Loe raamatut: «Klaus Mann - Das literarische Werk», lehekülg 40

Font:

In dem Raum waren zwei Männer, sie sprachen spanisch miteinander, einer von ihnen mit deutschem Akzent. Der Engel – zuverlässiger und präziser Conférencier – gab die nötigen Aufklärungen: »Es ist Hans Schütte, ein Deutscher, seit Beginn des Bürgerkrieges in Spanien, hat sich vor Madrid gut bewährt, er ist Politkommissar. Morgen fährt er nach Barcelona, übermorgen nach Frankreich weiter. Sein Dienst ist zu Ende.« – »Aber der Bürgerkrieg geht doch weiter?« fragte Kikjou. – »Die Internationalen Brigaden werden aufgelöst«, sagte der Engel. »Die loyalistische Armee ist stark genug, hat jetzt auch genug Offiziere. Man braucht die Fremden nicht mehr.« – »Man schickt sie weg?« fragte Kikjou. Der Engel bestätigte ruhig: »Ja. Man schickt sie weg.«

Hans Schütte packte Gegenstände in einen Rucksack: die Zahnbürste, ein paar grüne Hemden, Bücher – das »Kapital« von Marx, den »Faust« und zwei Detektivromane – Unterhosen, ein paar bunte Bilder von Stierkämpfern, spanischen Damen mit Fächern oder revolutionären Heroen. Er schnürte den Rucksack zu. Er sagte: »Das wäre also vorbei. Jetzt geht’s wieder mal auf die Walze.«

Der andere erkundigte sich: »Was für Pläne hast du? Kannst du irgendwo bleiben?«

Schütte lachte bitter: »Irgendwo bleiben – wenn ich so was nur höre! Ich werde froh sein, wenn die Franzosen mich über die Grenze lassen!«

Der andere: »Aber unsere Leute können dich nicht so einfach rausschmeißen – wenn du gar nicht weißt, wohin du gehen sollst! Du hast doch für uns gekämpft!«

»Darauf bilde ich mir nichts ein«, sagte Schütte. »Ich habe gegen den Faschismus gekämpft. Das war meine Pflicht. Ich kann nicht verlangen, daß man mich ewig durchfüttert, weil ich meine Pflicht getan habe.«

Der Spanier schien nicht ganz einverstanden. »Hast du denn etwas Geld – in Frankreich draußen?« forschte er weiter. Schütte erklärte: »Keinen Centime« – woraufhin der Kamerad erst recht nachdenklich wurde. Schütte tröstete ihn: »Es wird schon irgendwie gehen. So schnell verhungert man nicht.« Sie schwiegen eine Weile. Draußen fiel ein Schuß, sie achteten nicht darauf. Schütte sagte: »Vielleicht werde ich bald an einer anderen Front gebraucht. Ich denke mir, die Tschechen werden sich wehren – wie ihr euch gewehrt habt. Dann bin ich wieder dabei …« Es klang gar nicht prahlerisch; eher etwas müde. – »Meinst du, es kommt bald zum großen europäischen Krieg?« fragte der spanische Kamerad. Schütte zuckte die Achseln. »Früher oder später … Vielleicht in zwei Tagen, vielleicht in einem Jahr …« – »Wer wird siegen?« – Schütte sagte: »Wir.«

Noch eine Pause. (›Welch schleppende, dabei gespannte Konversation!‹ – dachte Kikjou.) Der Spanier war es, der wieder zu sprechen begann; seine Stimme klang etwas dumpf. »Und wenn wir nicht mehr weiterkönnen? Wenn wir nachgeben müssen? Wenn die Republik ihren Kampf verliert?« – »Ihr könnt ihn nicht mehr verlieren«, erklärte Schütte. – Und der spanische Soldat: »Unser Feind hat die Hilfe von zwei großen, mächtigen Ländern! Uns hilft niemand. Wir haben nichts mehr zu fressen und fast keine Munition. Warum hilft uns keiner?« Er schien fassungslos über die Feigheit und Dummheit der Welt. Er starrte seinen deutschen Freund fassungslos an. »Will man denn, daß wir zugrunde gehen? Warum lassen uns alle im Stich?!«

Der Politkommissar erwiderte mit sanfter Dezidiertheit: »Ihr geht nicht zugrunde. Sogar wenn Franco eure Städte erobert, seid ihr noch nicht verloren. Der Kampf geht weiter, wir gewinnen ihn – denn ihr habt uns das Beispiel gegeben. Ihr habt uns gezeigt, daß man einig sein muß und tapfer. Die Faschisten sind keine Helden, im Gegenteil. Nur unser Versagen – Uneinigkeit und Verzagtheit in unseren Reihen – gibt ihnen die Siegeschance. Wir überwinden unsere Fehler und Irrtümer, dank dem Vorbild, das ihr uns gebt. Die große Tatsache – daß ihr gekämpft habt; daß ihr einig seid – wird die Geschichte des Jahrhunderts bestimmen. Ihr seid die Sieger!«

Hans Schütte, der Politkommissar, sprach ohne Pathos, mit fester, gelassener Stimme. Der spanische Kamerad stand straffer aufgerichtet; erfrischt und ermutigt durch die Worte des Deutschen.

Schütte sagte: »Jetzt muß ich wohl gehen.« Dabei verfinsterte sich sein Gesicht, das eben noch geleuchtet hatte. – Während sie sich die Hände schüttelten, trat der Engel zu ihnen. Er bewachte ihren Abschied; er segnete ihre brüderliche, schamhaft-geschwinde Umarmung; er berührte mit der gebenedeiten Hand ihre Scheitel. – Sie waren Soldaten derselben Truppe, sie hatten die gleichen Entbehrungen, die nämlichen Gefahren hinter sich; sie hatten im Unterstand nebeneinander geschlafen; sie hatten die gleichen Mädchen gehabt, in Valencia und in Barcelona. Sie waren Freunde: ›Mein zweiter Freund‹, wußte Schütte, ›vorher hatte ich einen, der hieß Ernst – was ist aus dem geworden? Dieser heißt Juan – man spricht den Namen mit einem seltsam rauhen Kehlkopflaut am Anfang aus – er ist ein Soldat. Der Ernst hätte auch ein Soldat werden sollen, wo treibt er sich jetzt herum? Als ich ihm in Basel Lebewohl gesagt habe, war alles ähnlich wie jetzt – aber ganz so ernst und schwer wie jetzt ist mir damals nicht zumute gewesen. Leb wohl, Juan! Und wenn du sterben mußt, wenn es dich doch noch erwischt – wisse, es war nicht vergeblich! Was ich da vorhin erzählt habe, klang vielleicht ein bißchen salbungsvoll; war aber genau meine Ansicht; war mein ganzer Glaube. Ihr seid das Vorbild.‹

Der Engel und Kikjou hörten die Gedanken des Politkommissars, und sie freuten sich ihrer. »Bist du nicht stolz auf diesen braven Bruder?« fragte der Engel. Kikjou erwiderte: »Ich bin stolz auf ihn.«

Da wurde er wieder entrückt – Hans Schütte schnallte sich gerade den Rucksack um, das irdisch schwere Gepäck. Unten wartete ein Lastwagen, er würde ihn und zwanzig andere deutsche Soldaten nach Barcelona bringen. Die Männer von den Internationalen Brigaden hatten ihren Dienst getan – auf diesem Kriegsschauplatz. Es war die Stunde der Heimkehr. Sie reisten nach Haus – nach New York oder Kopenhagen, nach Birmingham, Bordeaux oder Los Angeles. Mehrere von ihnen hatten keine Heimat, sie wurden nirgends erwartet. Wohin soll ein Deutscher oder ein Italiener sich wenden, nachdem er gegen die Faschisten gekämpft hat? Ihm bleibt nichts übrig, als weiter gegen die Faschisten zu kämpfen – an welcher Front, in welchem Land es auch immer sei – anders kann er die verlorene Heimat nicht zurückgewinnen. – Die deutschen Soldaten, auf ihrem Lastwagen, sangen ein Lied, als sie die zerstörte Stadt Tortosa verließen. Ihre Kameraden, die noch auf dem Posten blieben, sangen mit. Der Text des Liedes ward in spanischer, französischer, deutscher, englischer, holländischer, schwedischer, portugiesischer Sprache vorgetragen. Indessen war die Melodie für alle gleich, und sie sangen im gleichen Rhythmus, kamen nicht aus dem Takt. Das Lied, mit dem die Männer von Tortosa Abschied von den deutschen Brüdern nahmen, war die »Internationale«. Kikjou lauschte, schon von der Wolke emporgeschaukelt. Der Engel der Heimatlosen, mit tiefer, melodischer Stimme, summte den Refrain:

»Völker, hört die Signale …«

Kikjou fror. Für Gletschertouren war er nicht gekleidet, hier wehte ein eisiger Wind. Was suchte der Engel auf so steilem Grat? Schneefelder schimmerten matt und öd unter einem Himmel, der sternenlos war. Weit hinten ragten zackig die Gipfel, bleich leuchtend, wie aus innerem Licht. Ringsumher – alles fahl und starr; aus den Schluchten aber drohte Dunkelheit.

Wer ging Pfade, die so nah dem Abgrund waren? Ein falsch gesetzter Schritt bedeutete das tödliche Verhängnis. Wer riskierte, zu nächtlicher Stunde, die Exkursion in so furchtbare Landschaft?

»Man muß die Freiheit sehr lieben, um sie sich durch solche Flucht zu erobern«, raunte der Engel, seinerseits fröstelnd, eng in den zerschlissenen Mantel gehüllt. – »Wer flieht denn?« fragte Kikjou. Der Engel wies mit dem Finger auf eine Gestalt, die sich langsam näherte: »Der da. Er kommt aus Deutschland – daher sein verzweifelter Mut. Sie wollten einen Soldaten aus ihm machen. Dann hätte er auf Kameraden schießen müssen, auf den Spanier Juan oder auf den Deutschen Hans Schütte. Das paßte ihm nicht, der ganze Schwindel paßte ihm längst nicht mehr, er kannte ihn, er hatte ihn gründlich satt. So wurde er Deserteur. Wir sind hier an der Grenze zwischen der Schweiz und Österreich – zwischen der Schweiz und Großdeutschland, um genauer zu sein: die ›Ostmark‹ ist eine Provinz des Dritten Reiches, wie dir bekannt sein dürfte; die schöne Schweiz hingegen bleibt vorläufig frei. Dorthin will dieser Junge. Er heißt Dieter.«

Der deutsche Deserteur war siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahre alt. Sein blondes Haar fing an, an den Schläfen etwas dünn zu werden – dies zeigte sich; denn er trug keine Mütze. Auf der Stirn und um den schmal gewordenen Mund gab es Züge, die ihn älter scheinen ließen, als er war: Spuren ausgehaltener Leiden, eines langen Trotzes, standhaft ertragener geistiger Einsamkeit.

Kikjou bemerkte: »Er sieht überanstrengt aus. Wie schrecklich hart muß dieser Marsch für ihn gewesen sein!« – »Die Erlebnisse, die ihn zu seinem Abenteuer bestimmt haben, waren entschieden noch härter«, versetzte der Engel. »Zu Anfang war er für die Nazis, mit gewissen Vorbehalten. Er schimpfte auf die Emigranten; an Freunde, die das Land verlassen hatten, schrieb er ziemlich kränkende Briefe. Das war 1933. Damals wollte er sich dem neuen Staat zur Verfügung stellen, er war voll guten Willens, sehr unwissend und zu allem bereit. Wie lange hat es gedauert, bis ihm die Augen aufgegangen sind! Welch zäher, komplizierter Prozeß – und wie peinvoll es war! Enttäuschungen ohne Ende; eine Qual, die niemandem anvertraut werden durfte; Ernüchterung, Beschämung, schließlich Ekel, Zorn und Aufbegehren – eine lange Geschichte. Sie trug sich zu, während ihr Heimatlosen durch die Kontinente gejagt wurdet. Ihr wart beschäftigt mit dem eigenen Schicksal: der Roman eures Lebens war kompliziert und schmerzlich genug. Die Grenzen, die euch von Deutschland trennen, sind unübertretbar. Dahinter ist für euch verfluchte Gegend; nur in Alpträumen werdet ihr hinversetzt. Es atmen aber dort Menschen, viele von ihnen leiden, sind heimatlos in der Heimat, man nennt sie ›die innere Emigration‹. Ich, Schutzpatron der Expatriierten, kümmere mich auch um sie. Gestern, zum Beispiel, machte ich Visite bei einem Mädchen, das du früher gekannt hast, ihr Name ist Dora Proskauer.« – »Ich erinnere mich«, sagte Kikjou. – »Sie sitzt immer noch im Gefängnis.« Es klang tadelnd, als wäre auch Kikjou ein wenig schuld an Doras großem Malheur. »Sie hat es relativ gut, im Konzentrationslager wäre es schlimmer. Aber wie langsam ihr die Zeit vergeht! Sie wartet, die Linie ihres Nackens wird immer schräger, sie geht gebückt, als trüge sie Lasten; sie trägt Lasten, unermeßlich schwere – trägt sie tapfer, bleibt geduldig, voll Zutrauen, voll Hoffnung – das brave Ding. Als sie im Schlafe lag, habe ich ihr ins Ohr geflüstert, daß Walter Konradi, ihr Liebhaber und Verderber, noch bitterer büßen muß als sie selber. Seine Parteigenossen und Auftraggeber haben ihn eingesperrt und quälen ihn langsam zu Tode. Er hat irgendeinen Fehler gemacht, er wollte auch sie verraten, sie kamen ihm hinter die Schliche, sie verzeihen ihm nicht …«

Kikjou sah ihn vor sich, diesen Walter Konradi, einen Schuft. »Er war auf dem Friedhof, als Martins Urne beigesetzt wurde. Die Schwalbe hat schön geredet; der Hund, der Spion stand dabei. Damals beschloß er, Martins Eltern anzuzeigen. – War die arme Dora ein wenig erleichtert, als du ihr vom Ruin des Elenden berichtet hast?« – »Einerseits erleichtert; andererseits auch bestürzt. Er ist der einzige Mann, mit dem sie jemals im Bett war. Sie hängt an ihm. Sie haßt ihn und kommt nicht von ihm los. Sie glaubt immer noch, er habe nicht nur gelogen, als er ihr Liebe schwor. Es klang ihr süß, sie kann es nicht vergessen.« – »Schrecklich!« sagte Kikjou.

Sie schwebten in einiger Entfernung neben Dieter, dem Deserteur. Der Engel der Heimatlosen – Freund und Kenner auch der inneren Emigration – nickte kummervoll. »Ja, ja – nicht nur im Exil wird gelitten. Nicht die Vertriebenen allein erfahren, wie bitter Einsamkeit ist und wie müde es macht, langen, zähen Widerstand zu leisten gegen die Macht, von der doch alles teils entzückt, teils eingeschüchtert scheint. – Bildet euch nicht zuviel ein auf eure Abenteuer!« riet der Engel der Heimatlosen. »Wenn ihr zurückkehrt, werdet ihr auf den Gesichtern eurer daheimgebliebenen Kameraden Zeichen finden – jenen sehr ähnlich, die ihr selber tragt.« – Der Engel schien zu vergessen, daß dem Jüngling an seiner Seite keinerlei Heimkehr bestimmt war. Der Gespiele und künftige Chronist der Emigranten war so gänzlich ohne Bindung und Vaterland – wie der Engel, der ihn geleitete. Sollte Kikjou ihn auf den kleinen Irrtum aufmerksam machen? War es angebracht, ihn zu erinnern: Ich bin in Rio de Janeiro geboren, muß nächstens dorthin zurück, gedenke nicht dort zu bleiben, empfinde diese Reise nicht als Nachhausekommen? – Der Vaterlandslose, Wurzellose, der Schwebende, Entrückte, Fremde, Teilnahmsvolle – schwieg. Es gefiel ihm, schmeichelte ihm, tat ihm wohl, mit den deutschen Flüchtlingen verwechselt zu werden. So gehörte er doch zu einer Gemeinschaft.

Der Engel zeigte auf Dieter. »Dieser junge Mann dort auf dem glatten Pfad – schau ihn dir an und du erkennst das Zeichen. Das Stigma der Heimatlosen – nicht im Exil, in der fremd gewordenen Heimat hat er sich’s erworben!«

»Warum ist er denn gerade heute ausgerückt?« fragte Kikjou. »Fast sechs Jahre hat er es ausgehalten – und plötzlich macht er sich auf und davon!«

»Weil man in Deutschland den Krieg erwartet – weißt du das nicht? Sie meinen, ihr Führer wolle sie marschieren lassen wegen der Sudeten, und weil das Reich noch größer werden muß. Niemand ist begeistert, am liebsten möchten alle desertieren, aber nur wenige haben den Mut. Dieter setzt alles auf eine Karte. Sein Leben wäre gefährdet, auch wenn er im Lande und gehorsam bliebe. Lieber riskiert er es für die Freiheit. – Er wird es bewahren!«

Dies rief der Engel mit entzücktem Nachdruck; gleichzeitig aber erschreckt. Denn der Deserteur – der neue Heimatlose – stolperte, schwankte, hatte keinen Halt mehr auf dem glatten Pfad: er würde stürzen, ihm zur Seite ging es schauerlich in die Tiefe. Da zeigte der Engel, wie geschwind er flattern konnte, wenn es darauf ankam. Ein Flügelschlag nur, mächtig rauschend – und er hatte den Taumelnden schon erreicht; er stützte ihn, hielt ihn; er bewahrte ihn vor dem Fall.

»Du sollst nicht untergehen!« versprach er – inständig, wenngleich lautlos – seinem neuen Schützling. »Ich atme dich freundlich an, ich gebe dir neue Kraft! Du vollendest die riskante Gletschertour, du gewinnst die Freiheit, ich will es. Die Schluchten, voll schwarzer Schatten, locken dich. Du widerstehst. Du bist tapfer. Dein Roman ist noch nicht zu Ende, nur der erste Teil ist abgeschlossen – der war lang genug, fast sechs Jahre lang. Du und ich kennen seine bitteren Kapitel – eines Tages werden sie der Welt bekannt, vorher muß viel geschehen. Die Geschichte all deiner Irrtümer und ihrer langsamen Überwindung ist stumm und rätselhaft hineinverwoben in den Roman der Heimatlosen. Zwei Linien, zwei mit Energie geladene Kurven liefen parallel: die Kräfte der inneren und der äußeren Emigration wollen sich nun verbinden. Vereinigt sollen sie wirken – dies ist die Stunde, euer Engel kennt sie, er darf nicht dulden, daß ihr sie versäumt. – Siehst du den Pfad, mutiger Deserteur? Es ist dunkel, aber ich habe deine Augen mit meinen Fingern berührt, sie durchdringen die Nacht. Leb wohl – ich lasse dich jetzt! Mein Tagesprogramm ist erfüllt. Dir den Weg zu weisen war heute die schönste Pflicht, und die letzte.«

Der Deserteur dachte froh: ›Es ist etwas heller geworden, auch der Weg ist besser. Das Schwerste liegt hinter mir. Die Grenze muß nah sein. Ich habe es bald geschafft.‹

Der Engel indessen kehrte zu Kikjou zurück, der einsam schwebte und erbärmlich fror. »Warum zitterst du?« fragte der Engel. »Warum schaust du so traurig?« – »Ich habe mich gefürchtet«, sagte der Sterbliche. »Du hättest mich nicht allein lassen sollen – mitten im Schnee, in der dünnen Luft! Du bist so lange bei dem Fremden geblieben. Du magst ihn lieber als mich.« – »Du Verwöhnter!« Der Engel schalt ihn, während er ihn an sich zog. »Du Empfindlicher! Wirst du denn niemals klug?«

Sie hoben sich langsam, den bleichen Gipfeln entgegen. Der Himmel, dem sie sich näherten, war sehr kalt und sehr klar, es gab keine Wolken; auch das komfortable Wolkenfahrzeug des Engels war noch nicht herbeibefohlen. Der Engel regte die Flügel; es schien ihm angenehm und erholend, nach all den Plagen des Tages. Kikjou, seinerseits ohne Schwere, war keine Last in den trainierten Armen des Boten. An seiner gewaltig atmenden Brust ruhte des Sterblichen zartes, zärtliches Haupt. Der Mund des Engels war sanft und klug. Er redete Menschenworte.

»Nun muß ich Bericht erstatten und alle Details dieses Diensttages treulich melden. Mein Herr wird unwirsch, wenn ich nur das Mindeste vergesse. Seine Neugier ist ebenso grenzenlos wie Sein Wissen – das Er sich durch unsere Reporte immer wieder bestätigen und gleichsam auffrischen läßt. Er ist sehr pedantisch, bei all Seiner Majestät …« – Nicht anders klatschten Beamte über den Vorgesetzten. Der Engel, müde und gutgelaunt, ließ sich ein wenig gehen vor dem Menschenkind, das er trug. »Von unseren Reporten wird erwartet, daß sie sowohl umfassend sind als auch knapp«, sagte er noch. »Kein leichtes Amt«, schloß er seufzend; gleichzeitig aber stolz.

»Der Herr interessiert sich für unsere Angelegenheiten?« – Kikjou schien es nicht recht glauben zu wollen.

»Für jede Winzigkeit«, erklärte der Bote, selber ein wenig erstaunt über das Ausmaß Höchster Wißbegierde.

Kikjou fragte: »Was hat er mit uns vor?« – Auch die Sterblichen wüßten gern dies und das; können freilich nicht gleich Blitze schleudern, wenn die präzise Antwort auf sich warten läßt.

Der Engel lächelte geheimnisvoll. »Er hat Pläne und Absichten …«

Man war auf der Höhe der Gipfel. Zwischen bleichen Zacken, in dünner, eisiger Luft lustwandelten der künftige Romancier und sein Engel. Unter ihnen: die Schluchten, schattenschwarz; die schmalen, eilenden Bäche, die Gletscherfelder, die glatten Pfade; unter ihnen – der junge Mensch aus Deutschland, Dieter, ein Deserteur.

»Freundliche Absichten?« examinierte der Sterbliche seinen Engel. »Gute Pläne? Gnädige Konstruktionen?«

Der Bote nickte. »Sehr gnädige Konstruktionen. Absichten von schier unvorstellbarer Freundlichkeit.«

»Aber wir kennen sie nicht«, sagte Kikjou. »Es bleibt alles verhüllt.«

Der plauderhafte Abgesandte erklärte: »Ihr sollt sie erraten, sollt allmählich dahinterkommen – dies erwartet der Herr. Oft grämt und wundert Er sich, weil ihr dermaßen störrisch seid, und so schwer von Begriff! Ich habe Ihn schon fassungslos gesehen – fast entmutigt durch die frevelhafte Blödheit Seiner Kreatur. Niemand kann es Ihm verübeln, daß Er zuweilen die Geduld verliert – so widerspenstig und ahnungslos, wie ihr euch verhaltet. Vor allem Neuen scheut und bockt ihr und versucht, ihm auszuweichen – ohne den schönen Plan darin zu erkennen. Dann wird der Herr sehr betrübt. Riesige Schatten verfinstern Ihm Blick und Stirn – ich kann dir sagen, das Herz zerspringt einem, wenn man’s sieht. Wir singen Hymnen, umkreisen tanzend Seinen glühenden Stuhl, probieren es mit jedem Schabernack, allen spaßigen und ehrfurchtsvollen Gesten – um die große Dunkelheit zu verscheuchen, die auf dem Angesicht des Vaters liegt. Ach – wir strengen uns umsonst die Kehlen an, mit emsigem Jubilieren! Die Gottesstirn bleibt verfinstert.«

Dies erschütterte Kikjou und machte ihn sehr beklommen. »Wenn sogar die Höchste Instanz oft den Mut verliert – welche Hoffnung bleibt uns, Seinen schwachen, fehlbaren Geschöpfen?«

Der Engel sprach: »Euch bleibt große Hoffnung. Die Tatsache, daß der Liebe Vater Sich um euretwillen solcherart grämt und erzürnt, beweist Seine innige Teilnahme – die in der Tat jedes erdenkliche Maß überschreitet. Er produziert Tag und Nacht neue Projekte – alle euch betreffend. Er will euch Störrischen auf den rechten Weg zwingen.«

»Wenn Seine Politik uns gegenüber nur nicht so schrecklich undurchsichtig wäre!« klagte Kikjou. »Zu gewissen Zeiten scheint sie nur aus Willkür und Grausamkeit zu bestehen!«

»Willkür und Grausamkeit!« Der Engel wurde sehr ernst – dies ging entschieden zu weit. »Da sieht man, wie sich eine Undankbarkeit, die ans Rebellische grenzt, mit fast idiotischem Mangel an Intelligenz garstig bei euch verbindet! – Hat Er euch nicht Seinen Sohn geschickt, damit es nur weitergehe und der Prozeß eurer Selbsterlösung nicht stocke? – Sohn und Vater sind fast die gleiche Person – es scheint unpassend, zwischen ihnen zu unterscheiden. Wir im Paradiese nennen und lobpreisen die Zwei-Einheit in einem Atem. Er tat dies Äußerste und Liebevollste; Er litt, wie unter euch nur der Ärmste; Er trug das Kreuz; Er schmeckte Gallenbitteres auf Seiner Zunge, in den Triumph Seiner Auferstehung nahm Er das Aroma von Blut und Essig mit. Solches nahm Er auf Sich – höchst überlegter, kluger, inniger Weise – und ihr sprecht von Willkür, Grausamkeit!«

»Es ist nichts besser geworden«, sagte traurig der Sterbliche. »Du weißt doch, wie sehr und stark ich meinen Erlöser lieb habe und ihm ganz vertraue. Um der historischen Wahrheit willen aber bleibt zu konstatieren: Nichts ist besser geworden, seit er schmachtete, verging und strahlend auferstand.«

Der Engel, nach kurzer Pause: »Das liegt an euch – nur an euch. Er hat euch Verhaltungsmaßregeln hinterlassen, die sind sehr schön und tief. Manches von den Plänen und Absichten ist in sie eingegangen – faßlich gemacht, eurem intellektuellen Niveau pädagogisch angepaßt. Jedes Kind könnte verstehen, was der Liebe Vater drastisch andeutete, durch den menschlich gewordenen Mund des Sohnes – der als Nazarener unter euch ging und litt. Die Kinder haben es wohl begriffen. Aber die Erwachsenen! – Ihr seid scheußlich störrisch.« – Der Bote schien es kaum noch eilig zu haben mit seinem Aufflug und mit dem Bericht vor der Höchsten Instanz. Er verzögerte sich, zwischen den bleichen Gipfeln – sei es, weil die Unterhaltung ihn ablenkte und ergötzte; sei es, weil er auch dieses Gespräch noch einbeziehen und verwenden wollte in seinem knappen und umfassenden Rapport.

»Und deshalb werden wir gezüchtigt?« fragte der Mensch.

Der Engel klärte ihn auf: »Von Züchtigung kann nicht die Rede sein. Der Herr verhängt Unannehmlichkeiten über euch, damit ihr nur aufwacht – ihr Schläfrigen! Damit ihr euch der Pflichten bewußt werdet und dem Neuen eifriger dient, werdet ihr in Abenteuer gestürzt. Er versucht alle Mittel, zwecks Beschleunigung des Prozesses – die sanften wie die weniger glimpflichen. Krieg und Pestilenz, jede Art von Ruin, jede Form des Schmerzes, der Erniedrigung – lauter erzieherische Tricks, im Sinn und Dienst der gnadenvollen Heilskonstruktion.«

»Und die Heimatlosigkeit, der Verlust des Vaterlandes?« erkundigte sich Kikjou. »Das gehört auch zu den – ›Tricks‹, wie du Maßnahmen so radikaler Art zynischerweise bezeichnest?«

Der Engel bestätigte mit ungerührter Miene: »Auch die Heimatlosigkeit – und gerade sie! – Die Seßhaften, Besitzenden, Satten sind oft die Dümmsten und durchaus störrisch, was das Neue, den Heilsprozeß Fördernde betrifft. Sie machen sich zu Saboteuren der Pläne und Absichten – wodurch sie zum Skandal werden vor der Höchsten Instanz. – An maßgebender Stelle neigt man zu der Ansicht, daß der Schmerz euch sowohl feinfühliger als auch tapferer mache. Der Umgetriebene, Unbehauste, Überallfremde hat vergleichsweise gute Chancen, dem Allerhöchsten Plan gerecht zu werden. Ihr sollt mutig sein; denn die Väterliche Konzeption eurer Vollendung, der Göttliche Wille zur Utopie, ist nicht nur sehr vernünftig, sondern auch verwegen. Seid verwegen! Das Leben, das ihr aufs Spiel setzen könnt, ist keine so große Sache. Mit einem Schwerte wurdet ihr vertrieben aus dem Paradies; mit einem Schwerte sollt ihr es zurückerobern. Ihr müßt euch die Heimkehr erkämpfen, ihr Heimatlosen! Er bevorzugt die flammenden Herzen – denn Sein Element ist das Feuer, Sein wehender Odem ist Glut.

Die Lauen sind es, die Er aus dem Munde speit. Wer gar zu lange traulich hockt, in der Heimat, wird lau und lahm: es ist beinah unvermeidlich. Deshalb schickt der Liebe Vater euch auf Wanderschaft. Den Staub vieler Landstraßen sollt ihr schlucken, das Pflaster vieler Städte sollt ihr treten, viele Meere sollt ihr überqueren, und auch durch Wüsten führt der lange Weg. Alle Erkenntnisse und Impressionen, die ihr sammelt, könnten, in ihrer Summe, eine erste, leichte Ahnung von den Absichten und Plänen ergeben – auf dergleichen hofft der Herr. Es ist ein Väterliches, Königliches Experiment: natürlich kann es mißlingen. Bleibt ihr stumpf und störrisch? Das wäre peinlich – besonders für mich, euren Schutzpatron. Bereitet sich die ahnungsvolle Erkenntnis, und ihre couragierte Umsetzung in Aktion, bei ganz anderen vor, während gerade ihr, denen man so exquisite Chance gibt, euch kosmisch blamiert? – Tut mir doch das nicht an! Wovon sollte ich dann berichten? Die variablen Symptome der Entwurzelungsneurose sind kein ergiebiges Thema. Schließlich bin ich kein Mediziner …«

Dabei fiel ihm endlich der Rapport wieder ein, der auf glanzumflossenem Fauteuil mit grimmiger und liebevoller Ungeduld erwartet wurde. – Wie leicht versäumen sich Boten – selbst solche, die für gewissenhaft gelten! Sie schwatzen und schweben, aus Zärtlichkeit für die Kreatur. Der Liebe Vater bleibt eine Weile unbelehrt über Tun und Lassen, Unfug und Martyrium Seiner Sorgenkinder – weil es Seinem Diener gefällt, einem hübschen kleinen Sterblichen zu imponieren mit Weisheitsbrocken, die vom Flammenstuhl zu den Heerscharen fallen. Durch ein Lächeln, einen Blick, eine Träne, durch eine huschende Verfinsterung auf der Stirn, verrät der Herr zuweilen, was Er lieber für Sich behielte. Die Engel aber schnappen alles auf; vielleicht mißverstehen sie manches oder interpretieren es in ungehöriger Weise. Sie tragen es geschäftig weiter, in die Menschenwelt. Göttliche Andeutungen, ein Nicken, Winken, Schluchzen, versuchen sie in Menschenworten auszudrücken – die Formulierung bleibt ungenügend; das Resultat ist konfus.

Was sollte Kikjou anfangen mit dem fragmentarischen Bericht vom Flammensitz – ihm zugeflüstert, zugeraunt, zwischen den bleichen Gipfeln? Er war enttäuscht und verwirrt zugleich. Das Gehörte reizte ihn zum Widerspruch – die Kreatur ist rebellisch! – er spürte aber auch, daß es sein Fassungsvermögen wesentlich überstieg. Sein schweres, irdisches Herz ward noch schwerer; es zog ihn hinab – während der pflichtvergessene Herold seinerseits sich geschwind entfernte. Kikjous Füße berührten festen Grund: er wußte nicht genau – war es schon der steinerne Boden seiner vertrauten Zelle oder noch das Gletschereis, das wir ewig nennen und das auch einmal schmilzt.

Es tat ihm wohl, wieder auf eigenen Füßen zu stehen; Gewicht und Reizbarkeit seines Leibes wieder lebendig zu spüren. Er kniff sich selbst in den Arm und war froh, daß es weh tat. Sein Herz war ruhig und voll Freude.

Woher kam solcher Trost? Noch aus den Worten des Engels – die doch eher quälend gewesen waren? Oder tröstete nur die Heimkehr ins Irdische, das Ende von Flug und Entrückung? – Unser Körper ist schadhaft und plump, auch wird er zu Staub zerfallen: man sei immer drauf gefaßt! Indessen ist er das einzige, was wir haben; sonst kennen wir nichts. Die Pläne und Absichten des Lieben Vaters bleiben an unseren Körper gebunden – der freilich auch Geist ist und mit seiner Schönheit und Erbärmlichkeit Teil von Gottes Substanz.

Löst und erlöst sich das Materielle, an jenem Tag der Verheißung, da die Pläne und Absichten endlich sich erfüllen dürfen? Sehr wohl möglich – der Flügelherold hat dergleichen angedeutet, wenngleich in ungenügender Formulierung. Mögen Engel eine etwas stammelnde Konversation über das Letzte, Fernste, Äußerste machen! Was uns betrifft, wir haben andere Sorgen – sie liegen näher; bleiben aber trotzdem im Zusammenhang mit gewissen väterlich-ehrgeizigen Intentionen.

Unser irdisches Heil ist wichtiger als das Heil unserer Seele: vielmehr, eines ist gar nicht zu trennen vom anderen. Denn der Liebe Herr vom Flammenthron identifiziert sich mit der Kreatur: Solches Maß hat Seine Gnade, und Seine Liebe ist so riesenhaft. Inmitten des Geschaffenen schlägt Sein schaffendes Herz. Unsere Schritte führen auch Ihn zum Ziel. Unser Sieg ist immer auch der Seine, unsere Entwürdigung wird Seine Schmach. Wer im Irdischen frevelt, hat auch Ihn verletzt. Er stöhnt in Qualen, wenn ein Mensch dem anderen wehe tut. Seine Kreaturen zerfleischen sich – und Er blutet aus tausend Wunden.

Er vergißt nicht, verzeiht nicht. Wer den Skandal vergißt, mit dem Unerträglichen sich abfinden möchte, ist selbst schon Greuel. Die schlauen Saboteure Höchster Pläne und Intentionen sollen vernichtet sein. Ein Blick trifft sie aus der Flammensphäre – er bedeutet Fluch. ›Ihr seid mir ärgerlich!‹ sagt der furchtbare Blick. Der Rest bleibt uns überlassen. Unseres Amtes ist es, das Ärgernis auszureißen, samt der Wurzel.

Es ist unsere Erde; wir tragen die Verantwortung – was immer hier geschieht. Das Übel, das die Menschenwelt verdirbt, ist zäh, nimmt auch höchst mannigfache Formen an. Einem wuchernden Pilz gleicht das Ärgernis; wir zertreten es – schon wagt es sich an anderer Stelle hervor. Zuweilen aber bekommt der wuchernde Skandal das Ausmaß einer universalen Provokation. Dann stinkt die Schöpfung; der Liebe Vater ist nicht nur sorgenvoll, sondern auch degoutiert.

Von uns verlangt Er dann: Handelt! Protestiert! Schreitet ein! – Er ruft die Kreatur zur Aktion, damit das kolossale Stinken nur endlich aufhöre.