Loe raamatut: «Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert», lehekülg 13

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Auswirkungen des Krieges

Der Erste Weltkrieg bescherte den monarchistischen Patrioten und ihrem Russland das Gegenteil dessen, was sie erwartet hatten: Am Ende wurde das zaristische System unwiederbringlich beseitigt. Da die großrussischen Nationalisten aller Schichten den Ausbruch des Krieges mit Eruptionen vaterländischen Enthusiasmus begrüßten, dachte die konservative Regierung, die Teilnahme daran werde die Einheit Russlands stärken. Doch die militärischen Resultate waren kläglich: Man errang ein paar Siege über die Österreicher, erlitt aber seitens der deutschen Armee eine Niederlage nach der anderen. So bewirkte der Waffengang das Gegenteil dessen, was man erhofft hatte: das Volk war enttäuscht angesichts der schwachen Leistung der semikonstitutionellen Autokratie. Unterstützer der Monarchie bestürzte die Unfähigkeit des ZarenNikolaus II. und seiner in rascher Folge einander ablösenden Kabinette; liberale Angehörige der Duma erzürnte die schlechte Organisation der Bürokratie, denn durch die mangelnde Koordination wurde die Kampfkraft beeinträchtigt. Die arbeitenden Massen auf den Feldern und in den Fabriken wiederum entsetzte die krasse Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen. Kaum waren die angesammelten Vorräte erschöpft und die ersten Truppen dezimiert, legte der Krieg offen, wie unzureichend sich die zaristische Gesellschaft modernisiert hatte.1 Statt Russland gegen einen äußeren Feind zu einen, verschärfte er das innere Gegeneinander.

Was zunächst wie vielsprechende Kriegsanstrengungen aussah, zerfiel nach und nach, als der Konflikt sich über mehrere Jahre hinzog. Da die Russen mehr fürs Militär ausgegeben hatten als die Deutschen, war ihr Arsenal an Waffen, auch das an Artillerie, durchaus beeindruckend, und ihre Mobilisierungspläne erwiesen sich als überraschend effektiv. Fast fünfzehn Millionen Arbeiter und Bauern hatte man zur Armee gezogen, wo bürgerliche Offiziere sie befehligten; die oberste Führung lag in den Händen adeliger Generäle. Als jedoch die Lagerbestände zur Neige gingen, immer mehr Soldaten fielen oder in Gefangenschaft gerieten und auch das Offizierskorps sich ausdünnte, war der zaristische Staat unfähig, die Verluste nachhaltig zu kompensieren. Obwohl man die Steuern erhöhte, führte die Umstellung auf Kriegswirtschaft zur schleichenden Inflation. Da man so viele Landarbeiter einberufen und so viele Pferde requiriert hatte, nahm die Produktion von Nahrungsmitteln drastisch ab; schließlich mussten sie rationiert werden. Zwar fertigten die großen Fabriken genügend Gewehre und Granaten, doch das russische Transportsystem brachte sie nicht rechtzeitig an die Front, was die Offensiven des Heeres in entscheidenden Momenten lähmte. Obwohl Russland manpower in Fülle besaß, versagte es dabei, hinreichend Nachschub zu organisieren, und konnte einem sich hinziehenden Abnutzungskrieg nicht standhalten.2

Nun folgte eine Niederlage der anderen, was innerhalb der militärischen Führung Verwirrung auslöste und die Moral der Soldaten an der Front untergrub. Obwohl die zaristische Armee das Heer der Habsburger zweimal schlagen konnte – im Herbst 1914 und Sommer 1916 –, verlor sie meistens gegen die Deutschen, weshalb sie sich nach und nach aus Polen und den baltischen Ländern zurückziehen musste. Kreise der zivilen Gesellschaft daheim versuchten es mit Eigeninitiative: Man bildete ein nationales semstwo-Komitee, das Sorge dafür tragen wollte, dass mehr Waffen produziert und diese dann rascher zur Front gebracht sowie an die Kämpfenden verteilt wurden. Dies aber verbrauchte lebenswichtige zivile Ressourcen und scheiterte oft an administrativer Inkompetenz, die sich hier einmal mehr offenbarte. Gerüchte gingen um, bei den russischen Soldaten würden die Gewehre knapp; sie hätten daher Weisung, sich die Waffen ihrer Kameraden zu nehmen, die während der Angriffe gefallen seien. Frische Rekruten stürmten herbei, die durch die Verluste entstandenen Lücken zu schließen; nur waren sie meist sowohl ungenügend ausgebildet als auch schlecht ausgerüstet, und es fanden erschreckend viele von ihnen bald den Tod. So kam es, dass nicht wenige einfache Soldaten und Unteroffiziere ihre Moral verloren. Einige verweigerten gar den Gehorsam und mussten mit vorgehaltenen Maschinengewehren in den Kampf gejagt werden.3 Als Berichte von solchen schlimmen Geschehnissen die Heimatfront erreichten, verflüchtigte sich bei vielen der Patriotismus. Stattdessen wuchs der Zorn auf die Befehlshaber ebenso wie die Überzeugung, dass nur eine radikale Veränderung dem schier endlosen Gemetzel Einhalt gebieten könne.

Die zaristische Regierung erwies sich als unfähig, der Situation abzuhelfen, weil sie sich selbst gewissermaßen in Auflösung befand. Nach dem Fall Warschaus im Sommer 1915 fasste Zar Nikolaus II. Nikolaus II.den verhängnisvollen Entschluss, an die Front zu gehen und selbst den Oberbefehl zu übernehmen. Das war ein Fehler, denn dadurch war er nun für jede künftige Niederlage persönlich verantwortlich; außerdem hinterließ sein Fortgang ein politisches Vakuum in der Hauptstadt. Obwohl die Duma damals nur sporadisch tagte, kritisierten deren Sprecher die Regierung immer häufiger und heftiger. An der Spitze der Letzteren standen damals schwache Minister wie Boris StürmerStürmer, Boris und Alexander ProtopopowProtopopow, Alexander, deren Kompetenz sogar in herrschenden Kreisen bezweifelt wurde. Um eine »Regierung des öffentlichen Vertrauens« zu schaffen, organisierten die Deputierten den sogenannten Progressiven Block – aber der Zar verweigerte ihnen die volle Parlamentarisierung der Regierungsentscheidungen, weil sie eine Einschränkung seiner autokratischen Macht bedeutet hätte. Immer tiefer wurde der Konflikt zwischen den Staatsbürokraten, die unbedingt die Kontrolle behalten wollten, und den Repräsentanten einer Bürgergesellschaft, die bereits ihre eigenen Komitees zur Förderung der Kriegsindustrie organisierten. Bis November 1916 hatten sich die Fehlleistungen der Regierung in einem Maße gehäuft, dass dem liberalen Abgeordneten Pawel MiljukowMiljukow, Pawel der Ruf entfuhr: »Was ist das? Dummheit oder Verrat?«4

Ein Teil des Problems war die Einmischung der Zarin AlexandraAlexandra in die politischen Geschäfte. Sie versuchte, in Abwesenheit ihres Gatten Hof und Regierung zu führen. Als Enkelin der britischen Königin VictoriaVictoria I. gehörte sie zum höchsten Adel, aber das russische Volk verabscheute sie zutiefst, sowohl wegen ihrer deutschen Herkunft als auch wegen ihrer reservierten, distanzierten Art. Außerdem redete sie beständig in Personalentscheidungen hinein, sorgte für die Ernennung oder Entlassung ihrer Favoriten, ohne hinreichend nach deren Fähigkeiten zu fragen. Das gravierendste Problem aber war AlexandrasAlexandra Verbindung zu dem Mönch und Mystiker Grigori RasputinRasputin, Grigori, der behauptete, er könne der Bluterkrankheit ihres Sohnes, des Kronprinzen AlexejAlexej, Einhalt gebieten. Der Glaubensheiler führte ein ausschweifendes Leben mit viel Alkohol und Sex; gleichzeitig verschaffte er Vertrauten hohe Posten und griff in Regierungsgeschäfte ein. Aber da keine schulmedizinische Therapie das Blut ihres Sohnes zum Gerinnen bringen konnte, mochte die ZarinAlexandra sich von RasputinRasputin, Grigori nicht lossagen, obwohl die Hauptstadt von Gerüchten um seine Missetaten geradezu überquoll. Im Dezember 1916 versuchten daher Fürst JussupowJussupow, Felix und ein paar weitere Aristokraten, RasputinRasputin, Grigori zu töten: Sie gaben ihm Gift, schossen auf ihn und warfen ihn ins Wasser; sie wollten Würde und Glaubwürdigkeit der Krone zumindest ein wenig wiederherstellen.5 Doch als der MönchRasputin, Grigori infolge des Attentats verschied, war der Schaden schon irreparabel.

Am 23. Februar 1917 verlor das Volk endgültig die Geduld. Der Winter war grausam kalt gewesen und die Lebensmittelversorgung in PetrogradSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) zusammengebrochen. Am internationalen Frauentag demonstrierten neben streikenden Metallarbeitern zornige Hausfrauen, denen sich Textilarbeiterinnen anschlossen, und forderten mehr Brot für ihre darbenden Familien; einige Frauen plünderten Bäckereien und holten sich Mehl. Am nächsten Tag wuchs die Menge auf 150 000 Menschen an, die wiederholt mit der Polizei aneinandergerieten; ein paar Demonstranten wurden erschossen. Aus Solidarität mit den Protestlern proklamierten die Gewerkschaften einen Generalstreik, der die russische Hauptstadt lahmlegte. Die Menge begann zu rufen: »Nieder mit dem Zaren!«, »Nieder mit dem Krieg!« Schließlich befahl der auswärts weilende ZarNikolaus II. seinem Militär, für Ruhe zu sorgen. Aber die Protestierenden skandierten: »Sie schießen auf unsere Mütter und Schwestern!« Tatsächlich feuerten Polizei und Teile der Regierungstruppen einfach in die Menge. Abgestoßen von deren Brutalität, begannen andere Soldaten, darunter die kosakische Kavallerie, die Seiten zu wechseln und auf ihre Offiziere anzulegen.6 Als auch seine Armee ihm nicht mehr gehorchte, brach die Macht des ZarenNikolaus II. zusammen. Aus Brotkrawallen und Streiks war eine echte Revolution geworden; sie ging in die Geschichte ein als »Februarrevolution«.

Nach dem Sturz der zaristischen Autokratie stellte sich die Frage, wie die revolutionäre Ordnung organisiert werden sollte, um einer Anarchie vorzubeugen. Der loyalistische Generalstabschef Michail AleksejewAleksejew, Michail war bereit, auf PetrogradSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) zu marschieren; aber die Unruhe hatte sich schon so weit verbreitet, dass ihm nur eines übrigblieb: den Zaren opfern, um die Armee zu bewahren. Führende Duma-Deputierte wie Pawel MiljukowMiljukow, Pawel und Alexander GutschkowGutschkow, Alexander regten an, die Monarchie zu retten, indem man sie in ein konstitutionelles System umwandelte, aber Nikolaus II. Nikolaus II.war bereits so diskreditiert, dass er zurücktreten musste. Das Volk fand mehr und mehr Gefallen daran, die Straßen zu beherrschen, und erzwang letztlich einen drastischeren Wandel. Nach dem 1905er Organisationsmuster hatten die Protestler revolutionäre Räte gebildet, gewählt in Fabriken, in Militäreinheiten und auf dem Lande. Innerhalb dieser Deputierten-»Sowjets« rivalisierten die agrarisch orientierten Populisten der Sozialrevolutionäre (SR) mit Sozialdemokraten (Menschewiki) und radikalen Kommunisten (Bolschewiki) um die Macht. Schließlich kam die moderate Duma ebenfalls, wenn auch schwerfällig, in Gang und konstituierte eine »Provisorische Regierung« unter dem semstwo-Führer Fürst Georgij LwowLwow, Georgi. In einer informellen Arbeitsteilung, genannt »Doppelherrschaft«, übernahm die Duma die Aufgabe, zu regieren und eine Verfassung zu erstellen, während der Petrograder Sowjet, zusammengesetzt aus revolutionären Abgeordneten, die Interessen des Proletariats zu verteidigen suchte.7

In vielfacher Hinsicht war die Februarrevolution eine Volkserhebung wie der »Völkerfrühling« von 1848.8 Die autokratische Ordnung kollabierte unter der Belastung des aussichtslosen Krieges; dass der Zar inkompetent war, räumten sogar die Anhänger des Systems ein. In der Duma dominierten die Mittelschichten, denn ihre Abgeordneten waren in Wahlen bestimmt worden, an denen nicht alle Russen gleichberechtigt hatten teilnehmen dürfen. Diese Körperschaft wollte eigentlich nur mehr Mitspracherecht in den laufenden nationalen Angelegenheiten, zeigte sich aber schließlich bereit, die Gründung einer Republik zu wagen. Es waren aber wesentlich die rebellischen Massen, die bewirkten, dass die Autokratie stürzte: Frauen, Arbeiter und Soldaten, die »Brot und Frieden« forderten. Auch die Armee hatte als zuverlässige Stütze des Regimes ausgedient, als die militärische Disziplin zusammenbrach und die Angehörigen der niederen Ränge unter der Leitung von Feldwebeln die Macht in ihre Hände nahmen. Die bourgeoisen Liberalen verlangten lediglich eine Verfassung, die die Bürgerrechte garantierte, dazu eine Marktwirtschaft und Verbesserungen im Bildungsbereich – kurz: sie wollten eine Modernität westlicher Art für Russland. Die seit langem leidenden Massen jedoch, die besonders während des Krieges Ausbeutung, Hunger und viele Todesopfer hatten erdulden müssen und deswegen Groll und Hass hegten, forderten radikalere Veränderungen in der russischen Gesellschaft, ohne recht zu wissen, wie sie ihre Ziele verwirklichen sollten. Da die orthodoxen Marxisten die Meinung vertraten, erst müsse das Bürgertum das Land ökonomisch transformieren, gaben sich die Sowjets zunächst damit zufrieden, der Provisorischen Regierung scharf auf die Finger zu sehen.

Die Provisorische Regierung

Der Zusammenbruch der alten Ordnung bot eine Chance für die liberale Modernisierung Russlands. Aber die Mittelschichten mussten nun den viel weiterreichenden Forderungen der sowjetgelenkten Massen gerecht werden. Zwar war die soziale Basis der Provisorischen Regierung relativ begrenzt, aber offiziell zumindest hielt sie die Zügel der Macht in den Händen, denn den Deputierten der Arbeiter und Soldaten fehlte praktische Erfahrung, mochten sie auch eine höhere revolutionäre Legitimität besitzen. Schließlich einigten sich beide Gruppen Anfang März auf eine informelle Koalition, um jene Ziele zu realisieren, die sie teilten: So wollten beide die alten politischen Zwänge abschaffen, Rede- und Versammlungsfreiheit garantieren, politische Gefangene befreien, eine Verfassung erstellen, Diskriminierung beenden und die Allmacht der Polizei wie der Bürokratie begrenzen. Im ersten Interview, das er als Premierminister gab, verkündete Fürst LwowLwow, Georgi optimistisch: »Ich glaube an das große Herz des russischen Volkes, und ich bin überzeugt, dass es die Grundlage unserer Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit ist.«1 Die Provisorische Regierung hatte erfahrene Leute in ihren Reihen und verfügte obendrein über internationale Unterstützung – dass sie am Ende dennoch scheiterte, kam für die Beobachter in den Hauptstädten der Alliierten überraschend.

Das neue Kabinett entfernte sich mit seinem Personal, dessen Selbstdarstellung und politischer Orientierung allmählich vom Zarismus, wagte aber keinen radikalen Bruch mit der verhassten Autokratie. Premierminister LwowLwow, Georgi, Außenminister MiljukowMiljukow, Pawel und Verteidigungsminister GutschkowGutschkow, Alexander hatten reichlich Parlamentserfahrung und waren es gewohnt, Reden zu halten, Gesetze zu entwerfen und Kompromisse auszuhandeln. Betrachten wir offizielle Fotografien des Kabinetts, sehen wir Herren (keine Dame dabei!) in dunklen Anzügen, respektable Repräsentanten, wohlhabend, gebildet und mit gravitätischer Haltung, als sollte man ihnen ansehen, wie sehr sie ihrer Verantwortung bewusst waren. Politisch kamen sie aus der Mitte und aus der gemäßigten Rechten; die Einschränkungen bei den Wahlen zur Duma hatten zur Folge, dass darin nur wenige Vertreter der unteren Klassen saßen. Der luxuriöse Lebensstil jener Minister isolierte sie von den Leiden der russischen Massen; sie lebten in Landvillen oder noblen Stadtwohnungen und hatten Bedienstete. Ihr politisches Projekt bestand darin, ihr Land zu verwestlichen, eine republikanische Verfassung zu schreiben, die ökonomische Entwicklung zu beschleunigen, die Alphabetisierung voranzutreiben und die Wissenschaften zu fördern – kurz: aus den Russen moderne Europäer zu machen.2 Solchen Führern mochte man einen graduellen Übergang zum Neuen hin zutrauen, aber keine dramatische Revolution.

Im Gegensatz dazu waren die Deputierten des Revolutionsrates Repräsentanten der aktuellen Massenstimmung; ihnen fehlte schlicht die Erfahrung, die man haben sollte, wenn man ein riesiges Land regieren will, noch dazu während eines Krieges. Selbst die Leitriege des Zentralen Exekutivkomitees im Petrograder Sowjet kannte kaum einer; das gilt sogar für Politiker wie Nikolos TschcheidseTschcheidse, Nikolos (Menschewiki) und Alexander KerenskiKerenski, Alexander (SR), immerhin führende Vertreter ihrer Parteien, und bei den Bolschewiki sah es nicht besser aus. Schnappschüsse aus der Zeit zeigen diese Leute mit vor Aufregung aufgerissenen Augen, wie sie in Lastwagen herumfahren oder auf Volksmengen einreden, wobei sie Arbeiterblusen oder Uniformröcke tragen und Gewehre in den Händen halten als Zeichen für ihre neuerrungene Macht. Nicht wenige von ihnen hatten Bildung und einen gewissen Rang erworben – Gewerkschaftsführer etwa oder Unteroffizier –, und doch standen sie dem Volk näher, denn sie hatten wie dieses Kälte, Hunger und Unrecht erlitten. Ihr »Befehl Nummer eins« ordnete die Einrichtung von Soldatenräten an, forderte politische Kontrolle über die Armee und schaffte einige exzessive Härten der militärischen Disziplin ab. Ihre politischen Ideale neigten zu einer egalitären Demokratie mit verbesserten Arbeitsbedingungen, genügend Lebensmitteln für alle und einer Rückkehr zum Frieden – all dies implizierte nicht nur eine politische, sondern auch eine soziale Revolution.3

Der zwischen der Provisorischen Regierung und den Sowjets umstrittenste Punkt war, ob der Krieg fortgesetzt werden solle. In ihm spiegelte sich das Gegeneinander von patriotischen Offizieren und defätistischen Rekruten. In den westlichen Hauptstädten wurde die Februarrevolution mit großem Enthusiasmus begrüßt, denn nun konnte man dort noch leichter und glaubwürdiger propagieren, es stehe eine Front demokratischer Länder gegen die autoritären Mittelmächte. Als bürgerlicher Liberaler wollte Außenminister MiljukowMiljukow, Pawel durchhalten, bis ein »Entscheidungssieg« errungen sei. Dabei werde man, versprach er, die Verpflichtungen gegenüber den Alliierten unbedingt einhalten, wobei ihn freilich auch die Hoffnung umtrieb, die alten expansionistischen Ziele doch noch zu realisieren. Der kriegsmüde Petrograder Sowjet war empört: Er sah keinen Grund, einen Konflikt, den Russland ohnehin verlieren würde, um den Preis weiterer Menschenleben zu verlängern. Die Moderateren in den Sowjets fürchteten nun, dass die Antikriegsdemonstrationen sich zu einem Bürgerkrieg auswachsen würden, und schlugen als Mittelweg den »revolutionären Defensismus« vor: Man solle das Vaterland weiter militärisch verteidigen, die deutschen Invasoren vom russischen Boden fernhalten, gleichzeitig aber auf einen Kompromissfrieden hinarbeiten. Die Krise fand schließlich eine Lösung, die man »Koalition der Vernunft« betitelte: Sechs Angehörige des Sowjets – sämtlich aus den Reihen der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre, darunter KerenskiKerenski, Alexander – traten mit einem Programm der radikalen Demokratisierung ins Kabinett der Provisorischen Regierung ein.4

Gerade als es den Anschein hatte, dass sich die Regierung durch diese Verbreiterung ihrer politischen Basis stabilisierte, begannen die emigrierten Radikalen zurückzukehren, die einen pazifistischeren Kurs befürworteten. Die im Exil lebenden revolutionären Führer hatten die Februarrevolution mit Begeisterung verfolgt, aber auch mit Betrübnis, denn sie hätten so gern an ihr teilgenommen. Inzwischen verfiel man in Berlin auf die Idee, einen der mächtigeren Feinde auszuschalten, indem man für Unruhe an dessen Heimatfront sorgte. Die deutsche Reichsregierung ging dabei so weit, dass sie LeninLenin, Wladimir I. und dreißig seiner Gefolgsleute in einem plombierten Zug aus der Schweiz nach Schweden schmuggelte. Von dort aus konnten sie leicht nach Russland gelangen, wo sie ihre defätistischen Positionen verbreiteten. Anderen, etwa dem Sozialrevolutionär Viktor TschernowTschernow, Viktor, dem Menschewiken MartowMartow, Julius und dem Bolschewiken Trotzki,Trotzki, Leo gelang die Heimkunft ohne fremde Hilfe; wieder andere, so Lew KamenewKamenew, Lew und Josef StalinStalin, Josef, kehrten nun aus der sibirischen Verbannung zurück. Vom russischen Patriotismus abgeschnitten, hatten sich die meisten Exilanten dem linken Flügel der Zweiten Internationale angeschlossen, der den Krieg ablehnte. Ihre Rückkehr nach Russland bescherte den kriegsmüden Massen eine intellektuelle und organisatorische Führung, die sich bemühte, die Räte vom Defensismus abzubringen.5 Während die Mittelschicht den Krieg weiterhin unterstützte, hatten Soldaten, Arbeiter und Bauern jetzt neue Argumente gegen ihn.

Um dem Zerfall der Armee entgegenzuwirken und das Selbstvertrauen der Russen wiederzubeleben, autorisierte der ehrgeizige neue Verteidigungsminister KerenskiKerenski, Alexander eine weitere Offensive. Als moderater Sozialist und Mitglied des Petrograder Sowjets unterstützte er eine Charta der Soldatenrechte; gleichzeitig aber wollte er die Autorität des Offizierskorps wiederherstellen. Mehr noch, er unternahm eine Propagandareise an die Front, und die eloquenten Plädoyers, die er dort für die Fortsetzung des Kampfes hielt, wurden mit Applaus quittiert. KerenskiKerenski, Alexander feuerte auch den bisherigen Oberbefehlshaber und ersetzte ihn durch General Alexej BrussilowBrussilow, Alexej, der als Kommandeur erfolgreicher gewirkt hatte. Am 16. Juni 1917 begann die russische Armee ihren letzten Großangriff in Galizien gegen österreichische Truppen; sie gewann dreißig Kilometer – und das war es. Am 6. Juli starteten vereinte Kräfte der Mittelmächte eine Konterattacke und brachen durch, woraufhin in wilder Hast floh, was nur fliehen konnte. Die russischen Linien lösten sich auf; viele Soldaten, sogar ganze Einheiten desertierten und sahen zu, dass sie nach Hause kamen.6 Statt das Land durch eine revolutionäre levée en masse zu retten, beschleunigte KerenskiKerenski, Alexander eine militärische Niederlage, die die Provisorische Regierung mit zu Boden riss.

Das Kabinett kam nämlich auch in den heimischen Belangen nicht recht voran, denn die Positionen der liberalen und der sozialistischen Deputierten waren prinzipiell unvereinbar. Während die Minister aus der Mittelschicht auf der Respektierung privaten Eigentums bestanden, wollten die Repräsentanten des revolutionären Sowjets die Unternehmerfreiheit beschränkende Schutzrechte für die Arbeiter und Land für die Bauern. In den Fabriken forderten Gewerkschaftssprecher den Achtstundentag, bessere Bezahlung und Mitbestimmung der Arbeiter. Auf dem Lande begannen Bauernräte, den Adeligen Boden, Vieh und Gerät wegzunehmen. An den Rändern des Imperiums erklärten ganze Völkerschaften wie die Finnen, Ukrainer und Balten ihre Unabhängigkeit, von deutschem Militär nach Kräften unterstützt. Da eine der größeren bürgerlichen Fraktionen, die Konstitutionell-Demokratische Partei – informell »die Kadetten« genannt –, die Linksdrift der Regierung missbilligte, traten ihre Mitglieder von ihren Ämtern zurück. Diese erneute Krise wurde erst beigelegt, als KerenskiKerenski, Alexander Premierminister wurde und ein Kabinett um sich scharte, in dem noch mehr Minister aus dem Petrograder Sowjet stammten. Bei den Wahlen zum Petrograder Stadtrat verlor die Kadettenpartei stark und holte nur noch 21 Prozent, die moderaten Sozialisten – Sozialrevolutionäre und Menschewiki – gewannen zusammen 44 Prozent der Stimmen. Ominöserweise legten aber auch die radikalen Bolschewiki zu, die auf 21 Prozent anwuchsen.7

Gegen Mitte des Sommers mehrten sich die Anzeichen, dass die Provisorische Regierung im Begriffe war zu scheitern, und zwar sowohl aus strukturellen als auch aus politischen Gründen. Unkooperative Konservative bremsten sie von oben, unzufriedene Radikale attackierten sie von unten; angesichts dieser Bedrängnis war die russische Mittelklasse einfach nicht groß und mächtig genug, um eine liberale Modernisierung eines so chaotischen Landes allein durchzusetzen. Zwar weigerten sich die Räte zunächst, sich an der Macht zu beteiligen, wobei ideologische Motive ebenso eine Rolle spielten wie das Wissen um die eigene Unerfahrenheit. Und doch wetteiferten sie – keineswegs erfolglos – mit der Regierung um die Gunst des Volkes, indem sie Programme einbrachten, die drastischere Veränderungen vorsahen. Zu den der »Doppelherrschaft« inhärenten Problemen kamen grundlegende politische Fehler. Der gewichtigste war die Entscheidung, den Krieg mit einer weiteren Offensive fortzusetzen, ein verzweifeltes Wagnis, das den Verfall der militärischen Autorität nur beschleunigte, und dies zu einem Zeitpunkt, da die zivile Ordnung zu schwinden begann. Nicht minder bedeutsam jedoch war der Konflikt zwischen den wirtschaftlichen Interessen der Bourgeoisie und denen der Massen: Wollte diese unbedingt das Privateigentum gewahrt sehen, wünschten sich jene ökonomische Erleichterungen durch soziale Reformen.8 Indem sie nicht verstand, dass Brot und Frieden jetzt dringlicher gebraucht wurden als eine neue Verfassung, verspielte die Provisorische Regierung die Chance auf eine demokratische Entwicklung.