Loe raamatut: «Kurt Tucholsky – Gesammelte Werke – Prosa, Reportagen, Gedichte», lehekülg 8

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Als wir das Haus wiedersahen, waren wir wie auf Kommando still. »Einer links, einer hinten herum«, sagte Karlchen. »Es muß aber einer bei der Prinzessin bleiben«, sagte ich. »Das Weib ist imstande und haut.« – »Dann geht ihr da«, sagte er. »Ich will es von links versuchen.« Wir schlichen näher.

Das Haus lag still, ganz still. Ob sie uns durch ein Fenster beobachtete? Wenn sie nun einen Hund hatte? Immerhin: es war ein fremdes Grundstück; wir hatten hier nichts zu suchen. Die Frau war im ius. Welch eine preußische Überlegung! Ein Kind litt. Los.

Still war alles. Weit sah man von hier hinaus, am Haus vorbei, ins Land. Da lag der Mälarsee, da das Schloß Gripsholm, rot, mit den dicken Kuppeln, und der Mischwald, Tannen und Birken.

»Pst!« machte die Prinzessin. Nichts. Karlchen war nicht zu sehen. Fragend sah ich sie an. Wir gingen langsam weiter und traten vorsichtig auf, als gingen wir auf Eis. War das ein Gesicht hinter einem Fenster – eine kreisrunde Scheibe …? Täuschung, es war ein Widerschein. Wir gingen nah am Haus vorbei. Die Prinzessin blickte überall umher. Plötzlich ging sie vorwärts – »Rasch!« sagte sie – sie lief auf einen weißen Fleck zu, der unweit des Hauses im Grase war … da lag ein kleines Stück Papier. Hinten wandelte Karlchen langsam am Zaun vorbei. Die Prinzessin bückte sich, sah das Papier an, hob es auf und schritt rasch weiter.

Wir beeilten uns, bis wir aus der Umgatterung heraus waren. »Na?« sagte Karlchen.

Die Prinzessin blieb stehn und las vom Papier:

Collin Zürich Hottingerstrase 104.

Die Rückseite eines Kalenderblatts, und eine kraklige Kinderhandschrift. »Strase« war mit einem s geschrieben. »Dat harrn wi hinner uns!« sagte die Prinzessin. »Auf in den Kampf« – pfiff Karlchen.

Zurück nach Gripsholm.

4

Wir liefen durcheinander wie die Indianer, wenn sie sich auf den Kriegspfad begeben. Alle drei redeten mit einemmal. »Mal langsam –«, sagte das kluge Karlchen. »Telegraphieren … ihr seid ja verdreht. Wir schreiben jetzt erst mal an die Frau einen vernünftigen Brief. Und da muß drinstehn …«

Was sich nun begab … das möchte ich nicht noch einmal durchmachen. Es war eine Schlacht. Es wurde nicht ein Brief geschrieben – es wurden vierzehn Briefe geschrieben, immer einer nach dem andern, dann drei zu gleicher Zeit, und während ich auf meiner Maschine herumhackte, bis sie heiß wurde, schrieben die beiden andern emsig ihre Bogen voll. Es war wie eins dieser altmodischen Gesellschaftsspiele (»Was tut er? – Was tut sie? – Wo lernten sie sich kennen?«), und jeder wollte zuerst seins vorlesen, und jeder fand seinen Schrieb am allerschönsten und am allerfeinsten und die der andern von oben bis unten unmöglich. »Unmöglich!« sagte die Prinzessin. »Dat is ja Kinnerkram is dat ja!« – Ich wollte etwas erwidern. »Du bischa so klug«, sagte sie. »Du schast ock mit na Pudel sin Hochtid! Nu do mi dat to Leev …«, und dann fing alles wieder von vorn an.

Schließlich blieben drei Entwürfe übrig – zur engern Wahl. Karlchen hatte einen juristischen Brief geschrieben, ich einen feinen und die Prinzessin einen klugen. Und den nahmen wir.

Darin war knapp und klar erzählt, was wir gesehen hatten, und daß wir uns nicht in die Collinschen Familienangelegenheiten einmischen wollten und daß sie nur ja nicht an die Frau schreiben sollte, das gäbe bestimmt ein Unglück, und sie brauchte sich nicht zu beunruhigen, wir würden inzwischen sehen, was sich machen ließe – aber sie möchte uns erlauben, einmal mit ihr zu telephonieren. »So«, sagte die Prinzessin und klebte zu. »Das hätten wir. Gleich weg mit ihm. Auf die Post –!« Als der Brief in den Kasten plumpste, fiel uns je ein Stein vom Herzen. »So ein Kind …«, sagte ich. »So ein kleiner Gegenstand –!« Und da lachten mich die beiden heftig aus.

»Gib mir mal ’n Zigarettchen!« sagte Karlchen, der gern andrer Leute Zigaretten rauchte und ihre Zahnpasten benutzte. (»Freundschaft muß man ausnutzen«, pflegte er zu sagen.) »Wißt ihr auch«, sagte er in die abendliche Stille, während wir langsam durch die Straßen von Mariefred gingen und uns die Schaufenster ansahen, »daß ich morgen abend fahre?« Bumm – das hatten wir vergessen. Die acht Tage waren um – ja –

»Wollen Sie nich noch ’n büschen bei uns bleiben, Karling?« fragte die Prinzessin. »Gnädigste«, sagte der lange Lümmel und streckte den Arm aus, »leider läuft mein Urlaub ab – ich muß. Ich muß. Herrschaften, das war aber eine anstrengende Konferenz!« Er blieb stehen. »Na, du bist doch Experte in Konferenzen … du Beamter!« – »Ich schimpfe dich auch nicht Literat, du Buffke. Der alte Eugen Ernst sagte immer: Wenn einer nichts zu tun hat, dann holt er die andern, und dann machen sie eine Konferenz. Und zum Schluß, wenn alle geredet haben, dann konstatiert er. Und dann ist es aus. Und jetzt setz dich noch mal an deinen Schreibpflug und schreibe für Jakopp ein Kartentelegramm!« Das tat ich.

»Ich finde«, sagte ich zu Karlchen, »es muß ein Einwort-Telegramm sein. Es wird sonst zu teuer. Da:

Drahtetsofortobhiesigenmälarseezwecksbewässerungkäuflicherwerbenwolltwassergarantiertechtallerdingsnurzuschwimmzweckengeeignetfasthochachtungsvollfritzchenundkarlchenwasseroberkommissäre«

»Na, da wollen wir ihm den Abschiedstrunk rüsten, was?« sagte Lydia. Wir rüsteten. Wir krochen umher und plagten die gute Schloßdame, auf daß wir etwas zu trinken bekämen; wir kauften ein und fanden es alles nicht schön genug; wir stellten auf und packten aus, und … »Was gibt es zu essen?« erkundigte sich Karlchen. »Was möchten Sie denn?« fragte die Prinzessin. – »Ich möchte am liebsten Murmeltierschwanzsuppe.« – »Wie bitte?« – »Kennt ihr das nicht? Die jungen Leute! Zu meiner Zeit … Also Murmeltierschwanzsuppe wird im hohen Norden von den Eskimos gewonnen. Sie jagen das Murmeltier so lange, bis es vor Schreck den Schwanz verliert, und auf diese Weise –« Worauf wir ihm zwei Kissen an den Kopf warfen, und dann gingen wir hinunter und aßen.

»Ich möchte eigentlich noch über Ulm fahren«, sagte Karlchen. »Da habe ich eine Braut zu stehn – die hätte ich gern überhört.« – »Sie sollten sich was schämen!« sagte die Prinzessin. »Ist sie hübsch?« fragte ich. »Na, wie wird sie schon sein … deine Weiber …« Er grinste, und: Deine vielleicht … konnte er ja jetzt nicht sagen. »Wie willst du über Ulm fahren?« fragte ich. »Da kommst du doch gar nicht hin!« – »Ich fahre auch nicht«, sagte Karlchen. »Ich möchte bloß mal …« – »Er ist ein gesprochener Casanova«, sagte die Prinzessin. »Du, Alte –«, sagte ich, »manchmal läßt er seinen lieben Worten auch Taten folgen, und dann geht es gar heiter zu.« Karlchen lächelte, wie wenn von einem ganz andern wilden Mann gesprochen würde, und wir entkorkten mit einem weithin hörbaren Flupp den Whisky, woraufhin Karlchen zum ›Herrn Fluppke‹ ernannt wurde, und dann saßen wir und tranken gar nicht viel. Wir redeten uns besoffen. Die vier Windlichter bewegten sich in dem schwachen Luftzug.

»Rauch nur deine Pfeife!« sagte Karlchen. »Rauch nur! Er verträgt doch kein Nikotin, Prinzessin! Ist die Pfeife etwa neu?« – »Das ist es ja eben«, sagte ich. »Ich muß sie anrauchen. Mensch, Pfeifen anrauchen …« – »Kann man das nicht mit Maschinen?« fragte die Prinzessin. »Ich habe mal so was gehört.« – »Man kann es mit Maschinen«, sagte Karlchen. »Ich hatte einen Schulfreund, in der Oberprima, der hatte erfunden, Pfeifen mit der Luftpumpe anzurauchen. Ich weiß nicht mehr, wie er das gemacht hat – aber er machte es. Ich hatte ihm meine neue Pfeife gegeben, eine wundervolle neue Pfeife. Und da muß er wohl zu stark mit der Pumpe gearbeitet haben … und da hat sich die Pfeife selbst ausgeraucht, und es blieb überhaupt nichts weiter von ihr übrig als ein Häufchen Asche. Er hat mir eine neue kaufen müssen. Mir ist diese Pfeifengeschichte immer sehr symbolisch vorgekommen … Ja. Aber wofür symbolisch: das habe ich vergessen.« Wir schwiegen, tief sinnend.

»Ein Esel«, sagte die Prinzessin. Wir wollten protestieren – aber sie meinte einen richtigen, der da hinter den Bäumen hervorkam. Er wollte wohl auch einen Whisky haben. Wir standen gleich auf und streichelten ihn, aber Esel wollen nicht gestreichelt werden; ein weiser Mann hat herausgefunden, es sei das Unglück der Esel, Esel zu heißen – denn nur deshalb würden sie so schlecht behandelt. Diesen behandelten wir gut und nannten ihn Joachim. Und wir spielten ihm Grammophon vor … »Spiel mal büschen was aus Kaahmen –«, sagte die Prinzessin. »Nein! Spiel das mit die kleinen Gnomens …!« Da war ein Musikstück, das hatte so einen kleinen, hüpfenden Marschrhythmus, und die Prinzessin behauptete, dazu müßte eine Pantomime vonstatten gehn, in der kleine Zwerglein mit Laternlein über die Bühne huschten. Ich drehte die Platte mit den Gnomen an, der Apparat lief, der Esel fraß Gras dazu, wir tranken Whisky, und: – »Mir auch noch einen Zahn voll!« sagte Karlchen. Und die Prinzessin aß zum Nachtisch Käse mit Sellerie, das hatte ihr ein großer Gourmet empfohlen. »Wie schmeckt es?« fragte Karlchen. »Es schmeckt –«, die Prinzessin probierte langsam und sorgfältig – »es schmeckt wie schmutzige Wäsche.« Mißbilligend schlug selbst Joachim mit dem Schweife.

Und dann sangen wir ihm alles vor, was wir wußten, und das war eine ganze Menge.

 
»For that is the Whisky
that makes me bright and brisky!«
 

– »Muh!« machte der Esel und wurde verwarnt, denn er war doch keine Kuh, Karlchen blies stille Weisen auf einem Kamm mit Seidenpapier und begehrte stürmisch, im Chantant zu gehen … die Prinzessin lachte viel und manchmal würdelos laut, und ich war, wie jeder von uns, der einzig Nüchterne in diesem Hallo.

Bevor wir zu Bett gingen: »Lydia – er soll nicht wieder Postkarten schreiben! Immer schreibt er Karten.« – »Was für …?« fragte sie. – »Wenn er abreist, dann kommen am nächsten Tag ganz wahnwitzige Postkarten an, die schreibt er im Zug – das ist so seine Art, Abschied zu nehmen. Er soll das nicht; es regt mich so auf!« – »Herr Karlchen, schwören Sie, daß Sie uns diesmal keine Karten schreiben werden?« – Er gab sein kleines Gießener Ehrenwort. Wir trollten in die Heija. Und brachten ihn am nächsten Abend an den Bahnhof, zu dem kleinen Schnaufewagen, und die beiden gaben sich einen Abschiedskuß, der mir reichlich lang erschien. Und dann mußte er einsteigen, und wir standen am Wagen und gaben ihm durch das Fenster kluge Ratschläge auf den Weg, und er fletschte uns an, und als der Wagen anfuhr, sprach er freundlich: »Fritzchen, ich habe deine Zahnpaste mitgenommen!«, und ich warf vor Aufregung meinen Hut nach ihm, und der trudelte beinahe unter die Räder, und dann winkte er, und dann verschwand das Bähnlein um die Ecke, und dann sahen wir gar nichts mehr.

Und am nächsten Mittag trafen vier Postkarten ein: von jeder größeren Station eine – bis nach Stockholm. Auf der letzten stand Folgendes:

»Liebe Toni!

Laß dich auf keinen Fall auf die Polizei bestellen wegen der falschen Eintragung im Hotel – vom 15.! Bleibe eventuell fest und steif dabei, daß Du meine Tochter wärst!

Lieber Freund, ehe ich heute abend fortfuhr, habe ich Dich noch einmal von der Seite angesehn und muß sagen, daß ich aufrichtig erschrocken war. Ich glaube, Dir fallen die Haare aus. Lieber Freund! Das ist mehr als ein Anzeichen – das ist ein Symptom!

Sucht nicht vergeblich nach dem zweiten Kanarienvogel – ich habe ihn für meine lieben Kinderchen mitgenommen. Wo ist der Esel?

Liebe Marie, sieh doch bitte sofort nach, wo mein Siegelring geblieben ist – er muß unter Deinem Kopfkissen liegen. Ich weiß es bestimmt.

Schade um meinen vertanenen Urlaub!

Ich bin immerdar

Euer liebes

Karlchen.«

Viertes Kapitel

 
Wennt unse Paster man nich süht,
mit unsen Herrgott will ick
woll färdig werden, sä de Bur –
dor makt he sin Heu an Sünndag.
 
1

»Wie ist denn das alles so plötzlich gekommen?« fragte die Prinzessin, als ich aus der Kerze seitlich umfiel.

Wir turnten. Lydia turnte, ich turnte – und hinten unter den Bäumen kugelte sich Billie umher. Billie war kein Mann, sondern hieß Sibylle und war eine Mädchenfrau. »Junge, ja …«, sagte die Prinzessin und ließ sich hochatmend zu Boden fallen, »wenn wir davon nicht klug und schön werden …« – »Und dünn«, sagte ich und setzte mich neben sie. »Wie findest du sie?« fragte die Prinzessin und deutete mit dem Kopf nach den Bäumen hinüber.

»Gut«, sagte ich. »Das ist mal ein nettes Mädchen: lustig; verspielt; ernst, wenn sie will – komm an mein Herz!« – »Wer?« – »Sie.« – »Daddy, mit dem Herzen … diese Dame hat sich eben ierst von ihren Freund gietrennt, abers ganz akrat un edel und in alle Freundlichkeit.« – »Wer war das doch gleich?« – »Der Maler. Ein anständiger Junge – aber es ging nicht mehr. Frag sie nicht danach, sie mag nicht davon sprechen. Solche Suppen soll man allein auslöffeln.« – »Wie lange kennt ihr euch eigentlich?« – »Na, gut und gern zehn Jahre. Billie … das ist eben mein Karlchen, weißt du? Ich mag sie. Und zwischen uns hat noch nie ein Mann gestanden – das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Sieh mal, wie sie läuft! Se löpt, as wenn er de Büx brennt!«

Sibylle kam herüber.

Es war schön, sie laufen zu sehn; sie hatte lange Beine, einen gestrafften Oberkörper, und ihr dunkelblaues Schwimmkostüm leuchtete auf dem rasigen Grün.

»Na, ihr Affen«, sagte Billie und ließ sich neben uns nieder. »Wie war’s?« – »Gedeihlich«, sagte die Prinzessin. »Der Dicke hat geturnt, gleich kommen ihm die Knie zum Halse heraus … er ist sehr brav. Wie lange springst du jetzt Seilchen?« – »Drei Minuten«, sagte ich und war furchtbar stolz. »Wie haben Sie geschlafen, Billie?«

»Ganz gut. Wir dachten doch erst, als uns die Frau das kleine Zimmer ausgeräumt hatte, es wäre zu heiß wegen der Sonne, die da den ganzen Tag drin ist … Aber so heiß ist das hier gar nicht. Nein, ich habe ganz gut geschlafen.« Wir sahen alle aufmerksam vor uns hin und wippten hin und her.

»Hübsch, daß du hergekommen bist«, sagte die Prinzessin und kitzelte Billie mit einem langen Halm am Nacken, ganz leise. »Wir hatten vor, hier wie die Einsiedler zu leben – aber dann war erst sein Freund Karlchen da, und jetzt du – aber es ist doch so schön still und friedlich … nein … wirklich …« – »Sie sind sehr gütig, mein Frollein«, sagte Billie und lachte. Ich liebte sie wegen dieses Lachens; manchmal war es silbern, aber manchmal kam es aus einer Taubenkehle – dann gurrte sie, wenn sie lachte. »Was haben Sie da für einen hübschen Ring, Billie«, sagte ich. »Nichts … das ist ein kleiner Vormittagsring …« – »Zeigen Sie mal … ein Opal? Der bringt … das wissen Sie doch … Opale bringen Unglück!« – »Mir nicht, Herr Peter, mir nicht. Soll ich vielleicht einen Diamanten tragen?« – »Natürlich. Und mit dem müssen Sie dann im Schambah Zepareh Ihren Namen in den Spiegel kratzen. Das tun die großen Kokotten alle.« – »Danke. Übrigens hat mir Walter erzählt: da ist er in Paris in einem cabinet particulier gewesen, und da hat auch eine etwas an den Spiegel gekratzt. Raten Sie, was da gestanden hat!« – »Na?« – »Vive l’anarchie! Ich fand das sehr schön.« Wir freuten uns. »Gymnastizieren wir noch ein bißchen?« fragte ich. »Nein, meine Herrschaften, was ich bün, ick hätt somit gienug«, sagte die Prinzessin und reckte sich. »Mein Pensum ist erledigt. Billie, deine Badehose geht auf!« Sie knöpfte ihr das Trikot zu.

Billies Körper war braun, von Natur oder von der Sonne der See, woher sie grade kam. Sie hatte zu dieser getönten Haut rehbraune Augen und merkwürdigerweise blondes Haar – echtes blondes Haar … es paßte eigentlich gar nicht zu ihr. Billies Mama war eine … eine was? Aus Pernambuco. Nein, so war das nicht. Die Mama war eine Deutsche, sie hatte lange mit ihrem deutschen Mann in Pernambuco gelebt, und da muß einmal irgend etwas gewesen sein … Billie war, vorsichtig geschätzt, ein Halbblut, ein Viertelblut … irgend so etwas war es. Eine fremde Süße ging von ihr aus; wenn sie so dasaß, die Beine angezogen, die Hände unter den Knien, dann war sie wie eine schöne Katze. Man konnte sie immerzu ansehn.

»Was war das gestern abend für ein Schnaps, den wir getrunken haben?« fragte Billie langsam und verwandte kein Auge von dem, was in einer nur ihr erreichbaren Ferne vor sich ging. Die Frage war ganz in Ordnung – aber sie machte ein falsches Gesicht dazu, in leis verträumter Starre, und dann diese Erkundigung nach dem Schnaps … Wir lachten. Sie wachte auf. »Na …«, machte sie.

»Es war der Schnaps Labommelschnaps«, sagte ich sehr ernsthaft. – »Nein, wirklich … was war das?« – »Es war schwedischer Kornbranntwein. Wenn man so wie wir nur ein Glas trinkt, erfrischt er und ist angenehm.« – »Ja, sehr angenehm …« Wir schwiegen wieder und ließen uns von der Sonne bescheinen. Der Wind atmete über uns her, fächelte die Haut und spülte durch die Poren, in denen das Blut sang. Ich war in der Minderheit, aber es war schön. Meist bildeten die beiden eine Einheit – nicht etwa gegen mich … aber ein bißchen ohne mich. Bei aller Zuneigung: wenn ich dann neben ihnen ging, fühlte ich plötzlich jenes ganz alte Kindergefühl, das die kleinen Jungen manchmal haben: Frauen sind fremde, andre Wesen, die du nie verstehen wirst. Was haben sie da alles, wie sind sie unter ihren Röcken … wie ist das mit ihnen! Meine Jugend fiel in eine Zeit, wo die Takelage der Frau eine sehr komplizierte Sache war – zu denken, was sie da alles zu haken und zu knöpfen hatten, wenn sie sich anzogen! Ein Ehebruch muß damals eine verwickelte Sache gewesen sein. Heute knöpfen die Männer weit mehr als die Damen; wenn die klug sind, können sie sich wie einen Reißverschluß aufmachen. Und manchmal, wenn ich Frauen miteinander sprechen höre, dann denke ich: sie wissen das »Das« voneinander; sie sind denselben Manipulationen und Schwankungen in ihrem Dasein unterworfen, sie bekommen Kinder auf dieselbe Weise … Man sagt immer: Frauen hassen einander. Vielleicht, weil sie sich so gut kennen? Sie wissen zu viel, eine von der andern – nämlich das Wesentliche. Und das ist bei vielen gleich. Wir andern haben es da wohl schwieriger.

Da saßen sie in der Sonne und schwatzten, und ich fühlte mich wohl. Es war so etwas wie ein Eunuchenwohlsein dabei; wäre ich stolz gewesen, hätte ich auch sagen können: Pascha – aber das war es gar nicht. Ich fühlte mich nur so geborgen bei ihnen. Nun war Billie vier Tage bei uns, und in diesen vier Tagen hatten wir miteinander keine schiefe Minute gehabt … es war alles so leicht und fröhlich.

»Wie war er?« hörte ich die Prinzessin fragen. »Er war ein Kavalier am Scheitel und an der Sohle«, sagte Sibylle, »dazwischen …« Ich wußte nicht, von wem sie sprachen – ich hatte es überhört. »Ach wat, Jüppel-Jappel!« sagte die Prinzessin. »Wenn einen nichts taugt, denn solln sofordsten von ihm aff gehn. Was diese Frau is, diese Frau ischa soo dumm, daß sie solange – na ja. Seht mal! Pst! Ganz stille sitzen – dann kommt er näher … Und wie er mit dem Schwänzchen wippt!« Ein kleiner Vogel hüpfte heran, legte den Kopf schief und flog dann auf, von etwas erschreckt, das in seinem Gehirn vor sich gegangen war – wir hatten uns nicht geregt. »Was mag das für einer gewesen sein?« fragte Billie. »Das war ein Amselbulle«, sagte die Prinzessin. »Ah – dumm – das war doch keine Amsel …«, sagte Billie. »Ich will euch was sagen«, sprach ich gelehrt, »bei solchen Antworten kommt es gar nicht darauf an, ob’s auch stimmt. Nur stramm antworten! Jakopp hat mal erzählt, wenn sie mit ihrem Korps einen Ausflug gemacht haben, dann war da immer einer, das war der Auskunftshirsch. Der mußte es alles wissen. Und wenn er gefragt wurde: Was ist das für ein Gebäude? – dann sagte er a tempo: Das ist die Niedersächsische Kreis-Sparkasse! Er hatte keinen Schimmer, aber alle Welt war beruhigt: eine Lücke war ausgefüllt. So ist das.« Die Mädchen lächelten höflich, ich war auf einmal allein mit meinem Spaß. Nur ein Sekündlein, dann war es vorbei. Sie standen auf.

»Wir wollen noch laufen«, sagte Billie. »Einmal rund um die Wiese! Eins, zwei, drei – los!« Wir liefen. Billie führte; sie lief regelmäßig, gut geschult, der Körper funktionierte wie eine kleine exakte Maschine … es war eine Freude, mit ihr zu laufen. Hinter mir die Prinzessin japste zuweilen. »Ruhig laufen!« sagte ich vor mich hin, »du mußt durch die Nase atmen – mit dem ganzen Fuß auftreten – nicht zu sehr federn!« und dann liefen wir weiter. Mit einem langen Atemzug blieb Billie stehn; wir waren beinah einmal um die große Wiese herumgekommen. »Uffla!« – Wir waren ganz warm. »Ins Schloß unter die Brause!« Wir nahmen unsere Bademäntel und gingen langsam über die Wiese; ich trug meine Turnschuhe in der Hand, und das Gras kitzelte meine Füße. Das ist schön, mit den Mädchen zusammen zu sein, ohne Spannung. Ohne Spannung?

2

»Was nehmen wir denn dem Kind nun mit?«

»Bonbons«, schlug Billie vor. »Nein«, sagte ich, »das wird ihr die Alte verbieten – oder sie muß sie an die ganze Belegschaft austeilen.« – »Wir gehn Knöpfchen kaufen«, sagte die Prinzessin. »Ich werde schon was finden. Kommt – ach was, Hut! Aber Billie!« Wir gingen.

Frau Collin hatte geschrieben. Sie wäre uns sehr dankbar, und wir möchten zu der Frau Adriani hingehn und mit ihr sprechen, und dann sollten wir sie anrufen. Die Auslagen würde sie gern …

»Nicht huddan! Ladi!« rief die Prinzessin. Billie sah sie entgeistert an, und ich mußte ihr erklären, daß das »rechts« und »links« bedeute – so trieb man in manchen plattdeutschen Ecken die Esel an. Gott weiß, woher diese alten Rufe stammen mochten.

Ja, das Kind, der »kleine Gegenstand …« Ich dachte mit Kraft daran, daß es geplagt und geschlagen würde, denn hier stand nun etwas bevor … Als Junge hatte ich immer an Portal-Angst gelitten, an jener rasenden Furcht, in ein fremdes, in ein ganz fremdes Haus hineinzugehn – geduckt ging ich dann schließlich und fiel natürlich auf die moralische Nase. Tiere wittern Furcht. Menschen wittern Furcht. Seitdem ich aber gelernt habe, daß sie alle sterben müssen, geht es schon besser. Zwanzig Jahre hat das gedauert. Der Plattdeutsche drückt die Sache kürzer und unpathetischer aus: »Wat is he denn? Sin Mors hat man ook bloß twee Hälften!« Ja, das ist wahr.

Und nun sollte ich da als fremder Mann zu einer bösen, fremden Frau gehn – ich spielte einen Augenblick alle Phasen: Hänsel bei der Knusperhexe, dann: ich geniere mich doch aber so … und dann war es vorbei. Es ging viel schneller vor sich, als man es schreiben kann. Vorbei. »Man muß«, hat ein kluger Inder gesagt, »den Tiger vor der Jagd in Gedanken töten – der Rest ist dann nur noch eine Formalität.« Die Frau Adriani …? Ich dachte an meinen Feldwebel, an das geprügelte, weinende Kind … in Ordnung.

»Sei still!« rief die Prinzessin in ein Fenster hinein, an dem ein Papagei in seinem Käfig krächzte, »sei still! Sonst wirst du ausgestopft!« Das Tier mußte wohl deutsch verstehn – denn nun schwieg es. Billie lachte. »Ihr wolltet doch noch englische Sauce kaufen«, sagte sie in einer jener Ideenverbindungen, derer nur Frauen fähig sind. »Tun wir auch – komm, wir gehen in die Fruktaffär, die haben alles.« Die Schweden schreiben manche Fremdwörter phonetisch, das macht viel Spaß. Wir kauften also englische Sauce, die Prinzessin beroch mißtrauisch die verstöpselte Flasche und machte mit Händen und Füßen dem Verkäufer das Leben schwer; Billie warf ein Glas mit Senfgurken herunter, die solches aber gut überstanden, sie kamen mit dem Schreck davon und schäumten nur noch eine Weile in ihrem Essig … »Sieh mal, so viel Salz!« sagte ich. Die Prinzessin sah das Faß an: »Als Kind habe ich immer gedacht: wenn in ein Salzmagazin ein Tropfen Wasser fällt, dann verzehrt er das ganze Lager.« Darüber mußte ich scharf nachdenken und vergaß beinah, hinter den beiden herzugehn, sie standen schon auf der Straße und knabberten Rosinen. »Und dem Kind nehmen wir eine Puppe mit«, sagte die Prinzessin. »Kommt mal rüber! Ach, bleibt da – ich werde schon … nein, Billie kommt mit!« Einen winzigen Augenblick lang tat mir das leid; ich hätte gern mit Billie allein auf der Straße gestanden. Was hätten wir uns dann erzählt? Nichts, natürlich.

»Habt ihr?« – »Wir haben«, rief Billie. »Zeigt mal«, bat ich. »Doch nicht hier auf der Straße!« sagte sie. »Meinst, die Puppe wird sich verkühlen?« sagte die Prinzessin und wickelte an dem Paket herum. Ich guckte hinein. Da lag ein Schwedenmädchen, in der Landestracht von Dalarne, bunt und lustig. Sie wurde wieder zugedeckt. »Einpacken ist seliger denn nehmen«, sagte die Prinzessin und band die Schnur zu. »Ja, dann wollen wir mal … Ob sie schießt, die liebe Dame?« – »Laß mich nur …!« – »Nein, Daddy, ich laß dich gar nicht. Du greifst erst zu, wenn sie frech wird und alles drunter und drüber geht. Sag du die Einleitung, und daß wir den Brief bekommen haben und alles, und dann werde ich mal mit ihr.« – »Und ich?« fragte Billie. »Du legst dich derweil in den Wald, Billie; wir können unmöglich zu der Frau wie ein rächender Heerhaufe geströmt kommen. Dann ist gleich alles verloren. Es ist schon dumm – hier geht’s lang – schon dumm, daß wir zwei sind. Zwei gegen einen – da knurrt der ja schon von vornherein …« – »Na, mehr als die kann man nicht gut knurren. Ist das ein Deubel!« Ich hatte Billies Arm genommen. »Arbeiten Sie hier eigentlich?« fragte Billie. »Ich werde meiner Arbeit was blasen!« sagte ich. »Nein – hier legen wir eine schöpferische Pause ein … Billie, Sie sind ein netter Mann«, sagte ich ganz unvermittelt. »Na, junges Volk«, sagte die Prinzessin und machte ein Gesicht wie eine wohlmeinende Tante, die eine Verlobung in die Wege leitet, »das ist hübsch, wenn ihr euch gern habt!« Ich hörte die Untertöne, in diesem Augenblick fühlte ich, daß es echte Freundinnen waren – hier war keine Spur von Eifersucht; wir hatten uns übers Kreuz wirklich gern, alle drei. Jetzt kam mir der Weg bekannt vor, da war das Gatter, und da lag das Kinderheim.

Billie war langsam weitergegangen, wir kamen an die Tür. Keine Klingel. Hier sollte wohl nicht geklingelt werden. Wir klopften.

Nach langer Zeit näherten sich Schritte, ein Mädchen öffnete. »Kan Ni tala tyska?« fragte ich. »Guten Tag … ja, ja … was wollen Sie denn?« sagte sie lächelnd. Sie freute sich offenbar, mit uns deutsch sprechen zu können. »Wir möchten zu der Frau Adriani«, sagte ich. »Ja … ich weiß nicht, ob sie Zeit hat. Frau Adriani hält grade Appell ab, das heißt also … sie sieht den Kindern die Sachen nach. Ich werde … einen Augenblick mal …«

Wir standen in einer grau gekalkten Halle, die Fenster waren durch Holzleisten in kleine Vierecke abgeteilt; wie Gitter, dachte ich. An der Wand ein paar schwedische Königsbilder. Jemand kam die Treppe herunter. Die Frau.

»Guten Tag«, sagten wir. »Guten Tag«, sagte sie, ruhig. »Wir kommen im Auftrag der Frau Collin in Zürich und möchten gern einmal mit Ihnen wegen der Kleinen sprechen.« – »Haben Sie … einen Brief?« fragte sie lauernd. »Jawohl.« – »Bitte.«

Sie ging voran und ließ uns in ein großes Zimmer, eine Art Saal, hier aßen wohl die Mädchen. Lange Tische und viele, viele Stühle. In einer Ecke ein kleinerer Tisch, an den setzten wir uns. Wir nannten unsere Namen. Sie sah uns fragend und kalt an.

»Da hat uns die Frau Collin geschrieben, wir möchten nach ihrem Kind sehn – sie könnte diesen Sommer leider nicht nach Schweden kommen, hätte es aber gern, wenn sich von Zeit zu Zeit jemand um das Kind kümmerte.« – »Um das Kind kümmere ich mich«, sagte Frau Adriani. »Sind Sie mit Frau Collin … bekannt?« – »Nun wäre es vielleicht vorteilhaft, wenn wir die Kleine sprechen könnten; da sind auch Grüße von der Mama zu bestellen und ein Auftrag auszurichten.« – »Was für ein Auftrag?« – »Ich werde ihn der Kleinen selber ausrichten – selbstverständlich in Ihrer Gegenwart. Dürfen wir sie sprechen?« – Frau Adriani stand auf, rief etwas auf schwedisch zur Tür hinaus und kam zurück.

»Ich finde Ihr Verhalten mehr als merkwürdig, das muß ich schon sagen. Neulich konspirieren Sie mit dem Kind, mischen sich in meine Erziehungsmethoden … Was ist das? Wer sind Sie eigentlich?« – »Unsre Namen haben wir Ihnen gesagt. Übrigens …« – »Frau Adriani«, sagte die Prinzessin, »niemand will Sie hier kontrollieren oder sich in Ihre Arbeit einmischen. Sie haben sicherlich viel Mühe mit den Kindern – das ist ja klar. Aber wir möchten doch die Mama in jeder Weise informieren …« – »Das besorge ich schon«, sagte Frau Adriani. – »Gewiß. Wir möchten ihr bestellen, daß wir die Kleine wohl und munter angetroffen haben … und wie es ihr geht, und … da kommt sie ja.«

Das Kind näherte sich schüchtern dem Tisch, an dem wir saßen; es ging unsicher und trippelnd und kam nicht ganz nah heran. Wir sahen es an; das Kind sah uns an …

»Na, Ada«, sagte die Prinzessin, »wie geht es dir denn?« – Die Stimme der Adriani: »Sag mal guten Tag!«, und das Kind zuckte zusammen und stotterte etwas wie guten Tag. »Wie geht’s dir denn?« – Die Frau Adriani ließ kein Auge von dem Kind. Das kleine Mädchen sprach wie hinter einer Mauer. »Danke … gut …«

»Ich soll dir auch einen schönen Gruß von deiner Mama bestellen«, sagte die Prinzessin. »Sie läßt dich grüßen – und dann fragt sie hier in diesem Brief« – die Prinzessin kramte in ihrem Täschchen – »ob das Grab von Will auch gut in Ordnung ist. Das war wohl dein kleiner Bruder?« – Das Kind wollte ja sagen – aber es kam nicht dazu. »Das Grab ist in Ordnung«, sagte Frau Adriani, »dafür sorge ich schon. Wir gehn alle paar Wochen auf den Friedhof, das ist Pflicht, natürlich. Und das Grab wird dort gut gepflegt, ich überwache das, ich trage die Verantwortung.« – »So, so …«, sagte die Prinzessin. »Und hier habe ich dir auch etwas mitgebracht, eine Puppe! Da! Spielst du denn auch schön mit den andern Mädchen?« Das Kind sah angstvoll hoch und nahm die Puppe; seine Augen verdunkelten sich; es schluckte, schluckte noch einmal, ließ dann plötzlich den Kopf sinken und fing an zu weinen. Es war so jämmerlich. Das Weinen warf alles um. Frau Adriani sprang auf und nahm das Kind bei der Hand.

»Du kommst jetzt heraus und gehst nach oben … das ist nichts für dich! Den Gruß hast du ja nun gehört, und …« – »Einen Augenblick«, sagte ich. »Ada, wenn du einmal etwas Wichtiges an deine Mutti zu bestellen hast: Wir wohnen im Schloß Gripsholm!« – »Hier wird gar nichts Wichtiges bestellt«, sagte die Frau Adriani recht laut und ging mit der Kleinen schnell zur Tür. »Was hier – da geh doch schon! – was hier zu bestellen ist, das wird durch mich bestellt – und du merk dir das …« Sie sprach draußen weiter, wir hörten sie schelten, konnten aber nichts mehr verstehn. »Soll ich …« – »Keinen Krach«, sagte die Prinzessin. »Das hat nur das Kind auszubaden. Wir werden mit Zürich telephonieren und dann weiter sehn!« Wir standen auf.