammelt hat, ist aufs höchste gespannt, kaum dass der ranghöchste Kardinal von der über dem Mittelportal des Petersdoms gelegenen Benediktionsloggia aus, die ersehnte Nachricht verkündet:

„Habemus Papam!“

Darauf bricht an diesem Frühlingstag des Jahres 2039 der übliche Jubel los, der sich allerdings im Augenblick des Erscheinens des neuen Heiligen Vaters abrupt abschwächt – um unmittelbar darauf, gewissermaßen nach einer Schrecksekunde – sogar völlig zu versiegen.

Ach, du gütiger Himmel! Ein Schwarzer! Oh, Gott!

Ein unüberhörbares Raunen geht durch die Menge. Mit einem Chinesen oder Ähnlichem haben die Leute ja insgeheim gerechnet. Und jetzt ist es also ein Schwarzafrikaner geworden …

Nach kurzem Zögern bricht erneut donnernder Jubel los, als die Menschen die imposante Gestalt genauer ins Auge gefasst haben. Das geradezu hysterische Geschrei, das die recht überschaubare Anzahl an Besuchern aus dem In- und Ausland veranstaltet, soll vermutlich darüber hinwegtäuschen, dass das Ereignis dieses Mal nicht übermäßig viele Zuschauer nach Rom gelockt hat.

Wenn früher anlässlich einer Papstwahl der Petersplatz schier aus allen Nähten platzte, weil er die Menschenmassen kaum noch zu fassen vermochte, ist am heutigen Tag die Zahl der Jubler bestenfalls ausreichend. Die meisten werden diesen Event vermutlich bequem am Bildschirm verfolgen – wenn überhaupt.

Der hochgewachsene, breitschultrige Kardinal, zweiundfünfzig Jahre alt, viel jünger aussehend, kerngesund und körperlich topfit, ist sichtlich zufrieden, als er sich den auf dem Platz Ausharrenden auf dem dafür vorgesehenen Ehrenbalkon des Petersdoms präsentiert. Im Fernsehen und auf sämtlichen Fotodokumenten heben sich die weißen Augäpfel sowie kräftige, gesunde, weiße Zähne von einem stolzen, geradezu aristokratisch anmutenden Gesicht, schwarz wie Ebenholz, deutlich ab.

Wer in seiner unmittelbaren Nähe stünde und explizit darauf achten könnte, dem würde möglicherweise auffallen, wie stereotyp dieses breite Lächeln ist und dass es seine schönen schwarzen Augen mit den langen Wimpern keineswegs erreicht … Wie ein siegreicher Feldherr erhebt er kurz darauf beide Arme gen Himmel und erteilt, wie es für Päpste Sitte ist, dem unten auf dem Platz frenetisch jubelnden Häuflein der Gläubigen den Segen „urbi et orbi“.

Nachdem viele niederknieten und alle sich bekreuzigten, lässt man den frisch Gekürten, der sich Leo nennt, erneut mit freudigem Beifall hochleben. Wer kann in diesem Augenblick ahnen, was in dem schwarzen Mann mit den edlen Gesichtszügen vorgeht?

Kardinal Obembe, der die Wahl wie versprochen ohne einen Augenblick des Bedenkens annahm, genießt seinen Sieg. Hat er doch sein ganzes bisheriges Leben auf dieses eine Ziel hin bewusst und hartnäckig ausgerichtet, auch großen, vor allem inneren Widerständen zum Trotz – und zwar von frühester Jugend an.

„Wer einen Fluss überquert, muss die eine Seite verlassen!“
(Mahatma Ghandi)

Dass diese Weisheit ihre Berechtigung hat, weiß der neue Heilige Vater nur zu gut. Auf vieles hat er verzichtet; so auch auf einen Beruf, der ihm tatsächlich zugesagt hätte …

Der neue Papst wählte für sich nach kurzem Überlegen – Liberius oder Gregor hätte ihm auch gut gefallen – den Namen Leo.

Seine Begründung lautet, seinen Vorgänger gleichen Namens, der immerhin von 1878 bis zum Jahre 1903 den Kirchenstaat viele Jahre kraftvoll regiert habe, überaus hoch zu schätzen und als Vorbild zu verehren.

Kardinal Maurice Obembe wird demnach der vierzehnte Papst mit dem Namen Leo sein. Die Geschichte Leos XIII. kennt er ganz genau.

Er weiß um den „Kulturkampf“, der in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts in Deutschland zwischen Reichskanzler Otto von Bismarck und Papst Pius IX., Vorgänger Leos XIII., mit erbitterter Härte geführt worden war. Im katholischen Rheinland etwa, das zu Preußen gehörte, wurden sogar fünf von elf Bischöfen ins Gefängnis gesteckt und über Monate gefangen gehalten. Ein Skandal ohnegleichen!

Der Reichskanzler war entschlossen, den Einfluss der katholischen Kirche zu vernichten, was 1874 unter anderem zur Einführung der Zivilehe führte, nachdem man in Preußen zwei Jahre zuvor Ordensangehörige vom Lehrberuf in öffentlichen Schulen ausgeschlossen hatte. Sogar der mächtige Jesuitenorden war aufgelöst worden.

Papst Pius erklärte seinerseits die preußischen Gesetze für ungültig und belegte alle, die sich an ihrer Durchführung beteiligten, mit der Exkommunikation.

Nach dem Tode Pius IX. verhandelte der Reichskanzler direkt mit dem neu inthronisierten Leo XIII., einem intelligenten und harten Verhandlungsgegner. Kompromissbereitschaft der Deutschen war mittlerweile angesagt, denn die Zeiten hatten sich geändert: Bismarck wollte mit dem katholischen Österreich ein Bündnis schließen und im eigenen Land war die „Arbeiterbewegung“ zu einer gefährlichen Bedrohung geworden, so dass man sich den Luxus eines Zerwürfnisses mit Rom nicht mehr leisten konnte.

Mit den Friedensgesetzen von 1886 und 1887 fand der „Kulturkampf“ formell sein Ende; die kirchenfeindlichen Gesetze wurden zum Teil zurückgenommen.

Auch in Frankreich waren seit 1871 antikirchliche Gesetze erlassen worden. Das Parlament vollzog im Jahr 1905 die Trennung von Kirche und Staat. Ähnlich prekär war das Verhältnis zu den Wissenschaften: lag doch Charles Darwins Abstammungslehre der Kirche bleischwer im Magen, weil Darwin dadurch die biblische, zugegebenermaßen kindlich-naive Version von der Erschaffung des Menschen infrage stellte.

Leo XIII. lehnte den „Darwinismus“, der die Evolution der Rassen, auch der menschlichen, propagierte, strikt ab, während er für die sozialen Fragen der neuen Zeit durchaus aufgeschlossen war. Er verfasste auch eine Bulle mit dem Titel „Rerum Novarum“, in der ein Ausgleich zwischen Armen und Reichen gefordert wurde und worin der Papst anmahnte, sich hauptsächlich der Bedürftigen anzunehmen. Damit hatte Leo XIII. immerhin die katholische Soziallehre begründet.

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