2145
Die Verfolgten
Roman
Katherina Ushachov
Erstausgabe im Dezember 2018
Alle Rechte bei Katherina Ushachov
Copyright © 2018
Katherina Ushachov
Heidegg 471
6855 Andelsbuch, Österreich
https://feuerblut.com
Teil-Korrektorat/Lektorat: Sean O'Connell, Susanne O'Connell
Korrektorat: Nora Bendzko
Coverdesign: May Dawney - https://covers.maydawney.com
Für alle Verfolgten
1. Riú Gordon – Washington D.C. – 2127
2. Avriel Adamski – Gordon City – 07.07.2145
3. Riú Gordon – Washington D.C. – 07.07.2145
4. Avriel Adamski – Gordon City – 07.07.2145
5. Allegra – Atlanta – 07.07.2145
6. Riú Gordon – Washington D.C. – 07.07.2145
7. Avriel Adamski – Gordon City – 07.07.2145
8. Riú Gordon – Washington D.C. – 07.07.2145
9. Avriel Adamski – Gordon City – 07.07.2145
10. Riú Gordon – Washington D.C. – 07.07.2145
11. Avriel Adamski – Gordon City – 07.07.2145
12. Allegra – Atlanta – 07.07.2145
13. Avriel Adamski – Gordon City – 07.07.2145
14. Ariane Faw – Atlanta – 07.07.2145
15. Allegra – unterwegs – 08.07.2145
16. Avriel Adamski – Gordon City – 08.07.2145
17. Allegra – unterwegs – 08.07.2145
18. Avriel Adamski – Atlanta – 08.07.2145
19. Ariane Faw – Atlanta – 08.07.2145
20. Avriel Adamski – Atlanta – 08.07.2145
21. Allegra – bei Camden – 08.07.2145
22. Hendryk Richardson – Atlanta – 08.07.2145
23. Ariane Faw – Atlanta – 08.07.2145
24. Avriel Adamski – unterwegs – 09.07.2145
25. Riú Gordon – Washington D.C. – 09.07.2145
26. Avriel Adamski – New Orleans – 11.07.2145
27. Allegra – New Orleans – 11.07.2145
28. Fabricia Lyubomir – New Orleans – 11.07.2145
29. Avriel Adamski – New Orleans – 12.07.2145
30. Fabricia Lyubomir – New Orleans – 10.07.2145
31. Avriel Adamski – New Orleans – 12.07.2145
32. Fabricia Lyubomir – New Orleans – 12.07.2145
33. Avriel Adamski – New Orleans – 12.07.2145
34. Fabricia Lyubomir – New Orleans – 12.07.2145
35. Glafira Smirnowa – Washington D.C – 12.07.2145
36. Fabricia Lyubomir – New Orleans – 12.07.2145
37. Allegra Adamski – New Orleans – 13.07.2145
38. Avriel Adamski – New Orleans – 14.07.2145
39. Fabricia Lyubomir – New Orleans – 15.07.2145
40. Rokshan Ash – New Orleans – 16.07.2145
41. Avriel Adamski – New Orleans – 15.07.2145
42. Fabricia Lyubomir – Unterwegs – 16.07.2145
43. Alesandra Diaz – New Orleans, Krankenstation – 16.07.2145
44. Avriel Adamski – Unterwegs – 17.07.2145
45. Fabricia Lyubomir – im Zug – 17.07.2145
46. Riú Gordon – Washington D.C. – 17.07.2145
47. Alesandra Diaz – New Orleans – 18.07.2145
48. Riú Gordon – Washington D.C. – 18.07.2145
49. Alesandra Diaz – New Orleans – 18.07.2145
50. Avriel Adamski – im Urwald – 18.07.2145
51. Riú Gordon – Washington D.C. – 19.07.2145
52. Fabricia Lyubomir – Crystal Hills – 19.07.2145
53. Avriel Adamski – im Wald – 19.07.2145
54. Fabricia Lyubomir – Crystal Hills – 19.07.2145
55. Alesandra Diaz – Washington D.C. – 20.07.2145
56. Avriel Adamski – Dschungel – 20.07.2145
57. Alesandra Diaz – Washington D.C. – 21.07.2145
58. Valentine Springfield – Washington D.C. – 21.07.2145
59. Riú Gordon – Washington D.C. – 21.07.2145
60. Alesandra Diaz – Washington D.C – 21.07.2145
61. Avriel Adamski – im Flusswald – 21.07.2145
62. Fabricia Lyubomir – Crystal Hills – 21.07.2145
63. Alesandra Diaz – Washington D.C. – 23.07.2145
64. Avriel Adamski – New Orleans – 24.07.2145
65. Fabricia Lyubomir – Crystal Hills – 24.07.2145
66. Riú Gordon – Washington D.C. – 26.07.2145
67. Avriel Adamski – 27.07.2145 – New Orleans
68. Alesandra Diaz – Washington D.C. – 28.07.2145
69. Fabricia Lyubomir – Crystal Hills – 29.07.2145
70. Riú Gordon – Washington D.C. – 29.07.2145
71. Avriel Adamski – New Orleans – 01.08.2145
72. Fabricia Lyubomir – Crystal Hills – 02.08.2145
73. Avriel Adamski – New Orleans – 03.08.2145
74. Alesandra Diaz – Washington D.C. – 06.08.2145
75. Riú Gordon – Washington D.C. – 09.08.2145
76. Avriel Adamski – New Orleans – 10.08.2145
77. Riú Gordon – Washington D.C. – 12.08.2145
78. Rokshan Ash – Washington D.C. – 26.08.2145
79. Fabricia Lyubomir – Crystal Hills – 29.08.2145
80. Riú Gordon – Washington D.C., Situation Room – 03.09.2145
Epilog
Danksagung
Über die Autorin
Zarin Saltan
Dystopisches aus der Feder der anderen Laura Kier: »Perfektion - Die Veränderten«
Stella Delaney: »Das Leuchten am Rande des Abgrunds«
Die Augen seiner Geliebten hatten dieselbe Farbe wie der heiße, eisblaue Kern der Kerzenflamme. Riú spürte ihren Blick im Nacken, doch er drehte sich nicht zu ihr um, während er sich prustend das Gesicht im Waschbecken seiner heruntergekommenen Studentenbude wusch.
»Fabi, wenn mein Vater es erfährt …« Seine blonden Haare waren dunkel vom Wasser und wirkten glatter als sie tatsächlich waren. Der halb blinde Spiegel über dem Waschbecken ließ ihn älter aussehen, mit tiefen Schatten unter den Augen. Das Ebenbild von Raoul Gordon.
Riú verdeckte das Spiegelbild mit der Hand, als wolle er Fabricia vor den Blicken dieses Unbekannten schützen. Nur noch die schimmelfleckige, sich von den Wänden schälende Tapete spiegelte sich im schmutzigen Viereck über seiner Handfläche.
»Darüber wollte ich mit dir reden.«
Riú klammerte sich an das Waschbecken. Er wusste, was sie ihm sagen wollte.
»Auch für mich ist das hier nicht einfach … Das war unsere letzte gemeinsame Nacht.«
Abrupt drehte er sich um.
»Du verlässt mich?« Seine Augen waren wie dunkle Kohlen, finster und glühend.
»Scharfsinnig erkannt.« Fabricia stand auf und begann, ihre schwarzen Haare zu einem straffen Zopf zu flechten. Obwohl sie leicht wie ein Kätzchen war, brachte sie mit ihrer Bewegung das Klappbett aus dem vorletzten Jahrhundert zum Quietschen. Jetzt störte ihn das viel mehr als noch vor wenigen Sekunden, als sie …
»Das wirst du nicht.« Sie standen sich gegenüber wie Adam und Eva, und erst dieser gedankliche Vergleich erinnerte Riú daran, dass sie eigentlich kein Mensch war.
»Glaube mir, es ist besser so.« Sie schlüpfte in ihr Kleid, stieg in ihre Schuhe und verschwand aus seinem Leben.
Avriel ritt auf einer Wolke über das Land. Es war Nacht, der Mond schien und die Sterne vollführten einen gravitätischen Tanz … Menschen wie er saßen auf ihren Wolken, sie hatten den Tag verschlafen und waren nun hellwach, ihre Augen leuchteten …
»Avi, du kannst doch nicht einfach so im Unterricht einschlafen!« Valentine stupste ihn wiederholt mit dem Finger an. »Wach doch auf, was hast du die Nacht über gemacht?« Ein leichter Vorwurf lag in ihrer Stimme.
Avriel öffnete ein Auge und schaffte es, seinen Kopf von den Armen zu heben, gerade rechtzeitig, um dem Blick von Miss March zu entgehen. Sein eigener Blick blieb am Smartboard hängen, das ausnahmsweise keine permanent wechselnden Botschaften, sondern ein- und dieselbe Animation abspielte: Riú Gordon, der Weltpräsident, zeigte mit dem Finger in die Klasse. Ein Mann von etwas mehr als dreißig Jahren, mit blauen Augen, leicht zerzausten, hellblonden Haaren und einem sympathischen Lächeln. »Hilf deinem Land, werde Mutantenjäger!«
Fast alle aus der Klasse wollten genau das tun. Riú Gordon würde seinen Nachwuchs bekommen.
»Kann ich von dir abschreiben?«, flüsterte Avriel Valentine zu.
Wortlos schob sie ihm ihr Pad zu und er kritzelte in seiner unordentlichen Schnörkelschrift Notizen über den Präsidenten in sein eigenes elektronisches Notizbuch.
»Wer kann mir sagen, wann unser großer Präsident Gordon zum Oberhaupt der United World gewählt wurde?« Miss March blendete ein Foto des jungen Präsidenten auf dem Smartboard ein.
Valentine hob ihren Smartpen.
»Miss Springfield?«
»Nach der Ermordung des vorigen Präsidenten Raoul Gordon während seiner Wahlkampagne für die glorreiche AMP am 30. Januar 2133 übernahm Riú Gordon das Amt des Parteioberhaupts. Er wurde am 20. März 2133 vereidigt.«
»Sehr gut, Miss Springfield.« Miss March notierte etwas auf ihrem Pad.
Avriel warf Valentine einen Seitenblick zu.
Sie saß kerzengerade da und glühte vor Stolz. Sonnenlicht verfing sich in ihren hellbraunen Haaren und er ertappte sich bei dem Gedanken, sie die ganze Stunde über anstarren zu können.
Der Unterrichtsstoff war unwichtig geworden.
Nach der Stunde gingen die zwei zusammen auf den Hof.
»Was ist nur los, Avi? Du schläfst fast jeden Tag im Unterricht. Was stellst du im Waisenhaus denn nachts an?«
Er gähnte ausgiebig. »Ich kann nachts nicht schlafen, ich werde eigentlich abends erst wach. Im Sommer hingegen könnte ich nur schlafen …« Es war Hochsommer, er würde sich noch lange damit quälen müssen.
Valentine runzelte die Stirn. »Da kann etwas nicht stimmen, Avi. Glaub mir.«
Sie war ihm noch nie so zart und zerbrechlich vorgekommen wie jetzt. Und dabei wusste er, dass sie versuchte, stark zu sein.
»Avi, wir haben das im Biologieunterricht bis zum Erbrechen wiederholt, du weißt, wovon ich rede.« Valentine schaute in eine andere Richtung. Zerstreut strich sie sich nicht vorhandene Haare aus dem Gesicht und seufzte.
»Du glaubst, ich bin ein …«
Doch sie ließ ihn nicht ausreden. »Still, willst du erschossen werden?«
Er atmete hörbar ein. Seine Hände zitterten.
»Du wirst bald siebzehn, in dem Alter werden die Merkmale erstmalig so stark, dass du … dass du … bald jemanden angreifen wirst.« Sie versteckte ihr Gesicht hinter ihrem langen Pferdeschwanz.
»Und wenn das alles nicht stimmt? Wenn ich nur die Sommergrippe habe?«
»Seit mehreren Monaten?«
»Irgendwelche Forscher haben nachgewiesen, dass Teenager einen anderen Tag-Nacht-Rhythmus …«
»Fühlst du dich nie krank, als wäre dein Körper ganz schwer?«
»Ich sagte doch, vermutlich eine Sommergrippe …«
»Avi.« Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Rede keinen Unsinn. Ich kann es dir beweisen.« Sie nahm ihren UniCom aus der Schultasche.
»Was hast du vor?«
»Ich mache ein Foto von dir. Komm her.« Sie legte den Arm um ihn, lehnte ihr Gesicht an seine Wange und schoss ein Foto. Dann betrachtete sie das Ergebnis.
»Siehst du?« Sie zeigte ihm das Foto.
Seine Augen leuchteten ihm neongelb entgegen.
»Was jetzt?«
»Du musst abhauen. Was sonst?«
»Niemals! Ich meine, das hier ist mein Zuhause, oder?« Er starrte sie gehetzt an. »Ich habe kein anderes …« Doch tief im Inneren wusste Avriel, dass sie recht hatte und er am besten sofort seine Sachen packen und verschwinden sollte.
»Valentine, ich wollte bei deinem Vater um deine Hand anhalten.« Er errötete heftig.
»Mein Vater würde mich keinem Waisenkind geben. Erst recht keinem … Du weißt schon.« Valentine ballte die Hände zu Fäusten, sodass sich die Fingernägel ins Fleisch gruben.
»Wenn wir das siebzehnte Lebensjahr erreichen, erhalten wir eine Geldsumme, die von unseren Schulnoten abhängt. Valentine, du kennst meine Zeugnisse und kannst dir ausrechnen, dass das nicht wenig sein wird!«
»Avi, wenn … wenn du darauf bestehst, dann komm doch heute Abend zu mir. Ich bin allein zu Hause, da können wir über alles reden, ohne …« Sie sah sich flüchtig auf dem Schulhof um. Ihre Stimme zitterte.
»Gut. Ich werde kommen.« Er drehte sich weg und ging schnell ans andere Ende des Schulhofes, konnte es nicht ertragen, weiter in ihrer Nähe zu sein.
Wenn er Gordon City verlassen musste, dann hatte er keine Wahl. Er musste sich von ihr verabschieden. Für immer.
Nach der Schule stand Avriel, sauber gekämmt und mit einem Strauß ihrer Lieblingsblumen – pinke Lilien – im Arm, vor Valentines Haus. Sein Herz schlug ihm schon den ganzen Tag bis zum Hals. Er drückte auf die Klingel und kurz darauf glitt die Schiebetür geräuschlos beiseite. Auf einmal war er hellwach und trotz der Dunkelheit im Haus sah er deutlich die Treppen, die zum Zimmer seiner besten Freundin führten. Er rannte hoch und fand sich mit klopfendem Herzen vor ihrer Zimmertür wieder. Sollte er hineingehen? Kurz lauschte er, doch kein Laut war hinter der Tür zu hören. Er drückte vorsichtig die Klinke nach unten.
In ihrem weiß getünchten Zimmer saß Valentine auf einem Stuhl an einem weiß lackierten Tisch. Ihre Schuluniform war mittlerweile zerknittert, und im Spiegel erkannte er, dass sie den Kopf auf die Hände gelegt hatte und schlief.
Avriel trat zu ihr und sah zu, wie sich ein paar Haare im Rhythmus ihres regelmäßigen Atems sachte vor ihrem Gesicht bewegten. Sie wirkte in diesem Moment noch zerbrechlicher als auf dem Schulhof – ahnungslos und leicht verwundbar, ohne Schutz. Die geschlossenen Lider waren gerötet, aufgequollen und zitterten, als würden Albträume sie plagen.
Doch was ihn besonders anzog, waren ihre vom Weinen geschwollenen, leicht geöffneten Lippen. Und ohne zu wissen, was er da tat, küsste er ihren fiebrig heißen Mund.
Valentine erwachte und schlug ihm ins Gesicht. »Wie kannst du nur?« Sie stieß ihn von sich.
Sein Kopf prallte schmerzhaft gegen ein niedriges Regal. Ein metallischer Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus und machte ihn rasend. Gleichzeitig hatte Valentine nie reizender ausgesehen als mit diesem lebendigen, wütenden Gesichtsausdruck.
»Es tut mir leid.« Das war gelogen – der Kuss hatte ihm durchaus gefallen, ihre Lippen waren so schön weich …
»Du Heuchler! Ich kann nicht glauben, dass du einfach über mich herfällst!« Valentine schlug ihn erneut.
Plötzlich sah er rot – oder eher hell, die Farbe ihrer Haut …
»Avi!« Der Ruf ging in einen lang gezogenen Schrei über, der Avriel nicht mehr erreichte.
Wie ein Raubtier packte er sie und versenkte seine Zähne in ihrem Arm, füllte seinen Mund mit ihrem Geschmack, löschte das Feuer in seinem Herzen mit der Kühle ihrer seidenweichen Haut.
Ihren Schmerzensschrei hörte er nur dumpf, wie durch einen Schleier. Ihre lächerlich kleine, schwache Faust schlug erfolglos gegen sein Gesicht, seine Brust, seinen Hals.
Er packte ihr Handgelenk und drückte zu, zerrte daran, bis dieses lästige, zuckende Ding ihn nicht mehr irritierte.
Versank immer mehr in einem rot geräderten Wahn. Biss erneut zu.
Bis sie sich nicht mehr wehrte und zu Boden sank.
Doch mit der Ruhe kam auch der Horror. Er blickte auf Valentine hinab und spürte, wie seine Hände zitterten. Als würden sie nicht ihm gehören. Aus den Wunden sickerte Blut, aber es lockte ihn nicht, im Gegenteil. Der Anblick verursachte ihm ein Gefühl des Ekels.
Mit dem Pflichtbewusstsein eines Schuljungen drückte er auf den in jedem Zimmer installierten Knopf, der eine Ambulanz herbeirufen würde – er war sich sicher, dass sie Valentine nicht helfen konnte.
Riú saß vor seinem in den Schreibtisch eingebetteten Arbeitscomputer im Oval Office und war ganz aufgekratzt. Eigentlich lebte er in ständiger Furcht, hatte keine Zeit für Ruhepausen.
Er wusste genau, dass er sich objektiv betrachtet am sichersten Ort der Erde befand. Die neuesten Sicherheitsvorkehrungen hatte er schließlich selbst einbauen lassen und damit das Oval Office zu einer uneinnehmbaren Festung gemacht. Selbst wenn jemand es gegen seinen Willen hineinschaffte, hatte er immer noch genug Männer vom Secret Service vor der Tür, um eine kleine Armee aufzuhalten.
Und dann dachte er daran, dass sein Vater eigentlich an seiner Stelle sitzen sollte, und fühlte sich mickrig. Wer war er im Vergleich zu Raoul Gordon? Ein kleiner Junge, auf dessen Rücken die ganze Welt lag. Und irgendwann würde er unter ihrem Gewicht zusammenbrechen.
Dabei war nicht gerade hilfreich, dass sich nach dem Tod seines Vaters sämtliche KI-Assistenten einfach abgeschaltet hatten und Riú somit eine Welt zusammenhalten musste, die technisch um fünfzig, wenn nicht gar hundert Jahre in die Vergangenheit katapultiert worden war.
Nun war jedoch die aufreibende Bildschirmarbeit beendet, er hatte nichts zu tun und genau das machte ihn nervös, sodass er sich permanent davon abhalten musste, auf dem Touchscreen herumzutrommeln und damit unfreiwillig Befehle auszulösen.
Er könnte das Gerät ausschalten, das Oval Office verlassen und sich ausruhen. Einige Stunden gar nichts tun und hoffen, dass er nicht auf Schlaftabletten zurückgreifen musste, um die dringend notwendige Ruhe zu bekommen.
Und wenn genau in diesem Moment ein Attentäter dabei wäre, seinen perfiden Plan in die Tat umzusetzen?
Nein. Er musste bleiben. Schlafen konnte er auch später noch.
Schon seit Monaten hielten sich diese verdammten Mutanten bedeckt, kein einziger Angriff, nicht einmal irgendwelche Jugendliche, bei denen die elterlichen Gene durchbrachen. Nichts. Konnte das bedeuten, dass sie etwas besonders Großes planten – war das die Ruhe vor dem Sturm? Vor seinem Sturz?
Nichts fürchtete Riú mehr als ihre Rache, und der Gedanke daran bereitete ihm regelmäßig Albträume.
Plötzlich erschien ein blinkendes Kamerasymbol auf dem Touchscreen und wartete nur darauf, angetippt zu werden.
Er pochte fest mit dem Finger darauf, woraufhin das übernächtigte, müde Gesicht eines Mittzwanzigers auftauchte.
»Mr President, Sir. Ein Vorfall in Gordon City erfordert Ihre persönliche Aufmerksamkeit, wir vermuten einen Mutan…«
Riú ließ den jungen Mann gar nicht erst ausreden – Adrenalin strömte durch seine Adern und hastig wischte er den Videoanruf vom Bildschirm. Na endlich, wurde auch Zeit! Er schlug mit der Faust auf den Tisch, ehe er so schnell aufsprang, dass sein Bürostuhl krachend zu Boden fiel. Riú achtete nicht darauf und eilte in die kleine Kommandozentrale im Nebenraum.
Es gab nur drei Dinge, die alle Kameras in jedem Raum der Welt aktivierten: Einbrecher, ungewöhnlich viele Leute in einem Raum oder jemand hatte auf den Ambulanzknopf gedrückt. Und sein Assistent hatte bereits das Zauberwort gesagt.
Mutanten.
Als er in der Kommandozentrale eintraf, lief die Übertragung der Überwachungskameras bereits auf der Smartwall.
»Gut, dass Sie da sind.« Der junge Assistent sprang von seinem Platz und bot ihm seinen Stuhl an. »Die automatischen Luftanalysen haben im Zimmer des Mädchens die typische Hormonzusammensetzung eines Mutantenangriffs festgestellt, und schauen Sie …«
Der Stream einer der Kameras war mit einem roten Kreuz markiert, von diesem Raum aus hatte also jemand eine Ambulanz gerufen.
Riú tippte das Symbol an und erhielt die Positionsauswertung – Gordon City, das Haus der Familie Springfield, dort das Zimmer der Tochter des Hauses, Valentine. Er drückte auf einen anderen Knopf, der es ihm ermöglichte, drei zusätzliche Überwachungskameras zu aktivieren und ihre Aufnahmen parallel nebeneinander anzeigen zu lassen.
Alle vier Kameras zeigten ihm einen jungen Mann mit langen blonden, blutverschmierten Haaren. Er stand vor der Leiche der Tochter des Hauses und hatte den Finger auf dem Knopf.
Riú griff zum UniCom und wählte eine nur ihm bekannte Nummer. »Mormannin, eine Mutanten-Razzia nach Gordon City, President Street 11, das Haus der Springfields.«
Genießerisch lehnte er sich zurück, um das Schauspiel zu beobachten und spürte, wie sich ein Lächeln in sein Gesicht stahl. Das waren die Momente, für die Riú lebte.
Bart Mormannin hatte seine Leute überall. Die Mutantenjagd musste lustig werden. Vielleicht sollte er sich Popcorn bringen lassen?