Loe raamatut: «Klaus Mann - Das literarische Werk», lehekülg 10

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Benjamin mußte bejahen. Der Holländer schnalzte mit der Zunge, schüttelte den Kopf, zuckte die Achseln; es war eine ganze Pantomime der Ratlosigkeit und des Bedauerns, die er aufführte. Endlich schrie er, sehr laut, aber mehr verzweifelt als zornig: »Auch ein Deutscher!! Nun möchte ich aber doch wissen: Warum sind alle diese Leute hier?! – Warum?!« rief er immer wieder, empört und jammernd, als wäre ein Heuschreckenschwarm in sein Land eingebrochen und träfe Anstalten, es zu verwüsten. Das Barmädchen lachte herzlich. Sie fühlte sich gar nicht betroffen. Ein so erfreulich vollbusiges, schmuck hergerichtetes und verführerisches Lebewesen wie sie war nicht zunächst Deutsche, sondern Frau. Die platinblonde Berlinerin konnte den erregten Gast nur beruhigen, indem sie ihm einen besonders großen doppelten Bols offerierte.

Eines Tages meldete Stinchen: »Herr Professor, es ist ein Mann unten, der etwas verkaufen will.« Abel, der am Fenster mit Papieren saß, schaute kaum auf. »Er soll gehen, ich brauche nichts.« – Stinchen ließ sich nicht wegschicken. »Es ist aber ein sehr netter Herr«, sagte sie. »Ein Deutscher. Er ist auch so ein Emigrant, hat er mir erzählt.« Abel fand es brav von Stinchen, daß sie sich für Emigranten einsetzte. Er lächelte: »Lassen Sie ihn mal reinkommen.«

Ein paar Minuten später räusperte sich jemand bescheiden an der Türe. Abel drehte sich um. Er erschrak und stand auf. Es war ein alter Schüler von ihm, und er war einer der begabtesten im Seminar gewesen.

»Mensch, Hollmann!«

»Der Herr Professor Abel! Das habe ich nicht gewußt! – Man hat mir nur erzählt, hier wohnt ein Deutscher, der sich mit Büchern beschäftigt … Ein sehr freundlicher Herr, hat mir das kleine Mädchen unten gesagt. Da dachte ich mir: ich versuch es mal …«

Hollmann setzte sich und nahm eine Zigarette. Jetzt erst fiel Abel auf, daß er sich verändert hatte. Er war magerer geworden und sein Haar sehr dünn. Diese nervöse Angewohnheit, sich mit dem Taschentuch die Stirne zu tupfen, war früher auch nicht an ihm aufgefallen.

»Ja, was ist denn mit Ihnen los? Warum sind Sie denn nicht in Deutschland geblieben?«

Hollmann lachte traurig. »Ein Webfehler, wie man jetzt sagt. Mit meiner Mutter war nicht alles in Ordnung. Eine geborene Meyer, der Name klingt harmlos, aber ich konnte den ›Ariernachweis‹ nicht erbringen … Na, das wäre an sich noch nicht das Ende gewesen – vorläufig noch nicht. Aber mir hat es überhaupt zu Hause nicht mehr gefallen … Erst habe ich in Paris als Filmstatist gearbeitet. Leider war das auch nicht angenehm; die Gesellschaft war nämlich halb deutsch. Der Star aus Berlin war ein süßer blonder Bursch, der mit der Direktion schöntut und die Statisten anbrüllt wie ein Unteroffizier die Soldaten. Ich habe ihm einmal eine Antwort gegeben, und dann war Schluß … Na, und jetzt bin ich hier Vertreter von einem großen Lebensmittelhaus. Den ganzen Tag fahr ich rum in einem Lieferwagen und biete den Leuten Konserven und Tee und Marmelade und Zucker an, oder Wurst … Haben Sie keine Bedürfnisse?« Abel lachte: »Der Tee hier in der Pension ist miserabel. Ich werde Ihnen was abkaufen …«

Der junge Mann, der vor zwei Jahren eine vorzügliche Doktorarbeit über Goethe und Frankreich geschrieben hatte, blieb noch eine halbe Stunde bei seinem alten Lehrer. Sie hatten viel zu besprechen, sie lachten auch viel, dieser Hollmann war ein lustiger Kerl; doch als sie sich zum Abschied die Hand gaben, waren sie beide ernst. »Es war reizend bei Ihnen, Herr Professor«, sagte der junge Mann. »Danke schön für die halbe Stunde. Jetzt muß ich aber schnell weiter …« Er tupfte sich die Stirn mit dem nicht ganz sauberen Taschentuch und blätterte nervös in seinem Adressenbüchlein. »Noch zehn Häuser heute. Dann ist Feierabend.«

Abel sah ihn von Zeit zu Zeit. Es machte ihm Freude, mit ihm von den alten Zeiten zu reden, und manchmal auch von der Zukunft. Wie lange war es her, daß er kameradschaftliche Gespräche nicht mehr gekannt hatte? Nun begriff er: es war vielleicht doch nicht gut, immer allein zu sein. Das Schwerste wurde leichter zu tragen, wenn man darüber reden durfte. Der Professor empfand für den früheren Schüler echte Sympathie und manchmal etwas wie Dankbarkeit. Er machte sich auch väterliche Sorgen. Einmal fragte er ihn: »Ist es wirklich notwendig, daß Sie Tag für Tag mit Ihrem Lieferwagen herumziehen? Haben Sie denn wirklich gar keine andere Chance?« – »Kommt schon mal wieder anders«, sagte der junge Hollmann. »Man muß froh sein, solange man überhaupt etwas hat.« – Dann summte er ein Liedchen, das ein Freund von ihm für ein Prager Emigrantenkabarett gedichtet hatte:

»Ob wir Zeitungen verkaufen;

Ob wir kleine Hunde führen

Oder neben tauben Tanten laufen

Oder als Statist Isolden küren …

Alles das, alles das macht uns nicht krumm,

Denn wir wissen ja, wir wissen ja, warum.

Sollte man von uns begehren,

Frösche kitzeln, Steine zählen,

Wolken schieben oder auch die Moldau kehren

Oder unseren Wanzen Märchen zu erzählen …

Alles das, alles das macht uns nicht krumm,

Denn wir wissen ja, wir wissen ja, warum.«

Abel nickte; aber sein Lächeln war etwas trübe.

Einmal besuchte er den jungen Freund. Er wohnte in einem Heim, das eine Arbeiterorganisation den deutschen Refugiés zur Verfügung gestellt hatte. Das Gebäude wirkte, mit seinen langen zementierten Gängen und dem etwas trüben Metall seines Treppengeländers, halb wie eine Kaserne, halb wie ein billiges Hospital. Die vereinzelten Gestalten, denen man begegnete, sahen meist recht heruntergekommen, aber teilweise unternehmungslustig aus. ›Sie haben vergnügtere Gesichter, als ich sie im »Huize Mozart« sehe‹, fand der Professor, der ziemlich mißtrauisch betrachtet wurde.

Hollmann teilte seine Kammer mit einem anderen jungen Menschen, der jetzt nicht zu Hause war. »Er verkauft Zeitungen, da unten an der Brücke, gegenüber vom ›Hôtel Américain‹, Sie wissen doch …« Abel erinnerte sich daran, dem Burschen gelegentlich eine der Pariser Emigrantenzeitungen abgenommen zu haben. »Ja, ja, ich kenne ihn«, sagte er. – »Er kann sehr nett Gitarre spielen«, erklärte Hollmann. »Wenn er nachher kommt, werden wir was zu hören kriegen …«

Auf dem Tisch standen eine Flasche Portwein und Schüsseln mit Obst und Gebäck. Abel tadelte gerührt die Verschwendung. »Aber was fällt Ihnen denn ein, Fritz, sich so in Unkosten zu stürzen!« – Hollmann wurde ein bißchen rot. »Es kommt ja nicht so oft vor, daß ich einen Gast habe.« Er lachte verlegen. »Und außerdem kaufe ich das Zeug zu herabgesetzten Preisen. Vergessen Sie nicht: ich bin von der Branche …«

Es wurde ein netter Abend; Abel fühlte sich so wohl wie schon lange nicht. Auch von den »alten Zeiten« redeten sie wieder; aber Hollmann sorgte dafür, daß die Erinnerungen nicht melancholisch wurden. Er machte die Professoren der Bonner Universität nach; besonders gut konnte er den Geheimrat Besenkolb kopieren. »Die Nation, meine Herren!« rief er mit quäkender Stimme und machte lange Schritte über ein imaginäres Podium. »Die Nation ist der höchste, heiligste Begriff, den die Menschheit kennt! Alle großen geistigen Leistungen kommen aus dem Geist des Nationalen!« – »Genug! Genug!« flehte Abel, der sich zugleich amüsierte und ekelte. Aber der junge Hollmann dozierte unbarmherzig weiter, mit der Stimme und den Gebärden Besenkolbs.

Später wurden sie ernst. »Ich überlege mir oft«, sagte Hollmann, »was aus den Jungens wird, die sich so verlogenen Quatsch jeden Tag anhören müssen und überhaupt nichts anderes mehr kennen dürfen. Unaufhörlich wird ihnen Gift eingeträufelt … Ich denke mir manchmal: gerade in so furchtbaren Mengen verabreicht, verliert es vielleicht seine Wirksamkeit. Es muß den Jungens doch schon zum Kotzen sein – und was man ausbricht, das kann einem nicht mehr den Magen verderben!«

»Möchten Sie recht haben!« sagte Professor Abel.

Dann kam der Bursche, dem Benjamin gelegentlich ein paar Zeitungen abgekauft hatte. Er sah müde und mißmutig aus. »Gar kein Geschäft heute gewesen!« beklagte er sich. »Bis man die paar Fetzen los wird, muß man sich die Füße in den Leib stehen! Eine Scheiße!« Als er aber zwei Gläser Portwein getrunken hatte, wurde er lustiger. Er holte die Gitarre aus dem Schrank. Erst sang er ein paar neue Schlager; dann kamen deutsche Volkslieder. »Die sind doch immer das Schönste«, sagte er. Und Fritz Hollmann fügte trotzig hinzu: »Und wir lassen uns von niemandem die Freude daran verderben.«

Es war schon nach Mitternacht, als Benjamin sich zum Gehen anschickte. »Mein Gott, ist es spät geworden!« rief er aus. »Die Zeit ist so schnell vergangen – ich habe es gar nicht bemerkt.« Er schüttelte den beiden jungen Leuten die Hand. Dabei schien er noch etwas sagen zu wollen; es fielen ihm aber wohl die rechten Worte nicht ein, und was er herausbrachte, war nur: »Vielen Dank. Das war ein sehr guter Abend …«

Warum blieb er eigentlich im »Huize Mozart«? Er hatte sich die Frage schon oft gestellt, und nun, auf dem Heimweg, beschäftigte sie ihn wieder. Warum blieb er! Was hielt ihn fest? War es Stinchen? Aber die sah er immer seltener. Immerhin beobachtete er sie genau genug, um zu bemerken, daß sie sich verändert hatte. Ihr Blick, ihr Lächeln bekamen einen neuen Ausdruck; Haltung und Gang waren zugleich selbstbewußter und weiblich-zarter geworden. Manchmal hatte sie nun eine verfängliche, spöttische und dabei verlockende Art, Benjamin anzuschauen, daß er beinah erschrak. ›Was ist mit dem Mädchen?‹ dachte er. ›Sie verwandelt sich. Unser kleines Stinchen mit dem Bubengesicht wird eine Frau …‹

Wer weiß, wie lange Abel sich nicht weggerührt hätte vom »Huize Mozart«, wenn nicht ein kleiner, aber fataler und aufrüttelnder Zwischenfall ihm den Entschluß aufgezwungen hätte, sein Leben zu ändern, sich in Bewegung zu setzen, zu handeln.

Um die Besitzer des Hauses, in dem er nun schon länger als ein halbes Jahr wohnte, hatte Benjamin sich nie viel gekümmert. Er wußte nur, daß der Hausherr, ein Holländer, in irgendwelchen Geschäften unterwegs war und sich in Amsterdam nur selten sehen ließ. Seine Frau war eine ziemlich hübsche Person, mit rundlichen Formen und einer blonden Dauerwellenfrisur über einem gesunden, rosigen, etwas leeren Gesicht. Benjamin begegnete ihr nicht sehr häufig; zu einer längeren Unterhaltung war es niemals gekommen. Zuweilen hatte er sich Gedanken darüber gemacht, daß die Dame des »Huize Mozart« sich etwas gar zu reserviert ihm gegenüber verhalte. Sie war Deutsche, in Hamburg geboren, wie sie ihm gleich zu Anfang erzählt hatte. Neuerdings wollte ihm manchmal scheinen, daß sie ihn feindlich und mißbilligend betrachtete, wenn sie auf der Treppe oder im Flur an ihm vorüberging. Ihre rund geschnittenen, wasserblauen Augen waren vielleicht ein klein wenig tückisch – wie ihm bei solchen Gelegenheiten vorkommen wollte. Aber dann beruhigte er sich bald wieder: ›Ich bin gar zu mißtrauisch, das grenzt ja schon an Verfolgungswahn. Was soll die brave Frau gegen mich haben? Ich bezahle pünktlich die Miete, bin leise und höflich, einen besseren Klienten kann sie sich gar nicht wünschen.‹

Eines Vormittags stellte Benjamin fest, daß die Stube, die neben seinem Zimmer lag und bis dahin leer gestanden hatte, plötzlich bewohnt war. Durch Stinchen erfuhr er, der Bruder der gnädigen Frau sei eingetroffen: Herr Felix Wollfritz aus Hamburg, er werde mehrere Wochen lang bleiben.

Benjamin begegnete dem Herrn Wollfritz noch am gleichen Tag auf dem Korridor, und seine schreckhafte Reaktion war sofort: Ein Feind!! Aufgepaßt – mit diesem Mann wird es Händel geben! ›Ich bin die Friedfertigkeit selbst‹, dachte Benjamin, indem er gleichsam bei einer höheren Instanz für alles, was zwischen ihm und Herrn Wollfritz geschehen mochte, jetzt schon um Entschuldigung bat. ›Aber dieser Kerl als Zimmernachbar – das ist entschieden zuviel! Mit Herrn Wollfritz wird man wohl beim besten Willen nicht auskommen können.‹

Der Bruder der gnädigen Frau, der zwecks Geschäften oder Familienbesuchs für mehrere Wochen in Amsterdam weilte, war groß und stämmig. Auf einer auffallend steilen und harten, ungesund geröteten Stirn und auf den Wangen waren die scharfen Konturen von Schmißnarben sichtbar: Benjamin bemerkte es gleich, obwohl im Korridor Dämmerung herrschte. Herr Wollfritz hatte einen flachen Hinterkopf, einen steilen und breiten Nacken, dessen blutigrotes Fleisch wulstig über den Rand des Kragens quoll. Sein Schädel war glattrasiert, nur auf der Höhe des Kopfes war ein winzig kleines, sorgfältig pomadisiertes und gescheiteltes Arrangement semmelblonder Haare stehen geblieben – eine recht erstaunliche Frisur, wie sie, außer bei innerafrikanischen Negerstämmen, wohl nur noch bei deutschen Männern eines gewissen Typs üblich ist.

Benjamin grüßte mit jener ironisch-zeremoniellen Neigung des Oberkörpers, die er früher bei Begegnungen mit dem Geheimrat Besenkolb gehabt hatte. Herr Wollfritz musterte den Mieter seiner Schwester stählernen Blicks vom Kopf bis zu den Füßen, zog dann mit einem unverschämten Ausdruck die dünnen, blonden Augenbrauen hoch, spitzte die Lippen wie zum Pfeifen und dankte mit einem Kopfnicken, dessen Knappheit aggressiv wie eine Ohrfeige war.

Als die beiden Herren am nächsten Vormittag sich wieder im Flur trafen, wurde kein Gruß mehr getauscht.

Benjamin Abel und Herr Felix Wollfritz konnten einander nicht ausstehen und machten kein Hehl aus ihrer instinktiven, heftigen Aversion. Es gibt den coup de foudre eines Hasses auf den ersten Blick wie den der Liebe.

Leider war die Wand, die Abels Zimmer von dem des Herrn Wollfritz trennte, nur eine sehr dünne. Benjamin mußte hören, wenn sein Nachbar sich räusperte; wenn er morgens gurgelte, sich die Zähne putzte; ja, sogar wenn er laut gähnte. Als Wollfritz sich einmal eine Dame zur Lustbarkeit mitgenommen hatte, sah Benjamin sich genötigt, sein Zimmer und das Haus zu verlassen; es ging über seine Kräfte, das Liebesleben des forschen Hamburgers in den akustischen Details zu verfolgen.

Von dem Tage an, da Herr Wollfritz sich in so intimer Nachbarschaft einquartiert hatte, stand es bei Benjamin fest: Ich ziehe aus. Es mußte aber noch zu einem besonderen Eklat, einer Provokation ohnegleichen kommen, damit der sanfte, schwerfällige Abel seinen Auszug derart beschleunigte und die zornige Demonstration aus ihm machte, wie er es dann wirklich tat.

Die Provokation, durch die der höchst Geduldige aus der Contenance gebracht wurde und die ihn so fürchterlich ärgerte und erregte, daß er mit beiden Füßen aufstampfte, die Fäuste ballte und schrie – sie bestand darin, daß Herr Wollfritz, der nicht nur einen Radioapparat, sondern auch ein Grammophon besaß, bei offener Zimmertür und unter Benutzung einer Nadel, die besonders starken Ton erzeugte, das Horst-Wessel-Lied spielen ließ. Dabei richtete er es so ein, daß der Professor, als er nachmittags vom Spaziergang zurückkehrte, mit der verhaßten Melodie empfangen wurde. Ihm schmetterte es entgegen:

»Die Fahne hoch, die Reihen dicht geschlossen,

SA marschiert mit ruhig festem Schritt …«

»Schluß!!« schrie der Professor, dessen Gesicht erst sehr rot, dann weiß wurde und sich mit Schweiß bedeckte. »Schluß!! Genug!!«

Er war drauf und dran, ins Zimmer des Herrn Wollfritz zu stürzen und mit eigener Hand den Lauf der Platte zu stoppen, vielleicht gar den Apparat aus dem Fenster zu schleudern. Wollfritz trat ihm hoch aufgereckt in der Tür entgegen. Die schneidende Kommandostimme schrie Abel an: »Sie sind wohl irrsinnig, Herr! Wenn Sie mein Zimmer betreten, lasse ich Sie durch die Polizei rausschmeißen!«

Diese Stimme war geeignet, dem Professor vollends die Besinnung zu rauben. Er keuchte: »Das ist eine Provokation! Stellen Sie sofort den Apparat ab! Ich brauche mir das nicht gefallen zu lassen!«

Darauf Herr Wollfritz, mit kaltem Hohn: »So was hat mir gerade gefehlt! Der Jude will mir verbieten, die Nationalhymne meines Vaterlandes in meinem Zimmer zu spielen. Bodenlose Frechheit! Man ist bei uns immer noch zu sanft mit den Juden! Sowie sie im Ausland sind, werden sie unverschämt!«

Abel hatte schon die Fäuste gehoben. Aber am Grinsen des anderen erkannte er, daß dieser sich nichts anderes wünschte als ein Handgemenge. Blind, zitternd taumelte Benjamin in sein Zimmer. »Meine Rechnung!« rief er noch, ehe er die Tür hinter sich zuschmiß. »Ich ziehe aus! Sofort!«

»Ist auch Ihr Glück!« erklärte Wollfritz, wobei er seinerseits sich zurückzog. »Ich wäre auch nicht mit Ihnen unter einem Dach geblieben. Meine Schwester hätte zu wählen gehabt zwischen Ihnen und mir.«

Fünf Minuten später wurde dem Professor die Rechnung gebracht, als hätte man den Vorgang vorausgewußt und alles für seinen Aufbruch vorbereitet. Stinchens Mutter, in drohend korrekter Haltung, überreichte ihm das Papier auf einem Silbertablett. »Hier, Mijnheer«, sagte sie mit rauher, böser Stimme. Sie sah krankhafter und erschreckender aus denn je. Ihr großes Männergesicht war aschfahl und schien verwüstet von schlimmen Leidenschaften; in den Augen brannten Lichter eines irren Triumphes. Übrigens zeigte sie sich höflich und beflissen, trotz allem. Sie trug mit starkem Arm Benjamins schweren Koffer, den er eilig gepackt hatte, die steile Treppe hinunter.

An der Türe des Brummers blieb Abel stehen, um noch einmal dem wohlbekannten, trostlosen Geräusch zu lauschen. Der Kranke schien gerade eine seiner munteren Stunden zu haben. In seinem Brummen und Summen ließ eine beschwingte kleine Melodie sich erkennen. ›Gleich wird er wieder heraustreten, um mich zum Tänzchen zu bitten‹, dachte Benjamin und ging eilig weiter.

Während die virile Matrone den Koffer ins Taxi verstaute, schlüpfte Stinchen aus der Haustür hervor. Sie preßte sich ein großes, buntes Taschentuch vors Gesicht; dahinter flossen die Tränen. Abels Herz zog sich zusammen vor Rührung und einer sehr zärtlichen Traurigkeit. Obwohl die Mutter, die sich umgewendet hatte, ihn mit wütenden Blicken töten zu wollen schien, ging er munter auf Stinchen zu und streckte ihr die Hand hin. »Adieu, liebes Kind«, sagte er sanft. Ihm antwortete innig ihr in Tränen schwimmender Blick. »Auf Wiedersehen«, brachte sie hervor. Dann sprang sie davon – entweder aus Angst vor der Alten oder weil sie sich der Tränen schämte.

Während der Wagen sich in Bewegung setzte, empfand Abel: ›Ich war sehr alleine in diesem Haus, und zum Schluß habe ich auch noch einen großen Ärger gehabt. Aber ganz einsam war ich doch nicht, und ganz schlimm ist es hier nicht gewesen. Es hat jemand um mich geweint. Vielen Dank, liebes Stinchen. Ich vergesse dich nicht.‹

4

Der Sommer des Jahres 1933 war sehr heiß. Paris glühte. Auch die Nächte brachten keine Kühlung. Die Steinmassen der ungeheuren Stadt strahlten die Wärme aus, die sie tagsüber von der gewaltigen Sonne empfangen hatten. Der Asphalt schmolz. Die Schuhsohlen der Gehenden blieben hängen in seiner zähbreiigen Masse. In den engen Gassen des Quartier Latin und um den Boulevard St.-Germain war die Temperatur wie in einem Backofen. Wenn man das Haus verließ, empfing einen draußen die Hitze wie eine erstickende Umarmung.

»Es ist, als ob man einen Schlag vor die Stirn bekäme«, sagte Marion, die mit ein paar jungen Leuten den Boulevard St.-Germain hinunterschlenderte. – »Alle besseren Pariser scheinen nach dem 14. Juli aufs Land gefahren«, stellte Theo Hummler fest, der sich vor den Burschen, die gerade erst aus Deutschland eingetroffen waren, als Kenner französischer Verhältnisse zeigen wollte. »Der ›Boul’ Mich’‹ ist verödet. Nicht einmal die Studenten sind mehr da …« – »Nur die Proleten – und die Emigranten sind zurückgeblieben«, ergänzte Marion munter.

Die Burschen aus Deutschland waren sozialistische junge Arbeiter, die über Straßburg hierher geflohen waren. Sie waren Schüler von Theo Hummler in Berlin gewesen. Marion und Hummler hatten sie frühmorgens an der Gare de l’Est abgeholt und ließen sich nun seit Stunden von ihnen erzählen. Einer war im Konzentrationslager gewesen; dort hatte er den Konni Bruck getroffen, den Freund von Marions Schwester. »Dem Jungen geht es miserabel«, berichtete er bedauernd. »Er hält das Hundeleben nicht aus. Entweder er wird eingehen – oder er schwört alles ab und singt das Horst-Wessel-Lied …« – »Das darf Tilly nicht wissen«, sagte Marion leise, mehr für sich selber. – Der Bursche erzählte weiter: vom Leben im Konzentrationslager, und wie zwischen allen Gefangenen, welcher Richtung sie auch immer angehörten, eine natürliche und feste Solidarität sich herstellte. »Ich habe nie gedacht, daß es unter den Kommunisten so viel anständige Kerle gibt«, sagte der junge Sozialdemokrat. »Wenn man sich im KZ so richtig kennengelernt hat, weiß man, daß man auch draußen miteinander arbeiten kann …«

Marion und Hummler nickten. Ein anderer von den jungen Leuten fing an zu klagen: über die Leichtgläubigkeit der Arbeiter; über den Mangel an Klassenbewußtsein, den er bei ihnen gefunden hatte; daß sie sich von jedem Schwätzer anlügen und verführen ließen. »Ich kenne so viele, die bei uns oder bei der Kommune waren und die jetzt das Hakenkreuz im Knopfloch tragen.« – »Sie werden mit der Zeit schon noch hinter den Schwindel kommen«, versprach Hummler. »Es ist unsere Sache, sie aufzuklären – nicht einmal, sondern hundertmal. Dafür sind in Deutschland diejenigen von unseren Leuten da, die wirklich was wissen und was gelernt haben. Ihr seid dafür da, Jungens!« rief Hummler forsch. Etwas gedämpfter fügte er hinzu: »Und wir hier in der Emigration. – Ihr sollt gutes Material mitbekommen, wenn ihr nach Deutschland zurückgeht!« Die drei Burschen antworteten nicht; zeigten aber ernste und begeisterte Mienen. Auch gingen sie plötzlich aufrechter, die Köpfe stolzer erhoben, als seien sie sich einer schönen und schweren Pflicht trotzig bewußt.

Es war Zeit zum Mittagessen; Marion schlug vor, man solle zur Schwalbe gehen. »Da trifft man immer ein paar Freunde.« – Das kleine Restaurant florierte, trotz der drückenden Hitze. Von den Stammgästen hatte fast keiner genug Geld, um aufs Land zu fahren; hingegen langte es gerade noch zu einem Schnitzel bei der Schwalben-Mutter.

Während Marion und ihre Begleiter, langsam und träg, durch den Luxembourg-Garten spazierten, erkundigten die Burschen sich nach den Verhältnissen in der Emigration. Hummler berichtete über die politische Arbeit, die sich langsam organisierte. Er sprach von den humanitären Comités – die Flüchtlinge, die immer zahlreicher eintrafen, mußten empfangen und provisorisch versorgt werden – und von den Bemühungen, aufklärend, propagandistisch zu wirken. Die publizistische Aktivität der Emigranten – dozierte Hummler – habe zwei Aufgaben. Sie müsse von der Welt gehört werden und den noch zivilisierten, noch demokratischen Nationen das wahre, erschreckende Bild des Dritten Reiches eindringlich zeigen; andererseits aber sei es von eminenter Wichtigkeit, daß der Kontakt zur Heimat gewahrt bleibe – erstens, um von dort die Nachrichten zu beziehen, die dann in die Welt zu lancieren sind; zweitens, um Aufklärungen, Warnungen und die Aufrufe zum permanenten Widerstand nach drinnen zu leiten, auf den geheimen, schwierigen und gefahrvollen Wegen der illegalen Agitation. »Wir fangen gerade erst an«, erklärte der Mann vom Volksbildungswesen. »Aber manches ist im Entstehen begriffen, manches entwickelt sich schon …«

Er erzählte von deutschen Zeitschriften und Verlagen, die »draußen« eröffnet worden waren oder nächstens ihre Publikationen beginnen würden. Eine deutsche Tageszeitung erschien seit neuestem in Paris. »Es ist alles nur ein Anfang!« wiederholte Hummler. »Und die Schwierigkeiten, denen wir bei all unseren Unternehmungen begegnen, sind kolossal.«

Marion ließ sich ausführlicher über die diversen Schwierigkeiten vernehmen. »Sie werden nicht nur durch die Gleichgültigkeit der Welt verschuldet«, erklärte sie; »auch nicht nur durch unseren Mangel an Mitteln. Die psychische Verfassung der Emigranten selber spielt dabei eine Rolle. Ich könnte ein Lied davon singen …« – Seit mehreren Monaten bemühte sich Marion, eine kleine Theatertruppe zusammenzustellen, mit der sie auf Tournee gehen wollte. »Ein junger Autor hat mir ein paar politische Einakter geschrieben, die recht wirkungsvoll sind. Wir könnten mit dem Programm, das ich im Kopf habe, halb Europa durchziehen. Es würde eine gute, nützliche Sache sein – und den Mitwirkenden würde es soviel bringen, daß sich anständig davon leben ließe. Aber nun fangen die Komplikationen erst an. Ich habe mit vielen begabten Schauspielern verhandelt, die in Deutschland nicht mehr auftreten können – oder nicht mehr mögen. Jeder hatte andere Einwände. Dem einen war mein Programm ›zu links‹; dem anderen ›nicht links genug‹. Der hatte Hoffnung auf ein Engagement in Wien oder Zürich; der nächste rechnete damit, eine kleine Rolle irgendwo im Film zu kriegen; wieder einer mußte auf seine Familie Rücksicht nehmen, die noch in Berlin sitzt. Der sechste ist schwach von Gesundheit und verträgt das viele Reisen nicht. Der siebente möchte seine eigene Truppe haben, der achte ist mit dem Autor verkracht, der meine Texte geschrieben hat – und der letzte kann mich persönlich nicht ausstehen. Es ist zum Wahnsinnigwerden!« Marion hatte schlenkernde, fast wilde Gesten vor Erregung. Sie ließ ihre Fingergelenke knacken und bekam drohende Augen.

»Wir sind erst im Jahre 1933«, meinte Hummler begütigend, »und das Exil hat nur gerade angefangen. In einem Jahr, oder in fünf Jahren, werden die Herrschaften alle etwas weniger kapriziös geworden sein.«

»Ich weiß aber gar nicht« – Marion schüttelte gereizt die Purpurmähne – »ob ich 1938 noch Lust haben werde, mit einer Truppe herumzureisen. Wenn sechs oder zehn Leute nicht unter einen Hut zu bekommen sind: gut, dann mache ich eben meinen Dreck alleine, wie der selige König von Sachsen gesagt hat. – Ich habe schon meine Pläne und Ideen«, verhieß sie, immer noch etwas grollend, aber doch schon fast wieder munter. »Wenn es sein muß, gehe ich ohne Ensemble auf Tour – ich, ein zartes, einsames Mädchen!«

Sie grüßte kurz und ziemlich ungnädig zur Terrasse des »Café du Dôme« hinüber; denn dort saßen Herr Nathan-Morelli und Fräulein Sirowitsch und hatten ihr zugewinkt. Warum sie so unfreundlich nicke? – wollte Hummler wissen. Marion erklärte: »Ich habe diesen Nathan-Morelli nicht besonders lieb. Sein antideutscher Snobismus geht mir auf die Nerven.« – Darauf Hummler: »Er ist aber ein gescheiter, sehr gebildeter Mensch. Neulich habe ich mich mal lange mit ihm unterhalten. Er weiß enorm viel. Und ich glaube nicht, daß ihm Deutschland wirklich so gleichgültig ist, wie er es immer hinstellen möchte. Anfangs habe ich mich auch über ihn geärgert – du erinnerst dich: am ersten Abend gleich, auf der Terrasse vom ›Café Select‹ – aber allmählich habe ich kapiert, daß es sich da um etwas sehr Kompliziertes handelt, um eine Art von Liebeshaß.« Hummler bewies, daß er psychologisch geschult und keineswegs ohne feines Verständnis war. »Ein sehr ambivalentes Gefühl«, sagte er noch, klug und gebildet. »Mir hat Nathan-Morelli gestanden: Meinen Sie denn, ich bildete mir wirklich ein, Engländer zu werden? Engländer wird man nicht … Ich tue, was ich kann, um mich von Deutschland zu distanzieren – erklärte er mir – und ich glaube in der Tat, daß dies heute die einzig würdige Haltung für einen deutschen Juden ist; aber ich weiß doch nur zu genau, daß ich von diesem verdammten Land niemals loskommen werde. – Die Redewendung mit dem ›verdammten Land‹ hat mich ja wieder ein bißchen verstimmt. Aber im ganzen war es doch gar nicht so dumm, was er da alles vorgebracht hat.«

»Er hat sicher seine braven Seiten«, räumte Marion ein; aber sie behielt ihr böses, unduldsames Gesicht. – »Und es ist ja rührend, wie die Sirowitsch ihm ergeben ist!« Hummler lag daran, Marion für diese beiden Menschen, die er schätzen gelernt hatte, zu interessieren. »Zunächst verhielt er sich nicht sehr entgegenkommend, ihr gegenüber; aber nach und nach hat sie ihn doch gewonnen. Jetzt sieht man sie beinah immer zusammen. – Man muß nur Geduld haben.« Dies äußerte Hummler mit bedeutungsvollem Blick. Er bemühte sich seinerseits, zäh und unermüdlich, um Marion, die ihm aber wenig Gunstbeweise gab.

Bei der Schwalbe war es ziemlich voll. Dr. Mathes, der mit Meisje saß, winkte den Eintretenden zu, sich an seinen Tisch zu setzen. Der Arzt und das blonde Mädchen sahen glücklich aus; sie hatten einander gefunden – und Mathes außerdem eine Stellung. Durch besondere Protektion, die er Marcel Poiret verdankte, war er an einem Krankenhaus untergekommen und verdiente sogar ein bißchen. Meisje ihrerseits, die eingesehen hatte, daß sie als Blumenzüchterin hier wenig Chancen hatte, absolvierte einen Pflegerinnenkursus. Übrigens erhielt sie monatlich eine kleine Guldenanweisung von ihren Verwandten aus Holland. Die beiden waren also relativ wundervoll dran. Sie hatten sich eine Zweizimmerwohnung im XIV. Arrondissement genommen. Dort gab es, außer ihrem Bett, ein Sofa, auf dem fast jede Nacht ein anderer Emigrant schlief, und einen Tisch, an dem meistens zwei oder drei Fremde zu essen bekamen. Meisje, die bis jetzt ein einsam-jungfräuliches Leben geführt hatte, sah noch schöner aus, seit sie sich lieben ließ. Ihr klares, offenes Gesicht unter der Fülle des ährenblonden Haares schien zugleich weicher und stolzer geworden. Ein außerordentlich prachtvolles Geschöpf. Marion schaute sie an und dachte: ›So möchte ich einmal aussehen dürfen, so unschuldig und so stark! Wie herrlich muß man sich fühlen in seiner Haut, wenn man so wohlgeratene Glieder hat und eine so engelhaft blanke Stirn!‹ – Mathes bemerkte Marions neidisch-zärtlichen Blick. Er nickte ihr zu und lächelte, als wollte er sagen: Ist sie nicht unvergleichlich? Ich finde, daß sie durchaus unvergleichlich ist!

Die drei Burschen, die aus Deutschland kamen, wurden ausgefragt; während sie ihre Erbsensuppe mit Wurst verzehrten, mußten sie nochmals all ihre Neuigkeiten auspacken. Meisjens Gesicht verfinsterte sich zürnend, wie das eines gekränkten Engels, als von den sadistischen Schikanen die Rede war, mit denen SS-Leute ihre Gefangenen quälten.