Loe raamatut: «Klaus Mann - Das literarische Werk», lehekülg 38

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»Prag wird fallen.« Marion machte eine abschließende kleine Handbewegung, als wäre dies nun erledigt. »Auch die Spanische Republik wird untergehen – ein paar Dutzend Millionäre wünschen es. Tschechische Flüchtlinge, spanische Flüchtlinge; auch französische und Schweizer Flüchtlinge könnte es noch geben – woher sollen wir denn all die Affidavits nehmen? – Die Chinesen sterben, anstatt zu fliehen. Millionen sterben. In Wien wütet der Selbstmord wie eine Epidemie. Das neue Barbarentum, die Faschisten, die Hunnen – nicht einmal kämpfen müssen sie! Ohne Kampf läßt man sie siegen! Sie begegnen keinem Widerstand, keinem Gegner …! Man läßt das Scheußliche rasen, zerstören, sich austoben – als wäre es eine Naturkatastrophe! Als lebten wir auf einem Vulkan, der Feuer speit! Es gibt keine Hilfe. Jeder wartet, ob es ihn trifft …«

Ihr Atem ging schwer; sie verstummte. Der große Ausbruch hatte sie erschöpft. Sie legte die Hände auf den gewölbten Leib. Auch Abel schwieg. Er schaute sie liebevoll, sorgenvoll an. Er dachte: ›Wie schön sie ist! Wie sie leidet! Kann ich sie trösten? Ich muß sie trösten können, ich liebe sie.‹

»Der Vulkan …« Jetzt konnte sie nur noch stammeln. »Wir alle, an seinem Rande … Auf unseren Stirnen schon sein glühender Atem; die Augen geblendet, die Glieder gelähmt, die Lungen voll erstickendem Qualm … Und da soll man Kinder bekommen!!« Nun kreischte ihre Stimme, überschlug sich und klirrte wie geborstenes Glas – ihre geübte, schöne, zuverlässige Stimme – wie entartet, wie zerrüttet war sie nun! Sie lachte, nach ihrer schrillen und schlimmen Äußerung über die Kinder – ein hysterisches Lachen, ein Gelächter der Pein: Benjamin hatte es noch niemals von ihr gehört. Auch ihr Gesicht war entstellt; Zuckungen um Mund und Augenbrauen ließen es fremd und beinah häßlich werden. War dies die Schmerzensraserei der Seherin? Der epileptische Anfall der Gottesbraut? Fiel sie in Trance, bewegte krampfhaft die Hände, hatte Schaum vorm Mund?

Nichts dergleichen; sie wurde schon wieder still. Ihre Traurigkeit bekam wieder vernünftige Maße; war aber immer noch groß und tief. – »Ich kann das Kind nicht bekommen!« Die Worte ihrer armen kleinen Schwester Tilly – Marion kannte sie nicht und wiederholte sie doch. »Ich kann das Kind nicht bekommen!« Sie bewegte flehend die Hände, die Augen waren ihr naß: Marion weinte. »Heute ein Kind zu kriegen – so ein Frevel …« brachte sie hervor, »so eine Sünde, eine Dummheit … Kriege werden kommen, Revolutionen, Kampf ohne Ende … Mein armes Kind wird vernichtet …«

»Es wird leben«, sagte Professor Abel – sehr ruhig, aber dezidiert.

»Nein, nein, nein!« Sie schüttelte angstvoll den Kopf. »Ich kann es immer noch entfernen lassen. Es ist wohl noch nicht zu spät …«

»Es ist ganz entschieden zu spät«, versetzte er, fest und gelassen.

Sie wollte ihr Kind töten; seltsamerweise war ihr alles daran gelegen, Benjamins Erlaubnis für ihre Untat zu erwirken. Sie achtete ihren Gatten, sie vertraute ihm. Er sollte gutheißen, was ihr unvermeidlich schien. Sie bettelte: »Du mußt es doch verstehen! Versuche, es zu begreifen! Ich kann doch kein Kind haben! Ich muß nach Europa zurück – muß unabhängig, aktiv sein! Ich muß kämpfen! Muß mich ganz einsetzen. Das Kind würde mich stören«, sagte sie hart, und fügte kränkend, beinah ordinär hinzu: »Und überhaupt – es ist ja gar nicht von dir! Sein Vater ist ein Vagabund – der hätte gespürt, was ich meine! – Was geht es dich an?« fragte sie ihn grausam. »Es ist mein Kind; nicht deines.«

»Es ist unser Kind!« Jetzt erhob er sich aus dem Sessel. Die kleine, gedrungene Figur wirkte imposant, wie sie sich nun männlich-würdig reckte. Auch aus seinen Augen konnten Flammen springen: kein hysterisches Strohfeuer; ernste, gediegene Glut. Er war sehr blaß geworden; sein beinah frauenhaft zarter Mund bebte. »Der kleine Marcel gehört uns!«

Er hatte den Namen ihres Kindes genannt, mit fester, markiger Stimme, wenngleich innig bewegt. Das Kind sollte Marcel heißen, dies war schon seit langem bestimmt. Marcel – tödlich getroffen, unter fremden Himmeln – er würde fortleben in dem Knaben, der nicht seines Blutes war: so hatte Marion es gewollt – Benjamin mußte sie daran erinnern. Er mußte neu die mütterliche Zärtlichkeit in ihr erwecken, die sie – Prophetin und Amazone – vor lauter Zorn und Schmerz vergessen hatte. »Wir werden ihn lieben!« mußte er ihr sagen – ach, er liebte ihn schon! Er war nicht der Vater: zwei Abenteurer, zwei Fremde waren ihm vorgezogen worden. Der eine hatte das Kind gezeugt; nach dem anderen sollte es geraten. Aber wieviel väterliche Zärtlichkeit auf Benjamins Zügen, welch inniger Ernst, welch ergreifender Stolz, da er seine Frau nun gemahnte: »Er wird groß und brav! Er wird glücklich! Er sieht bessere Zeiten. Neue Spiele fallen ihm ein, neue Aufgaben stellen sich ihm, er bewältigt sie alle. – Marion, Marion, du weißt es doch – was sollte all dein Kampf und dein Aufbegehren, wenn es nicht für ihn wäre und für all seine Brüder? Was ginge die Menschheit uns an, wenn wir nicht an ihre Zukunft glaubten – wenn wir die kommenden Geschlechter nicht liebten? – Marion, Marion – du weißt es doch …« Seine Stimme hatte fast hypnotisierende Kraft – raunende, beschwörende Stimme des Liebenden, beruhigend und fordernd zugleich.

Er zog die Geliebte an sich; er liebkoste ihren Leib, der das fremde Kind trug. Sie ließ sich umfangen, ließ sich küssen und stützen. Er rückte ihr die Kissen im Stuhl zurecht. Plötzlich fühlte sie: Ich bin müde. Wie gut, daß er ihr ein Lager richtete! Sie konnte es brauchen; sie dehnte dankbar die Glieder. Dieses schläfrig-gelöste Lächeln, den vertrauensvoll-zärtlichen Blick – ihre jungen, ungestümen Freunde – Marcel und Tullio – hatten dergleichen nie von ihr zu sehen bekommen. Benjamin Abel schaute und liebkoste ein Gesicht, das noch keiner vor ihm gekannt hatte. Er wußte es, er war stolz. – Kennen Jünglinge dies zarte, schwierige Glück, das nun das Herz des Alternden erschüttert? ›Wie reich werde ich jetzt noch beschenkt!‹ empfindet der Nicht-mehr-Junge. ›Man muß lange, lange üben und sich vorbereiten, ehe man die schwere Kunst der Liebe lernt. Jetzt bin ich meiner ganz sicher; beinah übermütig bin ich – weil ich weiß: Ich kann es, ich kann es. Ich alter Schüler habe alles gelernt, manche Klassen habe ich wiederholen müssen, aber es lohnt sich, es hat sich alles gelohnt. Nun kenn ich die Liebe – die komplizierte, unsagbar schwere, unsagbar süße Aufgabe. Wie ungeschickt sind die Jünglinge! Ich kann mir nicht helfen: sie kommen mir ein wenig komisch vor. Immer wollen sie »besitzen« – oder »verzichten«. Schwieriger und süßer ist es, den schwebenden Ausgleich zu finden zwischen Besitz und Verzicht; die rätselhafte Mitte, da man das geliebte Wesen zugleich losläßt und hält. Jünglinge mögen lachen über meine Liebe zu der Frau, die ihr Kind von einem anderen hat; geradezu fassungslos und beinah degoutiert wären sie angesichts meiner väterlichen Neigung zu dem fremden, ungeborenen Kind. Ach, ihr dummen Jünglinge! Wäret ihr klüger und feiner – aber wie solltet ihr klug und fein sein bei so bedauernswertem Mangel an Herzenstraining? – ihr empfändet Neid statt Belustigung, ließe ich euch als Zeugen meiner späten, schwierig-zarten Wonne zu. Ich werde mich aber hüten! Zeugen sind nicht erwünscht. Zur Weisheit der Liebe gehört, daß sie sich verbirgt – oder doch viel einfacher scheinen will, als sie ist. Ahntet ihr, mit welchen Schauern von Entzücken und Resignation ich diese Frau umfange – meine Frau, mein Kind, Marion, die Mutter meines Kindes, meine fremde Marion, meine Geliebte …‹

Sie ruhte, an ihn gelehnt. Sie sprach wieder; ihre Worte paßten nicht ganz zu dem besänftigten, selig-matten Lächeln auf ihren Zügen. »Der kleine Marcel wird kämpfen müssen.« Es klang, als prophezeite sie ihrem Sohne das heiterste Los. »Er wird sich schlagen müssen, wie wir. Die große Auseinandersetzung ist noch lange nicht am Ende; vielleicht fängt sie gerade erst an. – Er wird tapfer sein!« Sie hielt die Augen geschlossen; ihr Lächeln aber ward inniger, stärker und kühner. »Er wird siegen!« Dabei hob sie ein wenig den Kopf.

Benjamin sagte: »Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.«

Sie schickte einen schrägen, etwas mißtrauischen Blick über ihn hin. »Was bedeutet das?« wollte sie wissen.

Er erklärte, gleichsam um Entschuldigung bittend: »Es ist eine Zeile von Rilke. Sie ist mir gerade eingefallen.«

»Von Rilke also.« Es schien sie etwas unruhig und verdrießlich zu machen. »Ich kenne es gar nicht – dabei habe ich doch viel von ihm rezitiert … Du hast immer ein passendes Zitat bereit!« Sie war enerviert; ihre schönen Hände begannen wieder, rastlos zu werden.

»Es ist eine schöne Zeile«, sagte er sanft.

Und sie: »Eine falsche Zeile! – Auf den Sieg kommt es an.«

»Überstehen ist siegen!« Er erklärte es ihr mit der zärtlichen Exaktheit eines Lehrers, der für die Schülerin ein zartes Faible hat. »Wer Geduld hat, wer aushält – der siegt. Alles geht langsam, alles dauert lang. Wir überschätzen die Ereignisse des Tages, der Stunde; wir stilisieren sie apokalyptisch, geben ihnen gewaltige Namen: Historische Wende oder Weltuntergang. Das ist Irrtum und Eitelkeit. Soll unsere Epoche alles verändern und unterbrechen – nur weil es gerade unsere Epoche ist? Der Prozeß geht weiter – zäh und langsam, sehr langsam … Es gibt Störungen, Rückschläge: dergleichen erleben wir jetzt. Lassen wir uns doch nicht gar zu sehr erschüttern und verwirren! Lasse dich doch nicht wirr und kopflos machen, liebes Herz, durch die Störungen und die Rückschläge! Vertraue doch: es geht weiter! Glaube mir doch: in den großen Zusammenhängen rechnet dies alles so wenig und wird einst ruhiger und kälter beurteilt werden, als wir’s heute vermuten.«

Sie blieb eigensinnig mit ihren Worten – wenngleich Blick und Lächeln verrieten, daß sie beinah überzeugt und fast besänftigt war. »Wir leben aber heute – jetzt und hier. Unsere Leben werden vernichtet, durch die Rückschläge und die Störungen; die Leben unserer Freunde und Kameraden, selbst die ungeborenen Kinder sind gefährdet. – Die großen Zusammenhänge – können sie uns trösten? Und wer beweist denn, daß es gute, vernünftige Zusammenhänge sind? – Ich weiß nur, daß jetzt gelitten wird, von Millionen. Ich schäme mich, in mein kleines, privates Glück zu fliehen, während Ströme von Blut und Tränen sich ergießen.«

»Es ist kein kleines, privates Glück!« Er hob tadelnd den Zeigefinger. »Ein schwieriges, tiefes Glück, nach vielen Leiden gewonnen. Haben wir’s uns nicht verdient, liebe Marion? – Nun müssen wir’s tragen und fruchtbar machen. Auch dazu gehört Tapferkeit – oder gerade dazu. Stürzen, sich fallen lassen, sterben – auch heroisch sterben – das ist leicht. Leben ist schwerer und ernster. Glücklich sein – das ist am schwersten und am ernstesten für uns, die wir weder ruhig sind noch kalt. Die überlegene Haltung überlassen wir den Künftigen, die über uns urteilen mögen. Was uns betrifft, wir bleiben beteiligt, ergriffen, immer wieder angefochten, erschüttert, immer in Gefahr. Aber geduldig! Aber tapfer! Dem Gesetz dieses Lebens gehorsam. Geduldig und gehorsam sollen wir sein. Dann kommt auch das Glück – und sich seiner zu schämen wäre Feigheit und Schwäche. Stolz empfangen wir es.«

Da sagte sie nichts mehr. Auch die Lieder und Gelächter der jungen Amerikaner draußen waren verstummt. Es war in ihrem Zimmer sehr still geworden. Der Atem der milden Nacht kam sehr still herein.

Benjamin wiederholte – summend, wie den Refrain des Liedes, mit welchem man ein Kind zur Ruhe bringt: »Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles!« – Seht, sie schläft schon fast!

15

Die Zimmer, in denen die Armen wohnen, sind sich ähnlich, überall auf der Welt. Wo befindet sich dieses? Am Rande irgendeiner großen Stadt – läßt sich vermuten. Genaueres ist kaum festzustellen. Die Landschaft, auf die das Fenster den Blick gewährt, ist kahl und fast völlig trostlos. Auf den öden Feldern liegt Nebel. Im grauen Dunst stehen ein paar frierende Bäume neben Telegraphenstangen. Im Zimmer drinnen sieht es nicht heiterer aus.

Ist sie uns nicht vertraut, diese mönchische Zelle? Das Kruzifix an der grauen Wand, das schmale Bett, und auf dem Tisch die unberührten Speisen – zu solcher Kargheit zwingt sich Kikjou, den wir einstmals als den kleinen Abenteurer kannten, als den sündhaft Reizbegnadeten, den von Lastern und Visionen Verzückten, das suspekte Lieblingskind Gottes. Noch einmal begegnen wir ihm – hat er sich sehr verändert? Das perlmutterfarbene Affengesichtchen mit den vielfarbigen Augen ist ein wenig gealtert; härter, magerer und strenger geworden. Doch bleibt ihm noch der infantile Charme, der sinnliche Zauber des Blicks.

Wo hast du dich denn herumgetrieben, all die Zeit, petit frère de Marcel, Bruder des toten Helden? Magst du uns nichts verraten? – Du verrätst uns nichts. Du schweigst über die Arbeiten und Abenteuer, die Vergnügungen und Traurigkeiten, die Erfahrungen bitterer oder süßer Art, die hinter dir liegen. Du hast dich unter die Menschen gemischt, hast Anteil genommen, Leiden mitangesehen und selber Leiden getragen – soviel merkt man dir an. Wo du auch gewesen sein magst – du bist dem Leben nicht ausgewichen; du hast dem Befehl gehorcht, den das sinkende Haupt, das dornengeschmückte, mit trocken-rissigen Lippen dir zurief.

Zuweilen legst du Rechenschaft ab vor deinem Erlöser, der geduldig lauscht – unfaßbar milde und unfaßbar streng. Er will die detaillierte Konfession, die exakte Beichte. Er ist anspruchsvoll. Ausflüchte, pathetische Verallgemeinerungen läßt er nicht gelten: das weißt du nun schon und hast dich daran gewöhnt. Deine Gebete werden beinah trocken. Du berichtest deinem Erlöser: Ich habe eine kleine Aktion vor, lieber Herr. Hältst du meinen Plan für gescheit und dem Zwecke dienlich? – Des Menschen Sohn interessiert sich für die Affären der Menschen, so melancholisch und konfus sie auch meistens sind.

Heute ist ein wichtiges Datum in Kikjous Leben. Morgen soll er eine große Reise antreten – die Fahrt nach Hause, nach Südamerika, zu seinen Schwestern nach Rio. Sein Papa ist gestorben: keine verdrossenen Briefe, keine gereizten Mahnungen sind von ihm mehr zu gewärtigen. Er ist tot, es war ein Magenkrebs, die Schwestern haben es Kikjou telegraphiert, und hinzugefügt: »Komme bitte sofort! Brauchen dich zur Abwicklung der Geschäfte, da sonst ohne männlichen Schutz.« Unverhoffte, etwas peinliche Ehre für den kleinen Kikjou: plötzlich soll er Familienoberhaupt sein. Seine Schwestern rechnen auf ihn, ohne ihn wären sie ganz verloren – ernste junge Mädchen, leider sind sie nicht hübsch, deshalb finden sie keinen Bräutigam. Bruder Kikjou soll die Geschäfte ordnen; soll mit Anwälten – wahrscheinlich üblen Schwindlern – um grünbespannte Tische sitzen; wird vielleicht etwas Geld haben, vielleicht auch nicht: sehr wohl möglich, daß Papa nur Schulden hinterlassen hat, man muß auf dergleichen gefaßt sein. In diesem Falle säße Kikjou da, mit den unversorgten Jungfern – wie kann er sie alle ernähren?

Es hat mancherlei zu besprechen und zu beraten gegeben mit dem strengen, milden Herrn, der geduldig lauscht. Zu allen übrigen Sorgen kam das Paßproblem: Kikjou, kleiner Kamerad der Heimatlosen, war nun seinerseits expatriiert. Solches geschah ihm zur Strafe, weil er in Spanien bei den Loyalisten gewesen war und sich so lange ferngehalten hatte von der Heimat. Sein Paß wurde nicht verlängert: Kikjou argwöhnte, daß sein eigener Vater die brasilianischen Konsulate in solchem Sinne beeinflußt hatte. Der grausame alte Herr – heftig deprimiert durch den Magenkrebs und die Ahnungen des nahen Endes – wollte den verlorenen Sohn durch so erpresserischen Trick zur Heimkehr zwingen. Nun mußte er wirklich nach Hause und fand sich in lästigen Komplikationen. ›Soll ich den gefälschten Paß benutzen? Es ist ja ein echter – nur ein paar kleine Ziffern hat man korrigiert … Was rätst du mir, lieber Herr?‹ – Die Emigrantenprobleme, die Sorgen der Vagabunden: Kikjou, der Wahlemigrant, der Vagabund aus Instinkt, erfuhr sie am eigenen Leibe.

›Nach Hause!‹ dachte er, ziemlich bitter. ›Nach Hause – wie seltsam es klingt! Was geht Rio de Janeiro mich an? Eine fremde Stadt. Was bedeuten mir meine Schwestern? Unbekannte Damen. Ich habe kein Zuhause. Zu lange habe ich mit denen gelebt, die heimatlos sind – ich gehöre zu ihnen, meine Brüder sind sie. Marcel, mon grand frère – hatte er eine Heimat? Il était sans patrie, ist unter fremden Himmeln gestorben. Martin, den ich geliebt habe, und seine Freunde und all die anderen, denen ich ein bißchen zu helfen versuchte – ach, mit was für matten, unzureichenden Kräften! – lauter Heimatlose … Was soll ich in Rio, bei den dummen Schwestern und den schlauen Anwälten? Aber es ist wohl meine Pflicht, ihnen zur Verfügung zu sein … Wie lange werde ich bleiben? Und was für Wanderschaften kommen dann?

In welchen Sprachen werde ich noch beten lernen? – Vorhin, als ich vor meinem Erlöser lag, habe ich ihn mit französischen, deutschen, englischen, spanischen und portugiesischen Vokabeln angerufen. Er hat sie alle verstanden. Des Menschen Sohn kennt die Sprachen der Menschen. Er ist kein Nationalist. Er hat keine Muttersprache, nur die Sprache des Vaters – die sich aus sehr mannigfachen Idiomen zusammensetzt. Unser internationales Kauderwelsch wird gnädig aufgenommen. Mein Gestammel könnte ein Gegenstand des Anstoßes und Skandals im Himmel sein; indessen herrscht dort größte Toleranz, was die Worte und Akzente betrifft. Die Taten und Gedanken aber werden streng gewogen.

Die stumme Toleranz der höchsten Sphäre ist tröstlich; jedoch würde man gern auch von den Lebenden etwas besser verstanden. Auf Erden nimmt die Unduldsamkeit gegenüber Ausländern erschreckend zu, überall ist sie im Steigen begriffen: Du weißt es, Menschensohn; mir liegt aber daran, es Dir wieder einmal recht nachdrücklich ins Gedächtnis zu rufen. Wir sind ziemlich einsam, lieber hoher Herr; in der Fremde weht kalte Luft, Freundschaften von Dauer gibt es kaum für die Unbehausten.

Einstmals ward ich hohen, sonderbaren Umgangs gewürdigt; das ist lange her. Deine Boten traten flügelrauschend ein. Seither ist es still um mich geworden; auch der Geruch von Mandelblüten und überirdisch feinem Benzin ward mir nicht mehr gegönnt. Ich konstatiere es, ohne mich zu beklagen. Habe ich etwa Anspruch auf den Verkehr mit Engeln? Keineswegs. Um es nur zu gestehen: sie fehlen mir nicht einmal. Die Beziehungen zu sterblichen Menschen sind abwechslungsreich und erregend genug. Auch habe ich ja reichlich zu tun. Als ich noch faul und ohne Pflichten war, eignete ich mich wohl besser zum Spiel- und Reisegefährten für die Himmlischen. Ich lechzte nach dem Wunder, weil ich sonst beinah sorgenlos war. Heute verhält sich das anders. Die Affäre, zum Beispiel, mit meinem Paß und die finanzielle Situation meiner Schwestern …‹

Auf welche Beschwörungsformel reagieren die Gottesboten? Auf welches Stichwort hin treten sie ein? Kikjou hatte kalte, nüchterne Gedanken gedacht; sein Interesse war aufs Nahe, Irdische konzentriert, und seine Feststellung, daß ihm die Engel kaum fehlten, war nicht schmeichelhaft gewesen für so stolze und empfindliche Kreaturen. ›Der Paß‹, dachte er. ›Das väterliche Erbe …‹

Da geschah es. Da vollzog es sich noch einmal.

Kikjou war kaum erschrocken; sogar das Erstaunen verbarg er – wenn er es empfand. Es war doch schon lange her, seit der Stürmisch-Geschwinde ihn heimgesucht und abgeholt hatte. Genügt eine einzige Begegnung mit den Himmlischen, um uns an den hohen, schauerlichen Umgang dergestalt zu gewöhnen, daß wir ihn wie das Selbstverständliche hinnehmen, wenn er sich wiederholt?

Kein Erschrecken, kein Aufschrei des Sterblichen: Kikjou reagierte so matt, daß es kränkend wirkte. Die Gefiederten sind es gewohnt, Sensation zu machen, wenn sie sichtbar zu werden geruhen. Sie erwarten, sehr mit Recht, den halb entzückten, halb entsetzten Empfang. Maria, die Unberührte, entsetzte und entzückte sich bis zu Tränen und zu krampfhaften Gelächtern über des Engels Besuch. Ihre Erregung überschritt jedes Maß und drohte, in Raserei auszuarten, als die große Meldung ausgerichtet wurde: Du bist auserkoren! Unter allen du! Du hast empfangen, bist gesegnet, und die Frucht wird ohnegleichen sein! – Wie jubelte und tobte, wie wimmerte und frohlockte da die erwählte Magd. – Dieser Knabe indessen – Kikjou, ein Verwöhnter, dem gar nichts mehr imponierte – er hob nur den Kopf, schaute hin, lächelte: Ach, da bist du wieder … als wäre es eine Selbstverständlichkeit. – Freilich: welch ein Lächeln! Wie schüchtern, bei aller Vertrautheit mit dem Phänomen! Wie innig werbend – wenngleich ein wenig blasiert. Bei aller Gefallsucht, aller Lässigkeit – wie erschüttert! Wie dankbar! – Er hatte ja gestanden: Ich bin recht allein. Gleich war die überirdische Visite da, von sanftem Licht umflossen, höchst freundlich.

Kikjou freute sich sehr; wollte es aber nicht zugeben, sondern erkundigte sich, beinah mißtrauisch: »Bist du der, den ich kenne? Warst du schon bei mir? Hast du mich schon mal entführt?«

Der Gesandte versetzte: »Ich entführe niemanden. Im Gegenteil: meines Amtes ist es, solche zu begleiten, die sich ohnedies schon rastlos unterwegs befinden. – Ich bin der Engel der Heimatlosen.« Dies erklärte er mit einer gewissen Strenge, als nähme er es Kikjou übel, daß er es nicht gleich erraten hatte.

»Du siehst aber deinem Bruder, dem Geschwinden, sehr ähnlich.« Kikjou bestand darauf. Er fügte, leicht verächtlich, hinzu: »Nur bist du weniger stattlich. Wahrscheinlich auch weniger schnell.«

»Schnell genug«, sagte der Engel; aber seine Stimme klang müde. Er sah mitgenommen aus, beinah schäbig. Sein langer schwarzer Mantel war ramponiert und stellenweise zerrissen. Selbst die Flügel – kurze harte Federngewächse, die ihm ziemlich tief am Rücken saßen – wirkten zerzaust. Auf dem Kopfe saß ihm ein bestaubter kleiner Hut, eine sogenannte Melone, wie viele Herren sie zum Straßenanzug tragen. Unter dem Hutrand strahlten überirdisch die Augen.

Ein unscheinbarer Engel – Kikjou stellte es nicht ohne Enttäuschung fest. Trotzdem war die Ähnlichkeit mit jenem anderen, der ihn vor langer Zeit in Schnee und Sturm gerissen hatte, auf geheimnisvolle Art frappant. Kikjou ward den Verdacht nicht los, daß es sich – wenngleich auf etwas verwirrende Art – um den gleichen Engel handelte. Aus irgendwelchen mysteriösen Gründen leugnete der neue Besucher seine Identität mit dem vorigen. Wer aber kannte sich aus mit den Identitäten der Engel?

»Der Engel der Heimatlosen – das bin ich!« rief der ramponierte Sohn des Paradieses noch einmal – diesmal stolz, beinah heftig. Die metallisch klirrende Stimme, die königliche Ungeduld des Blickes ließen den ruhenden Knaben denn doch auffahren und eine höflichere Haltung annehmen.

»Obwohl ich eigentlich nicht ganz zu den Emigranten gehöre, empfinde ich mich doch durchaus als einen aus ihrem Kreise.« Es klang etwas heuchlerisch; die Absicht, sich einzuschmeicheln, war deutlich. Der Engel, ganz entschieden verstimmt, hielt sich starr. Kikjou versöhnte und gewann ihn nicht mit Worten, sondern durch seine hilflosen kleinen Gesten, durch das Lächeln, welches rührend um Verzeihung bat.

Die Himmelsblicke unter dem bestaubten Hutrand – eben noch furchtbar lodernd – wurden mild. Trost strömte aus ihnen, wie Wasser aus einer Quelle. Auch die Stimme bekam sanfteste Melodie.

»Du bist einer von ihnen, ich weiß es – deshalb bin ich hier. Auch bei deinen Brüdern bin ich gewesen, zum Beispiel bei Martin, als er den Tod empfing wie eine Krone. Ich war immer dabei. Es hat mich keiner gesehen.«

Da wagte Kikjou die Frage: »Wenn du so genau Bescheid weißt, soviel Elend kennst und immer neues mitansiehst – warum hilfst du nicht, Engel? Warum hilfst du nicht?«

Der Von-oben-Gesandte – mit der hochmütigen, sogar etwas unvernünftigen Manier der Himmlischen – blieb die Antwort schuldig, so wie viele Frauen verstummen oder das Thema wechseln, wenn man sie mit lästigen Fragen behelligt. Statt zu antworten, rief er mit herrlich singender Stimme, trostlos und begeistert zugleich:

»Unter fremden Himmeln werden die Schicksale durchlitten, die ich begleite. Auf vielen Wegen lag der sanfte Schatten meines Kleides.« Er raffte den Mantel mit schöner Geste – siehe, er war nicht mehr abgenutzt, schadhaft und dünn; sein Stoff schien sowohl weicher als auch stärker geworden, und übrigens hatte er die Farbe gewechselt. Nun leuchtete er in köstlich sattem Blau – ein ritterlicher Mantel, ein fürstlich-feines Kostüm; auch der garstige Herrenhut hatte sich zauberisch verschönt. – Mit einem düsteren Frohlocken und tragischem Übermut fuhr der Strahlende fort:

»Überall – wahrlich, an allen Orten – bin ich gewesen! In engen Hotelzimmern, Schiffskabinen Dritter Klasse, in den Warteräumen der Konsulate, den Vorzimmern der Comités, in billigen möblierten Stuben, in Hospitälern, in den Friedhöfen vieler Städte, in Eisenbahncoupés ohne Zahl, auf Schlachtfeldern, auf Bahnsteigen, in vegetarischen Restaurants, in Redaktionsstuben, billigen Kaffeehäusern, in obskuren Klubs, in Lagern, wo sie leben müssen – zusammengepfercht wie das Vieh – überall mein Blick, mein Lächeln, mein stummer Trost …«

»Warum hast du nicht geholfen?« – Diesmal war Kikjous Frage mit zuviel Nachdruck gestellt, es gab kein Ausweichen mehr, der Engel mußte gestehen: »Ich konnte nicht. Ich durfte nicht. Und ich wollte nicht. Die Pläne meines Gebieters sind dunkel. – Dunkel – dunkel – dunkel …« wiederholte er schaurig. Sein Gewand war wieder schwarz geworden, auf dem Hute lag wieder Staub. Wie kurz, wie trügerisch war der Glanz dieses Engels gewesen!

»Soll es noch lange dauern?!« – Kikjou hatte diesen Aufschrei nicht unterdrücken können. Der Engel aber machte Schritte, die sowohl schwebend als auch schleppend waren, auf und ab, durchs Zimmer. Dabei berichtete er, nicht ohne Wohlgefallen:

»Viele Tränen habe ich fließen sehen – und manche, die ich beobachten mußte, konnten nicht einmal weinen. Ich habe den Gestank der Armut gerochen, und in den Ohren das gellende Gelächter jener gehabt, die in den Wahnsinn fliehen. Das Exil kreiert neue Krankheiten; nicht nur das Herz – auch der Verstand der Heimatlosen ist erheblich gefährdet! – Ich bin der Engel der Entwurzelungsneurose!« Dies konstatierte er – als wäre es ihm besonders wichtig – mit Triumph und Traurigkeit ohnegleichen; wallte dabei durchs Zimmer, rauschend, sich düster spreizend, unermüdlich, immer auf und ab – zu schrecklichen Märschen verflucht; zum Gehen, Schweben, Steigen verurteilt durch unbarmherzigen Spruch. Seine Rhapsodie hallte weiter: »Ich sehe den Kampf – er geht um Leben und Tod, keiner meiner Schützlinge darf ihm ausweichen. Ich sehe den Selbstmord, den Ruin, das Laster, die Niedertracht als Konsequenz des Elends; ich sehe die Häßlichkeit in tausend Formen und die blühende Unschuld, die erst allmählich entstellt wird vom Leid; das kurze Glück – seinen zögernden Anfang, sein rapides Ende – die Bemühungen, die Enttäuschungen, die Entbehrungen ohne Ende – ich sehe, ich sehe! Was habe ich nicht alles gesehen! Meine Augen sind nur noch Schmerz, soviel Schmerzen haben sie angeschaut …«

Er berührte seine Augen mit den Fingerspitzen: da wurden sie blind. Gerade hatten sie noch geleuchtet, jetzt waren sie leere Höhlen, schwarz und tot – ach, wohin der Schimmer? Die himmlischen Lichter – wohin?

»Elend – Elend, über alles Maß …« War dies Jammerruf oder Lobgesang? – Der Knabe auf seinem Lager begriff: Die Engel – Teil von Gottes Substanz – huldigen dem Herrn, auch wenn sie klagen. Dies faßt kein Sterblicher. Kikjou keuchte:

»Wie lange noch? Und was ist der Sinn?«

Der Engel – das Gesicht mit den toten Augen zur Maske erstarrt und verzerrt – schwebte und tänzelte vor dem Bett. »Frage nur! Frage!« Es klang höhnisch. »Aber wünsche dir keine Antwort – die dich zermalmen müßte. Zerschmettert wärest du, wenn die Antwort käme! Du Narr! Du Sterblicher! Du Ahnungsloser!« Dazu ein Lachen – wie aus Höllenschlünden.

Kikjou – außer sich; alle Vorsicht vergessend; aus dem Bette springend – schrie ihn an: »Verfluchter!!« – und war auf das Schlimmste gefaßt. Ein Engel, der so infernalisch gemeckert hatte, konnte auch Feuer speien, ihm war schlechthin alles zuzutrauen.

Der Bote, statt zu toben, reagierte sanft. Er bekam wieder lebendige Augen – menschlich-übermenschliche Sterne – und sie glänzten feucht. Tränen hingen an den schön gebogenen Wimpern. Aus dem Dunkel des Mantels traten, blaß und schmal, die Hände hervor. Ihre Gesten flehten um Verzeihung, wie die sanften Blicke.

»Nenn mich nicht so!« bat er innig, die beseelten Augen rührend aufgeschlagen. »Ich begreife, daß du dich fürchtest vor mir und sogar etwas ekelst. War ich vorhin sehr häßlich und abscheulich? Das passiert mir manchmal. Ich komme zu oft und nah an Widriges heran: es wirkt ansteckend. Manchmal packt es mich, und ich muß selber gräßlich werden – es ist wie ein Anfall – sehr quälend; dauert aber nicht lang. Gerade dir gegenüber ist es mir unangenehm.« Der Engel machte eine wirkungsvolle Pause, ehe er mit feierlichem Nachdruck sagte: »Nicht um dich zu verfluchen, bin ich zu dir gekommen.«

»Warum bist du hier?« wollte Kikjou wissen. Er stand mit bloßen Füßen auf dem Steinboden. Er fror.

»Um dich zu küssen. Um dich zu segnen.« – Dies war nicht die Stimme eines einzelnen mehr; wie Chorgesang hallte es durch den Raum. Sehr viele Engel – die Heerscharen allesamt – schienen ihrem ramponierten Bruder Gewalt und Süßigkeit ihrer Kehlen zu leihen: das wundersam geübte Ensemble der Cherubim ließ sich hören.

Der Knabe schluchzte. Da er außerdem fror, wurde er besonders heftig geschüttelt. »Warum gerade mich?« fragte er, bitterlich weinend. »Warum sind Kuß und Segen mir zugedacht – unter allen Brüdern und Kameraden gerade mir?« – Er hatte Angst vor der hohen Gunstbezeugung. Er fürchtete sich. Er war schwach. Dies verriet er, da er sich nun in einen Winkel zurückzog und flehte: »Bitte nicht …!«