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Kurt Anglet

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Zu Arnold Schönbergs Kriegswolkentagebuch

Vier Aufsätze


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 Echter Verlag GmbH

www.echter-verlag.de

Umschlag: Peter Hellmund

Druck und Bindung: Druckerei Friedrich Pustet, Regensburg

ISBN 978-3-429-03422-1 (Print)

ISBN 978-3-429-04609-5 (PDF)

ISBN 978-3-429-06022-0 (Epub)

Inhalt

Vorwort

Zeichen am Himmel

Kinder auf der Landstraße – Kinder spielen Angriff (Franz Kafka; Paul Klee)

Dialektik der Zerstreuung

Das Erkalten der Liebe

Vorwort
Messianische Gegenwart und eschatologische Vollendung

In einem Brief vom 17. November 1935 an Jacques Maritain berichtet Erik Peterson im Anschluss an seinen Vortrag über »Die Kirche aus Juden und Heiden« am 6. November in Basel, wo er als Gast bei Karl Barth weilte: »Ich habe bei 4 Vorträgen, die ich kürzlich in der Schweiz hielt, verspürt, wie sehr man nach einer theologischen Deutung der Vorgänge in der Gegenwart Verlangen hat.« – Gewiss, in dem besagten Vortrag gibt es manche durchaus freimütige Hinweise auf das Zeitgeschehen. Ebenso finden sich entsprechende Bezüge in der gerade abgeschlossenen Abhandlung »Der Monotheismus als politisches Problem. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum« (wir selbst haben sie im Hinblick auf ihre Zeit gedeutet). Doch schon der Untertitel verrät die historische Ausrichtung. Um es vorwegzunehmen: Peterson, der aufgrund seiner Wiederentdeckung der frühchristlichen Eschatologie wie kein Zweiter zu »einer theologischen Deutung der Vorgänge in der Gegenwart« prädestiniert schien, ist trotz mancher scharfsinniger Beobachtungen zum Zeitgeschehen in seinen »Fragmenten« und den erst kürzlich publizierten Tagebuchaufzeichnungen eine theologische, genauer: eine eschatologische Deutung seiner Zeit schuldig geblieben, obwohl er beide Weltkriege als Erwachsener erlebte.

Die Gründe hierfür dürften teilweise im Autobiographischen zu suchen sein; in der einem Exil vergleichbaren Lebenssituation des zwar nicht mehr jungen, so doch jungverheirateten Gelehrten im Rom der Vorkriegszeit. In einem Brief an Gerard van der Leeuw vom 12. Februar 1934 lässt Peterson durchblicken: »Ob ich für immer hier bleiben kann, ist ungewiss, vielleicht muss ich im Herbst wieder nach Deutschland zurück. Ich bliebe am liebsten einige Jahre hier, bis sich die politischen Verhältnisse in Deutschland stabilisiert haben. Es hat sich so vieles ereignet, was ich nicht verstehen kann.« Doch wie sehr die politischen Verhältnisse auch sein Privatleben tangierten, insofern er bald – wie er im selben Brief bereits ahnte – sein früheres Professorengehalt verlieren sollte, so war gleichwohl nicht allein die schier aussichtslose persönliche Lage für eine ausbleibende theologische Zeitdiagnose ausschlaggebend, wie die anschließende Feststellung beweist: »Vielleicht gehöre ich einer Generation an, die schon vergangen ist und die vielleicht niemals ihren [Kairos] gefunden hat.«

Den Kairos nicht gefunden zu haben, bedeutet nicht weniger, als nicht zu wissen, was die Stunde geschlagen hat – ein Aquarell von Paul Klee aus dem Jahre 1936 trägt bezeichnenderweise den Titel »Die Ratlosen«, in englischer Übersetzung: »The perplexed Ones«. – Nichts schlimmer, als wenn es jemand die Sprache verschlagen hat; als wenn keinen Rat weiß, wer um Rat gefragt ist: immerhin gehört der Rat zu den sieben Gaben des Heiligen Geistes. Doch nicht um einen Einzelnen geht es hier, sondern um das Porträt einer Generation, die von den Dämonen ihrer Zeit gebannt scheint. Bereits Anfang der zwanziger Jahre hat der Schriftsteller Franz Kafka das Bild jener Generation entworfen, die den Ersten Weltkrieg überlebt hat, um ihrem Untergang im Zweiten entgegenzusehen: »Wir leben in einer so von Dämonen besessenen Zeit, daß wir das Gute und Gerechte bald nur noch in tiefster Verschwiegenheit wie einen Rechtsbruch werden verwirklichen können. Der Krieg und die Revolution klingen nicht ab. Im Gegenteil! Durch das Erkalten unserer Gefühle steigt ihre Glut.«

So zutreffend Kafkas Diagnose; so treffend das Porträt Klees – es handelt sich um das Bild jener Generation zwischen den beiden Weltkriegen, also einer Generation, deren Gegenwart sich auf den schmalen Übergang zwischen Vergangenheit und Zukunft beschränkt. Man könnte auch sagen: die bald der Vergangenheit angehören, weil sie der Zukunft beraubt werden wird. Diese nämlich wird neben einem Heer von Toten einzig Überlebende kennen, wie nach einem Schiffbruch, dem der Zeitbruch der Moderne gleicht.

Alle Versuche, diesen Zeitbruch historisch zu glätten, sind gescheitert und müssen scheitern, weil es eine Kontinuität allein aus einer messianischen Perspektive der Geschichte gibt: im Durchbrechen ihrer dämonischen Kräfte. Alles andere als religiöse Metaphorik ist es, wenn Jesus Christus dem Vorwurf, mit ihnen im Bunde zu stehen, begegnet: »Wenn ich aber die Dämonen durch den Finger Gottes austreibe, dann ist doch das Reich Gottes schon zu euch gekommen« (Lk 11,20). Gleichwohl scheint dessen Gegenwart verborgen, wo die Dämonen auf den Plan treten, um das Gedächtnis ganzer Generationen auszulöschen. Es bedroht nicht nur die unzähligen Namenlosen, die alsbald dem Vergessen anheimgegeben sind. Nicht weniger die großen Geister der Vergangenheit, worum ein ihnen wie nur wenige verpflichteter Geist wie Reinhold Schneider wusste, wenn er sein Werk »Dämonie und Verklärung« aus dem Jahre 1947 mit dem Satze einleitet: »Unsere Beziehung zum 19. Jahrhundert und seinen Geisteswerken ist in Verwandlung begriffen; die Stimmen seiner Dichter erreichen uns nur noch wie durch Rauch und Feuer, über Gräber und verwüstete Städte.« Deshalb gibt es keinerlei geistesgeschichtliche, keinerlei kulturgeschichtliche Kontinuität, mögen auch die großen Werke der Vergangenheit die Katastrophe überdauert haben. Obwohl Schneider ihnen voller Schwermut anhing, hat er ihren prekären Status genau umschrieben, wenn er im folgenden Absatz festhält: »Die Bezirke des Geistes sind immer der Ort der Anfechtung gewesen. Wie es zweierlei Macht gibt: Allmacht und die von ihr zugelassene Macht des Abgrundes, so gibt es auch zweierlei Licht: das Licht vom Lichte und die Blendung; wir müssen den Mut der Unterscheidung fassen, aber wir dürfen an verwirrenden Gebilden nicht achtlos vorübergehen, können sie uns doch Erschütterndes sagen von den Verwirrungen unseres eigenen Geistes und Herzens. Die Kämpfe des Geistes sind ein großartiges Vorspiel der Geschichte, nicht aber die Geschichte richtet den Geist, sondern die Wahrheit richtet ihn, wie sie auch die Geschichte richtet.«

Mit dieser Aussage korrigiert Schneider nicht allein die von uns früher kritisierte idealistische Auffassung der Geschichte, wie sie noch im Titel seines Vortrags vom 21. Februar 1946 an der Universität Freiburg i. Br. anklingt: »Der Mensch vor dem Gericht der Geschichte« (Baden-Baden 1946). Vielmehr erscheint wie der menschliche Geist auch die Geschichte vor dem Gericht der Wahrheit – und zwar nicht erst im Lichte des Jüngsten Tages, also des Endgerichts, sondern angesichts der messianischen Gegenwart des Menschensohnes, von dem es einleitend in Ps 110 heißt: »So spricht der Herr zu meinem Herrn: / Setze dich mir zur Rechten, und ich lege dir deine Feinde als Schemel unter die Füße.«

Wie aber kommt es, dass die Worte dieses Psalms, der doch in jeder Sonntagsvesper gebetet wird, so wenig in das christliche Bewusstsein eingedrungen sind? Warum kapituliert der bedeutendste Kenner der christlichen Eschatologie in der neueren Theologie vor den Mächten seiner Zeit? – Dafür gibt es nicht allein zeitgeschichtliche Gründe. Vielmehr zeugt es von einem ungeheuren Defizit in der Bestimmung des messianischen bzw. eschatologischen Zeitbegriffs, auf das wir bereits beim heiligen Augustinus, dem wohl bedeutendsten Theologen der lateinischen Patristik, stoßen. Und zwar in seiner Auslegung von Psalm 2, dem messianischen Psalm par excellence, der mit den Worten einsetzt: »Warum toben die Völker, / warum machen die Nationen vergebliche Pläne? / Die Könige der Erde stehen auf, / die Großen haben sich verbündet / gegen den Herrn und seinen Gesalbten. ›Lasst uns ihre Fesseln zerreißen / und von uns werfen ihre Stricke!‹ / Doch er, der im Himmel thront, lacht, / der Herr verspottet sie« (Ps 2,1–4).

Blicken wir auf die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts zurück, so erscheinen diese Sätze in einer brennenden Aktualität. Kein Wunder, dass auch im Neuen Testament – so von Paulus auf seiner ersten Missionsreise in Antiochia (vgl. Apg 13,33) oder im Hebräerbrief 1,5; 5,5 – vor allem V. 7 zitiert wird, wo der Gesalbte spricht: »Den Beschluss des Herrn will ich kundtun. / Er sprach zu mir: ›Mein Sohn bist du. / Heute habe ich dich gezeugt.‹« Auf Christus, den Gesalbten, bezieht auch der heilige Augustinus die betreffende Stelle, um ihr jedoch folgende Bedeutung beizumessen: »In dem Tag, von dem der Prophet spricht, könnten wir den Tag erblicken, an dem Jesus Christus als Mensch geboren ist. Aber ›heute‹ besagt Gegenwart, und in der Ewigkeit gibt es nicht Vergangenes, als habe etwas aufgehört, zu sein, und nichts Zukünftiges, als gäbe es etwas, was noch nicht ist. Es gibt nur Gegenwärtiges. Denn was ewig ist, ist immer. Es ist vom Wesen Gottes aus zu verstehen nach dem Wort: ›Heute habe ich dich gezeugt.‹ Damit verkündet der reine katholische Glaube die ewige Zeugung der Kraft und Weisheit Gottes, des einziggeborenen Sohnes Gottes.«

 

Dagegen ließe sich nichts sagen, insofern die Kirche in dem betreffenden Artikel des Großen Glaubensbekenntnisses bekennt: »Gott von Gott, Licht vom Licht, / wahrer Gott vom wahren Gott, / gezeugt, nicht geschaffen; eines Wesens mit dem Vater; durch ihn ist alles geschaffen.« Doch handelt es sich hierbei um das »Hervorgehen« (griechisch: physein) aus dem Vater, weshalb es in der Zeile zuvor heißt: »aus dem Vater geboren vor aller Zeit«. Es handelt sich also um die ewige Zeugung des Logos, des Wortes, das der Zeit, der Schöpfung vorausgeht, weshalb der heilige Johannes in seinem Prolog schreiben kann: »Alles ist durch das Wort geworden, / und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist« (Joh 1,3). Zeit aber, also auch Gegenwart, die ja zwischen Vergangenheit und Zukunft steht, gibt es nur im Zusammenhang des Gewordenseins, also der Schöpfung. Und deshalb gibt es auch nur ein einziges, einmaliges Gewordensein des Logos, nämlich bei seiner Mensch-, genauer bei seiner Fleischwerdung: »Und das Wort ist Fleisch geworden (griechisch: egéneto)« (Joh 1,14). Und diese Zeugung setzt ein Werden voraus, ein Werden im Schoß der Jungfrau und Gottesmutter Maria – ein Werden, das es nun bei dem Hervorgehen aus dem Vater vor aller Zeit nicht gab, weil der Logos, das »Wort« Gottes, der Ursprung alles Werdens bzw. alles »Gewordenen« (vgl. Joh 1,3) ist, durch den Gott der Vater und Schöpfer alles geschaffen hat.

Daher besitzt die Zeugung des menschgewordenen Logos anders als die Zeugung von »Gottes eingeborenem Sohn« vor aller Zeit, wovon zunächst im Glaubensbekenntnis die Rede ist, durchaus einen Zeitkern. So kann der Apostel Paulus im Galaterbrief schreiben: »Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, damit er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen, und damit wir die Sohnschaft erlangen« (Gal 4,4 f.). Und zwar handelt es sich nun nicht um irgendeinen Zeitpunkt im Weltgeschehen als vielmehr um die Zeiten-, ja Äonenwende, weil wir erst mit dem Anbruch des neuen Äons, der neuen »Weltzeit«, in Christus zu »Söhnen« werden. Und so schließt Paulus seine Überlegungen: »Daher bist du nicht mehr Sklave, sondern Sohn; bist du aber Sohn, dann auch Erbe, Erbe durch Gott.« Das aber bedeutet, dass es um nichts weniger geht als um unsere Vollendung; um unsere Teilhabe an Christi Sohnschaft, um in Christus und mit Christus am Reich Gottes teilzuhaben.

Aus diesem Grunde hat das »Heute« sehr wohl einen Zeitbezug: einmal mit Blick auf Christus, der Mensch geworden ist, was er vorher nicht war; dann mit Blick auf den Menschen, der durch das Erlösungswerk Jesu Christi ihm auch dem Wesen nach ähnlich wird, was er vorher nicht war, sofern Christus zu der Zeit gestorben ist, »da wir noch schwach und gottlos waren« (vgl. Röm 5,6). Deshalb entspricht das »Heute« seiner Zeugung in der Zeit dem Anfang unserer Wiedergeburt, d. h., dass die Menschen über Vergangenheit und Gegenwart hinaus wahrhaft eine Zukunft haben, die nicht bloß im Ablauf der Zeiten, in der consecutio temporum, eine Übergangszeit darstellt, sondern zur Zeit unserer Vollendung, zum wahrhaften Kairos wird, wie für Christus die Stunde seiner Passion wahrhaft zur Stunde seiner Verherrlichung (vgl. Joh 12,23–33), zu seinem Kairos wurde.

Deshalb ist es unzutreffend, wenn der heilige Augustinus zu dem »Heute« befindet: »Es gibt nur Gegenwärtiges. Denn was ewig ist, ist immer.« Es handelt sich schlichtweg um die antike Auffassung des Ewigen, weshalb es Heidegger in seinem Vortrag »Der Begriff der Zeit« vor der Marburger Theologenschaft im Jahre 1924 leichtfiel, den vermeintlich christlichen Ewigkeitsbegriff mit einer Handbewegung beiseitezuschieben: »Der Philosoph glaubt nicht. Fragt der Philosoph nach der Zeit, dann ist er entschlossen, die Zeit aus der Zeit zu verstehen bzw. aus dem was so aussieht wie Ewigkeit, was sich aber herausstellt als ein bloßes Derivat des Zeitlichseins.« Denn dass Ewigkeit nicht im Sinne des ein »Immergleichsein« bedeutet, sondern – im Hinblick auf die Schöpfung und den Menschen – ein Werden und Vollenden einschließt, muss auch Augustinus im Hinblick auf die weiteren Psalmverse einräumen: »Fordere von mir, und ich gebe dir die Völker zum Erbe, / die Enden der Erde zum Eigentum.« Das gelte »bereits zeitlich, insofern er den Menschen angenommen hat, der anstelle aller Opfer sich selbst dargebracht hat und für uns eintritt. Auf die ganze zeitliche [!] Heilsordnung, die für das Menschengeschlecht getroffen wurde«, will Augustinus jene und die folgenden Psalmworte beziehen, die er nun aber in einem rein allegorisch-moralischen Sinne auslegt: als ein geistliches Fruchtbringen oder als ein Zerschlagen der irdischen Begierden, wovon im Psalm selbst überhaupt gar nicht die Rede ist. Hier geht es nämlich erstens um die Inthronisation des Gesalbten, also des messianischen Herrschers, dessen Herrschaft über Völker und Könige sich ja nicht jenseits der Zeit, sondern in der Zeit kundtut, ja, er selbst tut ihn kund. Zweitens handelt es sich um keine »zeitliche Heilsordnung«, sondern um eine ewige, die auf Gott den Vater zurückgeht. »Er hat uns mit allem Segen seines Geistes gesegnet durch unsere Gemeinschaft mit Christus im Himmel. Denn in ihm hat er uns erwählt vor der Erschaffung der Welt, damit wir heilig und untadelig leben vor Gott«, vermerkt Paulus im Epheserhymnus (Eph 1,3b f.), »und er hat uns das Geheimnis seines Willens kundgetan, wie er es gnädig im voraus bestimmt hat: Er hat beschlossen, die Fülle der Zeiten heraufzuführen, in Christus alles zu vereinen, alles, was im Himmel und auf Erden ist« (Eph 1,9 f.). Entsprechend heißt es im ersten Brief des Apostels Petrus zu Christus: »Er war schon vor der Erschaffung der Welt dazu ausersehen, und euretwegen ist er am Ende der Zeiten erschienen.«

M. a. W., es handelt sich um keine »zeitliche Heilsordnung«, sondern um eine ewige (»vor der Erschaffung der Welt«). Ferner kann nicht nur als ewig gelten, was »immer« ist, sowie »nichts Zukünftiges, als gäbe es etwas, was noch nicht ist«. Denn in der Tat gehört zur Ewigkeit Gottes die Vollendung der Zeiten; hat er doch selbst beschlossen, die Fülle der Zeiten heraufzuführen in Christus. Anders als in der neuplatonischen Philosophie sind Zeit und Ewigkeit aus biblischer Sicht keine völlig disparaten Größen, weil Gott in seiner Vorsehung und in seinem Heilshandeln Herr über die Zeit ist, und zwar nicht nur als Schöpfer, sondern auch als Vollender des Zeitgeschehens. Daher ist eine kulturpessimistische Einschätzung der Geschichte, wie sie etwa der frühe Peterson im Geiste Kierkegaards hegte, abzuweisen, was sich bis zum Jüngsten Tage manifestiere, sei »doch nur Maskerade«, die Geschichte werde lediglich »abgewickelt«. Selbst wenn Jesus in seinen Endzeitreden nichts beschönigt; selbst wenn die Apokalypse nicht die Schrecken der Endzeit verhehlt, so behält die Geschichte nach Christus nicht nur wegen der menschlichen Taten und Errungenschaften, sondern mehr noch wegen der unsäglichen Leiden ein besonderes Gewicht, das um keinen Deut geringer ist als das der Vergangenheit und Vorvergangenheit, also des alten Äons, der durch Christi Kreuz und Thronbesteigung überwunden ist.

Dass dessen Herrschaft bereits in der Jetztzeit einsetzt, zeigt Ps 2 gewissermaßen als Antwort auf den Machtanspruch der Nationen und ihrer Herrscher: »Dann aber spricht er zu ihnen im Zorn, / in seinem Grimm wird er sie erschrecken: ›Ich selber habe meinen König eingesetzt / auf Zion, meinen heiligen Berg‹« (Ps 2,5 f.). Daraufhin folgt die Bekundung der Zeugung als Sohn, der Christus wohl dem Wesen nach immer gewesen ist, doch als der Gesalbte, also als messianischer Herrscher, erst jetzt proklamiert wird im Sinne einer Selbstproklamation. (In Hebr 5,6 wird hier noch nach Ps 110,4 Christus als ewiger Priester nach der Ordnung Melchisedek bekannt.) Ihr schließt sich die Aufforderung Gottes des Vaters an: »Fordere von mir, und ich gebe dir die Völker zum Erbe, / die Enden der Erde zum Eigentum. / Du wirst sie zerschlagen mit eiserner Keule, / wie Krüge aus Ton wirst du sie zertrümmern« (Ps 2,8 f.). Das ist eine eindeutige Sprache, die nichts mit einer lediglich innerlichen Beherrschung zu tun hat, sondern mit dem Erweis messianischer Macht gegenüber den Machthabern der Geschichte. Ihm schließt sich der Aufruf zur Einsicht an die Könige und Gebieter der Erde an, »damit er nicht zürnt / und euer Weg in den Abgrund führt. Denn wenig nur, und sein Zorn ist entbrannt. Wohl allen, die ihm vertrauen!« (Ps 2,12). Man muss kein Anhänger einer neuscholastischen natura pura sein, um sich über Augustins abschließende Auslegung über die »Richter der Erde« zu wundern: »Was unter dem geistlichen Menschen steht, wird mit Recht ›Erde‹ genannt, weil das Irdische von dem Makel der Erde versehrt ist.« Setzt doch gemäß der Apokalypse (vgl. Offb 11,18) mit dem Ertönen der siebten Posaune ein »die Zeit, alle zu verderben, die die Erde verderben«. Immerhin ist die Erde noch im Stand des Sündenfalls Schöpfung Gottes, kein Machwerk des Bösen.

So vorbildlich nicht zuletzt Augustins Psalmauslegungen sind, so haben wir hier Ps 2 deshalb ausgiebig »gegengelesen«, weil der augustinische Dualismus von Zeit und Ewigkeit die Einsicht in den komplementären Zusammenhang von Zeit und Ewigkeit verstellt hat, so dass die Theologie gewissermaßen die Deutungshoheit über die Geschichte einbüßte, die sich in die geistliche Welt der Civitas Dei und in die irdische einer Civitas terrena gabelte. Solange letztere – wie im Mittelalter – unter der Obhut von christlichen Herrschern stand, mochte es zwar Konflikte gleichsam interner Art wie den Investiturstreit geben, jedoch über die jeweilige Ausübung der Herrschaft hinaus keine grundlegenden Gegensätze. Mit zunehmender religiöser Wendung nach innen, im Zuge der sog. Verinnerlichung des religiösen Lebens, bei gleichzeitig wachsender Säkularisierung der Außenwelt, schließlich des gesamten neuzeitlichen Weltbildes, trat die messianische Dimension der Gottesherrschaft, von der eschatologisch-apokalyptischen gar nicht zu reden, zusehends in den Hintergrund. Aus religiöser Sicht war das Interesse bereits in der Neuzeit nicht sonderlich groß, der apokalyptischen Dimension der Geschichte ins Auge zu sehen, wie der von Walter Benjamin in seinem Trauerspielbuch mit Blick auf das Zeitalter der Gegenreformation, also auf das Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, registrierte »Ausfall der Eschatologie« belegen mag. »Nichts war ihr ferner als die Erwartung einer Endzeit, ja auch nur eines Zeitenumschwungs«, heißt es da, was unter anderen Vorzeichen nicht weniger für unser säkulares Zeitalter zutreffen könnte, das ein permanentes Krisen- und Katastrophenbewusstsein pflegt, ohne einen Blick auf das Ende zu verschwenden. »Der religiöse Mensch hält an der Welt so fest, weil er mit ihr sich einem Katarakt entgegentreiben fühlt. Es gibt keine barocke Eschatologie; und eben darum einen Mechanismus, der alles Erdgeborene häuft und exaltiert, bevor es sich dem Ende überliefert.« An solcher »Weltverhaftung« hat sich bis heute nicht sonderlich viel geändert, als hätten die Christen die Wiederkunft des Menschensohnes und den Anbruch des Gottesreiches zu fürchten. Oder aber es erscheint ihnen in einer geradezu sagenhaften Ferne, wie im ausgehenden Mittelalter, an der Schwelle zur Neuzeit. »In der Geheimen Offenbarung lesen wir«, vermerkt der Mystiker Johannes Tauler († 1361) in einer Predigt zum Fest Kreuzerhöhung, »dass große unsägliche Plagen über die Menschheit kommen werden, nicht viel geringer als die des Jüngsten Gerichtes, obwohl dieses noch nicht da ist.« Und weiter heißt es: »Die Zeit der Geschichte ist erfüllt; wir warten auf sie alle Tage, alle Jahre, jeden Augenblick und wissen nicht, wann diese Plagen eintreten und von wo sie kommen werden.«

 

Man reibt sich nach diesen Zeilen die Augen: Immerhin war Tauler ein Zeitgenosse jener gewaltigen Pestepidemie, die in Europa mehr als ein Drittel der Bevölkerung hinraffte; allein in Florenz kamen binnen eines Jahres mehr als 100000 Menschen ums Leben. Dann das Exil der Päpste in Avignon, das den Niedergang der mittelalterlichen Kirche beschleunigte. Schließlich der Hundertjährige Krieg, der den Übergang zur Neuzeit mit seinen Nationalstaaten einleiten sollte, wenngleich dessen Ende freilich Tauler nicht absehen konnte. Heute, nach dem »Ende der Neuzeit« (Romano Guardini), ja nach dem Ende der klassischen Moderne sowie des zwanzigsten Jahrhunderts, können Theologie und Kirche es bei einer bloßen Innenschau so wenig belassen wie bei Anleihen von außertheologischen Zeitdiagnosen, die ohnehin nur selten über bloße Kulturkritik und historische Kulturvergleiche („Kampf der Kulturen«) hinausfinden. Wie schon in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts ist heute mehr denn je eine theologische Deutung der Vorgänge in der Gegenwart gefordert. Und wenn sich säkularistische Geister dagegen verwahren, ja manche säkularisierte Theologen es bei einer rein historischen Aufbereitung der überlieferten Texte belassen wollen, dann seien sie an eine »Methodenanweisung« zu Benjamins Passagen-Werk erinnert, die wir uns im Laufe unserer theologischen Arbeit zu eigen gemacht haben: »Sich immer wieder klar machen, wie der Kommentar zu einer Wirklichkeit (…) eine ganz andere Methode verlangt als der zu einem Text. Im einen Fall ist Theologie, im andern ist Philologie die Grundwissenschaft.« Denn die Philologie der überlieferten Texte ist eine Sache; eine andere ist die Wirklichkeit, aus der sie hervorgehen. Es gehört zu den Illusionen des menschlichen Geistes seit den Tagen des Deutschen Idealismus, dass diese Wirklichkeit als eine Schöpfung unserer selbst missverstanden wird: Zumal in unseren Tagen wird überdeutlich, wie wenig wir die erste und die zweite Natur beherrschen; uns Naturkatastrophen wie Nuklearanlagen, die für Naturbeherrschung und technologischen Fortschritt stehen, in Atem halten.

Deshalb ist es an der Zeit, Abschied von einer rein immanenten Geschichtsdeutung zu nehmen, die sich letzthin in einer Rekonstruktion der Vergangenheit erschöpft, nachdem alle Versuche einer historischen Sinngebung – bis in die Theologie hinein – gescheitert sind. Und wenn das Zweite Vatikanische Konzil in seiner dogmatischen Konstitution über die Kirche diese wiederholt als »dieses messianische Volk« (vgl. Cap. 2,9) bezeichnet, dann hat auch endlich die heutige Theologie die Geschichte im Spannungsbogen zwischen der messianischen Gegenwart Jesu Christi und ihrer eschatologischen Vollendung in der Wiederkunft Christi zu deuten, ganz wie es im Neuen Testament grundgelegt ist. Die derzeitige Krise der Kirche in der westlichen Welt beruht nicht zuletzt darauf, dass ihr Zusammenhang seit geraumer Zeit überhaupt nicht mehr gesehen wird, sieht man einmal von wenigen Ausnahmen ab. Wir sind vor Jahren nicht zuletzt durch die einschlägigen Arbeiten Erik Petersons angeregt worden, jenem Zusammenhang nachzugehen; doch bereits vor vier bis drei Jahrzehnten haben uns die Überlegungen des jüdischen Philosophen Walter Benjamin zum »Einstand von Moderne und Apokalypse« auf die Spur einer theologischen Deutung der Moderne gebracht. Denn nicht allein die Menschen in der kriegsneutralen Schweiz der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren an einer theologischen Deutung der Vorgänge in der Gegenwart interessiert. Vielmehr waren die Zeichen der Zeit längst absehbar, wie die folgenden vier Aufsätze belegen mögen, die sich auf den Zeitraum von 1834 bis 1936 beziehen; also gut ein Jahrhundert umfassen, das die Geschichte grundlegend verändern sollte. Kaum ein Zufall, dass es sich bei dem Gegenstand der betreffenden Aufsätze um Gedanken aus dem ästhetischen Bereich handelt, gewissermaßen um Vorausbilder der heraufziehenden Wirklichkeit, insofern nach einem Wort Kafkas die Kunst eine Uhr ist, die vorgeht, während die Theologie, der eigentlich die Aufgabe zufiele, die Zeichen der Zeit zu deuten, seit geraumer Zeit eher wie ein erschöpfter Läufer abgeschlagen hinterherhinkt oder dem jeweiligen Zeitgeist hinterherhechelt.

Man muss jedoch nicht aus dem Geist des Evangeliums auf irgendwelche lärmende Parolen des Zeitgeschehens »abfahren«, um in Erfahrung zu bringen, was die Stunde geschlagen hat. Im Schweigen der Kunstwerke, ihrer Deutungen oder von Tagebuchaufzeichnungen, die für keine Veröffentlichung bestimmt waren, werden wir eines anderen Schweigens inne. Oder wie der heilige Ignatius von Antiochien († nach 107), dessen wenige Briefe nach einem Diktum Petersons etwas von dem Flammenden der Bilder El Grecos haben, es einmal in seinem Brief an die Epheser ausdrückt: »Wer das Wort Jesu besitzt, kann wirklich auch seine Stille hören.«

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