Loe raamatut: «Die Grenze», lehekülg 5

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20 Minuten später kamen Frank und Ivan an dem Supermarkt in Dulingen an. Die Wolkendecke hatte sich noch ein Stück weiter zugezogen und ließ kein Sonnenlicht durch ihren depressiv grauen Schleier hindurchschimmern. Vereinzelte Regentropfen fielen auf das Autodach des Polizeiwagens herunter und erzeugten ein leises, altbekanntes, metallenes Klopfen. Leicht fröstelnd zog Frank seine Jacke zu und steckte die Hände in die Taschen, als er sich mit seinem Kollegen auf den Weg in das Gebäude machte. Schon am Eingang erkannten sie den völlig aufgewühlten Mitarbeiter, der sich hilfesuchend – möglicherweise auch eher paranoid – nach allen Seiten umblickte und bereits von einem der anderen Angestellten beruhigt wurde. Zumindest schien er es zu versuchen. Scheinbar ziemlich erfolglos.

„Guten Tag“, begrüßte Frank die beiden freundlich und unvoreingenommen.

„Ah, sehr gut, die Polizei ist da“, sagte der aufgewühlte Mann und machte sofort ein paar schnelle Schritte auf ihn zu.

„Ich bin bereit, eine vollständige Aussage zu machen und Ihnen den Mann zu beschreiben. Wenn es hilft, mache ich Ihnen hier und jetzt eine Phantomzeichnung. Ich ... ich kann sowas. Ich bin freiberuflicher Künstler. Zugegeben im Bereich von Comic und Karikaturen, aber ich bekomme das hin, versprochen! Geben Sie mir nur einen Stift und ich zeige Ihnen ...“, stammelte der hagere Mann mit Akne im Gesicht und gestikulierte dabei nervös mit seinen Armen.

„Ganz ruhig Dominik, alles wird gut. Atme ruhig ein und wieder aus. Alles wird gut“, versuchte der andere, etwas jüngere Mann, ihn zu beschwichtigen und legte ihm beruhigend seine Hand auf die Schulter.

„Du kannst mich mal mit deinem dämlichen ‚atme ein‘!“, entgegnete er aufgebracht und stieß seine Hand von sich weg. Einige der Kunden drehten sich neugierig und überrascht zu ihm herum und begannen leise zu tuscheln.

„Beruhigen Sie sich erstmal!“, brachte Frank die Debatte zum Schweigen. Melkovich stand teilnahmslos neben seinem Freund und starrte Löcher in die Luft. Jeder tat das, was er am besten konnte. Frank kümmerte sich um das Reden und Ivan stand daneben und setzte stumm seinen strengen und kontrollierenden Blick auf, der durch die scharfen Kanten seines Kiefers noch besser zur Geltung kam. In Szenarien wie diesen waren sie ein eingespieltes Team. In einem Verhör würde Frank die Rolle des sogenannten „Good Cop“ und Ivan die des „Bad Cop“ einnehmen. Zwar hatten sie noch nie eines geführt, da sie bloß Streifenpolizisten waren, aber auch so war die Verteilung dieser Rollen mehr als eindeutig zu erkennen.

„Was ist hier passiert?“, fuhr er fort, nachdem die beiden Männer verstummt waren und ihn kleinlaut ansahen. Wenn man ihr Alter miteinander addieren würde, wären sie wahrscheinlich immer noch jünger als ich, dachte Frank und stöhnte verzweifelt innerlich auf.

„Hier war ein Verrückter! Der muss geisteskrank gewesen sein! Wahrscheinlich schizogen oder so!“, ergriff der aufgewühlte Mann mit der Akne wieder das Wort und fuhr sich angestrengt durch seine kurzen, blonden Haare. Seine Stirn glänzte schwach von Schweißperlen und dem Licht der Deckenleuchten.

„Verzeihung?“, fragte Frank verwirrt und runzelte leicht genervt die Stirn. Er konnte es nicht leiden, wenn Jungspunde sich nicht vernünftig ausdrücken konnten. Nervosität hin oder her.

„Naja so schizogen halt. Wenn man anfängt mit sich selber zu reden oder so, was weiß ich“, erklärte er bruchstückhaft und zuckte unkontrolliert mit den Schultern.

„Sie meinen schizophren?“

In Gedenken an unsere Kollegen Herbert Plock & Sebastian Körtel, die ihr Leben zum Schutze anderer geopfert haben. Ruhet in Frieden, Männer.

„Ja, kann sein, aber wie auch immer. Der Kerl muss krank oder gestört gewesen sein. Wenn sie mich fragen wahrscheinlich sogar beides.“

„Ganz in Ruhe. Gehen wir den Vorfall der Reihe nach durch. Was genau ist passiert?“, wiederholte Frank mit einem Unterton, in dem so viel Hoffnungslosigkeit steckte wie nur möglich. Der Mann, dessen Name allem Anschein nach Dominik war, befolgte schlussendlich den Tipp, den ihm sein Kollege bereits vor einigen Minuten gegeben hatte und atmete ein paar Mal tief durch, bis er sich bereit fühlte zu erzählen, was passiert war.

„Ich war gerade dabei, das Regal mit den Wasserflaschen aufzufüllen, als ich sah, wie jemand versuchte die Tür zum Lager zu öffnen. Natürlich bin ich sofort hingegangen und habe ihn darauf hingewiesen, dass er dort nicht reindürfe, wenn er hier nicht arbeite. Auf einmal hat er sich umgedreht und gemeint, dass er hier arbeiten würde und bloß seinen Schlüssel verlegt hätte und ich ihm doch bitte meinen leihen solle. Natürlich hab ich ihm nicht geglaubt und verlangte, seinen Mitarbeiterausweis zu sehen. Ich weiß nicht wie und wann er ihn mir abgenommen hatte, aber auf einmal zeigte er mir meinen Ausweis vor und bat mich erneut nach dem Schlüssel für die Tür und auch für die Kasse. Er müsste noch ...“

Fragend sah Frank den Mann an. Er wollte nicht noch mehr Zeit hier verbringen als notwendig.

„Was müsste er noch?“

Unsicher und verlegen starrte Dominik auf die Fugen zwischen den Bodenfliesen und wischte sich mit einem angestrengten Schnaufen den Schweiß von der Stirn.

„Er müsste noch das Geld für die Sachen, die er sich beim letzten Mal aus dem Lager genommen hatte, bezahlen“, erzählte er mit wackeliger Stimme.

„Fehlt denn etwas aus dem Lager?“, mischte Ivan sich zum ersten Mal mit in das Gespräch mit ein und beäugte Dominik skeptisch. Das Zögern des jungen Supermarktmitarbeiters machte ihn misstrauisch. Hinter ihnen nahm eine Mutter ihrem kleinen Sohn einen Eimer mit Kirschtomaten aus der Hand und stellte ihn zurück auf den Tisch mit den regionalen Produkten.

„Die sind viel zu teuer“, meckerte sie ihr Kind an und nahm eine in Plastik eingeschweißte Verpackung mit Tomaten aus Spanien, die 20 Cent günstiger waren.

„Nein“, sagte Dominik eilig, was Ivans Misstrauen nicht besänftigte. Sein Tonfall klang nicht ehrlich, sondern vielmehr so, als wenn er etwas zu verbergen hätte, aber dies in seiner Aufregung nicht wirklich überzeugend rüberbringen konnte.

„Doch“, warf der andere Mitarbeiter neben ihm überrascht ein. Verwirrt sah Frank erst den nervösen Mann mit Akne, der mittlerweile einen hochroten Kopf bekommen hatte, dann den anderen Mitarbeiter neben ihm an, der seinen Kollegen ebenso verwirrt musterte.

„Also, was denn nun?“

„Seit ein paar Monaten fehlen immer wieder mal Gutscheine, Drogerieartikel und vereinzelte Lebensmittel, die aber in keinem der Kassensysteme als bezahlt aufgeführt werden“, berichtete er sachlich, ohne wie Dominik auszuschweifen oder emotional aufzudrehen.

„Weiß ihr Chef davon?“

„Ja, ich habe bereits vor zwei Monaten mit ihm darüber geredet, aber er meinte, dass es an den Kassen liegen könnte, wenn vereinzelte Artikel nicht in den Rechnungen auftauchen. Seitdem kontrollieren wir stärker, was gekauft wird, aber es verschwinden immer noch Sachen und die Überwachungskameras fallen ständig aus.“

„Hat diese Woche etwas gefehlt?“, fragte Frank weiter. Im Augenwinkel beobachtete er, wie Dominik immer kleiner und nervöser zu werden schien.

„Ja. Drei Gutscheine für Amazon im Wert von jeweils einhundert Euro und fünf Steam Karten im Wert von jeweils fünfzig Euro. Wir haben bereits einen Detektiv engagiert, der sich der Sache annimmt, aber auch der ist bisher zu keinem Ergebnis gelangt“, erzählte er und zuckte enttäuscht mit den Achseln.

„Und Sie wussten davon nichts Herr ...“

„Grüner“, antwortete er aufs Wort. Sein Gesicht hatte inzwischen dieselbe Farbe wie seine Pickel und strahlte eine abnormale Hitze ab. Nervös begann Dominik sich zu kratzen und wich den Blicken der beiden Beamten kontinuierlich aus.

„Herr Grüner“, begann Frank ernst und trat einen Schritt näher an ihn heran.

„Sie wussten also nichts davon, dass hier wöchentlich für den Verkauf bestimme Artikel aus dem Lager entwendet werden?“

„Naja was heißt nichts davon gewusst ... Ich war bei den letzten Meetings nicht immer dabei, verstehen Sie? Das letzte Mal, als ich da war ... Nun ja ...“, stammelte er verlegen und suchte Hilfe bei seinem Kollegen, der jedoch nicht im Ansatz auch nur daran dachte, ihm zur Hilfe zu springen.

„Herr ...?“, fragte Frank den anderen Supermarktmitarbeiter, ohne auf das Gestammel einzugehen, das Herr Grüner von sich gab.

„Bauermann.“

„Sagen Sie, Herr Bauermann, wann war ihr letztes Meeting?“, forderte er ihn auf und sah, wie in den Augen von Grüner vor ihm förmlich die Panik aufstieg.

„Lange ist das noch nicht her. Vor zwei Tagen erst hat uns der Filialleiter zu einer Besprechung wegen den Diebstählen zusammengerufen“, erzählte er gelassen. Respektvoll sah er dem Polizisten in die Augen und verschränkte, wie wenn er einem ranghöheren Offizier Bericht erstatten würde, die Arme hinter dem Rücken. Er hatte nach seinem Realschulabschluss einen 20-monatigen freiwilligen Wehrdienst absolviert und spielte gerne den respektvollen und gehorsamen Soldaten, wenn es ihm möglich war. Aus diesem Grund wurde er von vielen geschätzt, da sie es liebten, wie ein hohes Tier behandelt zu werden und aus eben diesem Grund wurde er auch von vielen mit rollenden Augen betrachtet, da sie sich von ihm zum Narren gehalten fühlten, wenn er sich auf diese Art und Weise begann aufzuplustern. Auch Frank fühlte sich leicht zum Narren gehalten, ignorierte dieses Gefühl jedoch bestmöglich, da er nicht davon ausging, dass der junge Mann es tatsächlich so meinte und stufte es, wie vieles andere auch, als jugendliches Übermaß an Motivation ein.

„War Herr Grüner anwesend?“

Noch bevor Dominik empört und nervös zugleich widersprechen und die Antwort seines Arbeitskollegen abwürgen konnte, hatte dieser Franks Frage bereits mit einem Ja beantwortet.

„Es ist nicht, was Sie denken, Officer ... Sehen Sie, ich war abgelenkt und habe nicht mitbekommen, dass ...“, versuchte er sich eilig in seiner Panik zu erklären. In kleinen, feinen Tropfen lief ihm der Schweiß über die Falten seiner Stirn, und er suchte vergeblich mit seinen Augen nach Hilfe oder Nachsicht von einem der drei Männer um ihn herum.

„Sie werden mir jetzt genau zuhören, Herr Grüner, verstanden?“

„Aber ...“

„Haben Sie mich verstanden?“, wiederholte Frank und spielte seine ganze Autorität, die er ausstrahlte, mit Wirkung aus und Dominik nickte ihm schüchtern zu. Verzweifelt ließ er den Kopf hängen und trocknete seine Stirn mit dem Ärmel seines Poloshirts.

„Erst einmal würde ich Sie bitten, den Blödsinn, mich Officer zu nennen, zu unterlassen. Wir sind in Deutschland und nicht in irgendeiner mittelklassigen amerikanischen Actionserie, kapiert? Sie werden mir jetzt eine Beschreibung des Mannes geben, der Ihnen neben ihrem Ausweis noch den Schlüssel abnehmen wollte, und dann werden mein Kollege und ich Sie zu ihrem Chef begleiten und eine Anzeige gegen Sie wegen Diebstahl aufnehmen. Sind Sie damit einverstanden?“, sagte Frank eiskalt.

Dominik öffnete den Mund, um sich ein letztes Mal kläglich und erfolglos verteidigen zu wollen, schloss ihn jedoch sofort wieder, als er die ernsten, fixierten Blicke der Polizisten sah und nickte ein weiteres Mal schwach.

„Gut“, sagte Frank, nahm einen kleinen Notizblock samt Stift aus seiner Jacke und machte sich bereit zu notieren, was Herr Grüner über den Mann zu erzählen hatte.

„Also? Wie sah der Mann aus?“, fragte er sichtlich entspannter und ließ die Mine des Kugelschreibers herausschnellen.

„Es war ein alter Mann. Um die 80, würde ich schätzen, und sein Gesicht war voller Falten“, erzählte er.

Auch er wirkte etwas entspannter. Vermutlich kam seine Gelassenheit daher, dass die seelische Last, die dieses Geheimnis mit sich gezogen hatte, nun von ihm abgefallen war und sein Gewissen glatt einen Zentner an Gewicht verloren hatte.

„Irgendwelche Auffälligkeiten? Merkmale, an denen man ihn identifizieren könnte?“

Frank begrüßte die neu gewonnene Leichtigkeit des Mannes sehr. Es ersparte ihm viel Mühe, dass er die Sachen nun nicht mehr aus ihm herausquetschen musste, sondern er sie bereitwillig zugab und endlich seine Aussagen wegen des „Verrückten“, wie er ihn bezeichnet hatte, tätigen konnte.

„Seine Augen. Die waren gelb“, erzählte er.

„Wahrscheinlich jemand mit Leberproblemen“, murmelte Frank und warf einen Blick zu Ivan hinüber, der sich etwas weiter links positioniert hatte, um den jungen Mitarbeiter notfalls aufhalten zu können, wenn er an Frank vorbeilaufen wollen würde, um zu fliehen.

„Nicht so gelbe Augen“, warf Dominik ein.

„Wie meinen Sie das?“

„Seine Augen waren nicht gelb wie bei einer Krankheit, sondern das Innere. Dies hier“, erzählte er und zeigte auf die Iris seines rechten Auges. Wahrscheinlich gelbe Kontaktlinsen, kritzelte er in seiner unsauberen Schreibschrift auf den Block.

„Gibt es noch etwas Auffälliges, das Sie uns über ihn sagen können? War er irgendwie auffällig gekleidet?“

„Das kann man so sagen“, sagte Dominik und lächelte nervös.

„Was genau an seiner Kleidung war für Sie besonders auffällig?“, fragte Frank und sah erwartungsvoll in das von Pickeln und Mitessern übersäte Gesicht des jungen Mannes.

„Nun ja ...“ Verlegen kratze er sich am Hinterkopf und sah die beiden Polizisten abwechselnd an, als ob er bereits wissen würde, dass sie ihm ohnehin nicht glauben würden.

„Er trug einen Schlafanzug.“

16

Unsicher warf Kris einen letzten Blick auf den Bildschirm, ehe er den Computer auf seinem Schreibtisch herunterfuhr. Marion war vor einer halben Stunde gegangen und hatte ihn mit seiner Arbeit am Rechner alleine gelassen. Sein letzter Patient, ein Junge namens Erik Nitz, war vor einer Stunde gegangen. Er hatte sich wegen ein paar Prellungen, von denen er partout nicht erzählen wollte, woher er sie hatte, eine Salbe und ein schwaches Schmerzmittel aufschreiben lassen. Das Schmerzmittel hatte Kris ihm erst nach einiger Überlegung verschrieben, denn schließlich wäre jedes Medikament, das nicht zwingend nötig sei, im Endeffekt schädlicher, als wenn man einfach die Zähne zusammenbeißen und keine Mimose abgeben würde. Doch nachdem Erik demonstrierte, dass er vor Schmerzen nicht mehr in der Lage war, seinen linken Arm vollständig auszustrecken, hatte Kris sich schlussendlich dazu durchgerungen, ihm eine Packung Ibuprofen 200 mg aufzuschreiben.

Es war bereits das zweite Mal diesen Monat, dass der Junge mit Prellungen und teilweise schlimm aussehenden Blutergüssen zu ihm gekommen war. Rechtlich gesehen dürfte er in diesem Fall seine Schweigepflicht brechen, um dem Jugendamt eine begründete Vermutung vorzulegen. Doch er hatte weder handfeste Beweise dafür, dass der Junge zuhause geschlagen wurde, noch wollte Erik darüber reden, was der wirkliche Grund für seine Verletzungen war. Zumindest waren seine bisherigen Erklärungen immer ziemlich unstimmig und passten nicht in das Gesamtbild. Das musste zwar nicht zwangsläufig bedeuten, dass seine Aussagen falsch waren und er ihn anlog. Allerdings war es mehr als merkwürdig, dass er sich beim Fußballtraining verletzt hätte, wenn er eine schwere Prellung am Arm hatte, wegen der er diesen nicht vollständig nutzen konnte. Ebenso seine Erklärung am Anfang des Monats, als er Kris gesagt hatte, dass er die Leiter, die zum Dachboden führte, hinuntergefallen war, obwohl diese schon längst nicht mehr existierte. Harald, Eriks Vater, war Anfang des Jahres in seiner Praxis gewesen und hatte sich beim Ausmisten des Dachbodens den Arm gebrochen, da er von jener Leiter gestürzt war. Wutentbrannt, aber in angemessener Lautstärke, hatte er ihm erzählt, dass er das „Scheißding“ abbauen und auf den Schrott schmeißen würde, wenn da oben alles ausgeräumt wäre. Nach dem, was seine Patienten ihm erzählt hatten, lag die Leiter einen Monat später tatsächlich als Sperrmüll auf dem Bürgersteig und wartete darauf, abgeholt zu werden. Wirklich glaubhaft erschienen seine Begründungen folglich nicht, aber was sollte er machen? Es war nicht seine Entscheidung, dass er nichts tun konnte, was dem Jungen in irgendeiner Weise helfen würde. Aber wer entschied so etwas schon? Der Staat? Wohl kaum. Das Schicksal? Eher nicht. Gott? Vermutlich weniger. Vielleicht war es nicht wirklich sinnvoll, in dieser Sache einen Schuldigen ausfindig machen zu wollen. Es war ja doch bloß vergebene Liebesmüh, und ohnehin war die Frage nach der Schuld etwas, das Philosophen und andere Theoretiker, die mit ihrer „Arbeit“ gerne den Sauerstoff anderer aufbrauchten, diskutieren sollten. Es war nicht seine Aufgabe, sich mit derartigen Dingen auseinanderzusetzen und er wollt es auch gar nicht. Also schwieg er.

Die Realität war der Arbeitsbereich von Lehrern, Ärzten und Handwerkern. Philosophen, Schriftsteller und Künstler hingegen haben keinen Arbeitsbereich. Sie haben einen Spielplatz, gegründet von den Gebrüdern Fantasie und Gedankenspiel, auf dem sie sich, ohne müde zu werden, austoben können. Sie sind wie die verlorenen Kinder in Peter Pan, die nie erwachsen werden und sich dem Ernst des Lebens und der Härte der Realität in ihrer eigenen Welt nie ausgesetzt sehen. Manchmal erwischte Kris sich selbst dabei, wie er in Gedanken schwebte und sich selbst gerne für nur eine Sekunde auf diesem Spielplatz verlieren wollen würde, ehe er wieder mit dem Kopf in der Realität ankam und sich seiner Verantwortung und seines Berufes bewusst wurde. Er hatte keine Zeit, sich mit dem Surrealen und anderen Märchen aus nie existierenden Traumwelten auseinanderzusetzen. Fantasie war etwas für Träumer, Nichtsnutze, Bettler und Kinder. Nichts für jemanden mit seiner Bildung und seines Standes, wie es ihm immer wieder von seinem Vater eingebläut worden war.

Mit leichtem Unbehagen nahm er seinen Koffer und seine Jacke und verließ die Praxis. Unruhig machte er sich auf den Weg zu seinem Auto, das er zwei Straßen weiter geparkt hatte. Seine Gedanken kreisten seit gestern Abend immer wieder um den Mann im Schlafanzug, den er heute bereits zum zweiten Mal gesehen hatte. Auch das Ereignis am Morgen war noch nicht genug gewesen. Nachdem er während seiner Sprechstunde kurzzeitig den Raum verlassen hatte, um die Toilette aufzusuchen, klebte bei seiner Rückkehr an seinem Bildschirm ein gelber Zettel mit einer Notiz.

„Doktor Aeterna Somnum bittet morgen um 7:30 zur Sprechstunde. Seien Sie pünktlich!“, lautete die Schrift auf dem gelben Post-it, den er aus seiner Hosentasche kramte und fragend betrachtete. Kopfschüttelnd bog er um die Straßenecke. Neben die Nachricht hatte jemand mit einem schwarzen Edding einen Sichelmond mit geschlossenen Augen und Mütze gemalt und symbolisierend den Buchstaben Z in mehrfacher Ausführung über ihn gekritzelt. Er betrachtete ihn noch ein paar Sekunden, dann warf er ihn in die Hecke des Grundstücks, an dem er vorbeiging. Der Wind wird ihn verschwinden lassen, dachte er sich und verdrängte den Gedanken an das kleine beschriebene Stück Papier. Er würde jetzt zu seinem Auto gehen, und dann würde er seinen Sohn von der Kita abholen.

Alles ist in Ordnung. Du bist nicht verrückt, also benimm dich auch so!

So einfach war das. Keine Männer in Schlafanzügen und keine halb überfahrenen, schreienden Babys. So einfach und verständlich, denn das war die Realität meistens auch, und genauso sollte sie sein. Zumindest ließ sie sich dann am leichtesten ertragen.

Immer noch etwas zerstreut, atmete er einmal tief durch, bevor er in sein Auto stieg und zu der Kita fuhr, die sein Sohn besuchte.

Eine Viertelstunde später kam er mit seinem Wagen auf der kleinen Parkfläche vor dem alten, flachen Holztor der Kita zum Stehen. Müde schaute er auf seine Uhr. Es war bereits halb vier geworden. Gerade als er sich abschnallen und aus dem Auto aussteigen wollte, sah er, wie sein Sohn lächelnd auf ihn zugelaufen kam. Er trug immer noch die blaue Regenjacke, die Juleen ihm, trotz Protest seinerseits, heute Morgen angezogen hatte. Gelassen öffnete Kris die Tür. Leichter Schwindel überkam ihn, als er das Auto verließ.

„Papa“, quietschte er glücklich und stürmte in seine offenen Arme.

„Na, mein Großer. Hast du dich gut benommen?“, fragte Kris und hob ihn hoch. Die Wärme, die von seinem kleinen Körper ausging, hatte etwas Beruhigendes und Zufriedenstellendes an sich. Sie brachte den Eisblock, der Kris‘ Psyche beschwerte, ein wenig zum Schmelzen. Erhielt den Atem an als er sein Kind an sich drückte und schloss in einem Moment der Zufriedenheit die Augen.

„Guten Tag, Herr Doktor“, begrüßte ihn Charlene, die Erzieherin, und blieb lächelnd im geöffneten Holztor stehen. Ein wenig traurig, dass sein Augenblick von seelischem Frieden vorbei war, öffnete Kris die Augen und erwiderte die Begrüßung mit einem aufgesetzten Lächeln. Charlene hatte Merlin schon des Öfteren mit nach draußen gebracht, wenn Kris ihn abholte. Er versuchte, sich nichts darauf einzubilden, aber ihre Blicke sprachen häufig eine andere Sprache, als dass es nichts wäre. Zwar war er verheiratet, aber es schmeichelte ihm ungemein, dass er scheinbar immer noch eine Anziehung auf andere Frauen hatte. Besonders, wenn es eine Frau wie Charlene war. Sie war etwas kleiner als Kris, Mitte 20 und ihre weiblichen Rundungen ließen sich auch von dem Pulli, den sie trug, nicht verstecken. Manchmal spielte Kris mit dem Gedanken, wie es wohl wäre, mit ihr im Bett zu sein. Wäre sie ein Mauerblümchen oder verbarg sich unter der Maske der sympathischen und kinderliebenden Erzieherin in Wahrheit eine lüsterne Nymphomanin? Der Gedanke, dass Charlene in Wirklichkeit alles andere als harmlos und unschuldig war, erregte ihn. Manchmal machte er sich Vorwürfe, wenn er darüber nachdachte, aber was könnte er gegen den ältesten Trieb des männlichen Geschlechts schon ausrichten?

Schuld war etwas, das Philosophen und andere Theoretiker diskutieren sollten.

Aus diesem Grund arrangierte er sich mit seinem stillen Gedankengang und versuchte, dessen Präsenz bestmöglich zu unterdrücken.

„Ich hab dir ein Bild gemalt, Papa“, erzählte Merlin ihm und hoppelte leicht auf seinem Arm auf und ab. Kris schenkte ihm ein ehrliches Lächeln und küsste ihm die Wange.

„Das ist aber lieb. Hast du Mami denn auch eins gemalt?“, fragte Kris und sah Merlin in die Augen. Sie waren eisblau und ein nahezu perfektes Spiegelbild zu seinen. Aufgeregt begann er zu nicken.

„Da wird sie sich bestimmt drüber freuen“, sagte er und öffnete die Tür zur Rückbank. In aller Seelenruhe setzte er ihn auf seinen Kindersitz hinter dem Fahrersitz und schnallte ihn an. Als er ihn anschnallte, fiel ihm auf, dass die Ärmel seiner Jacke zu kurz waren und seine Arme bereits mehr aus den Öffnungen herausschauten, als sie eigentlich sollten. Innerlich machte er sich eine Notiz, dass er am Wochenende mit ihm und Juleen in die Stadt fahren müsste, um eine Neue zu besorgen. Vielleicht würde er seiner Frau dann auch ein kleines Geschenk kaufen. Er hatte ihr schon länger nichts mehr einfach so geschenkt. Wahrscheinlich gehörte das zu den Dingen, die, wie man so schön sagte, mit der Ehe immer weniger wurden. Doch Kris wollte nicht das Standardbild des immer weniger fürsorglichen und aufrichtigen Ehemanns sein, denn er liebte seine Frau immer noch über alles. Auch seine gelegentlichen Gedankenspiele, die sich um Merlins attraktive Erzieherin drehten, änderten nichts daran.

„Ich bin sofort da, okay?“, versicherte er ihm und bückte sich in den Wagen hinunter.

„Okay“, antwortete er knapp und untersuchte neugierig die Taschen seiner Jacke.

„Ich liebe dich“, sagte er lächelnd, doch erhielt keine Antwort, da Merlin von der kleinen Superheldenfigur, die er gefunden hatte, so fasziniert war, dass er ihn gar nicht hörte. Leise schlug er die Autotür zu und wandte sich Charlene zu, die mit dem Rucksack von Merlin in der Hand am dunklen Holztor stand.

„Harter Tag?“, fragte sie freundlich und reichte ihm den gelb-blauen Kinderrucksack.

„Kann man so sagen“, erwiderte er und nahm ihr dankend den Rucksack aus der Hand. Ihr Dior-Parfum stieg ihm in die Nase. Nichts Billiges, so viel stand mal fest. Es war ein Weihnachtsgeschenk ihres Ex-Freundes gewesen, der als Bankier arbeitete und sie während der Arbeitszeit mit einer seiner Kundinnen auf der Angestelltentoilette betrogen hatte, weswegen sie schlussendlich die Beziehung für beendet erklärt hatte.

„Kann ich mir gut vorstellen“, sagte sie und schmunzelte verlegen, da sie merkte, dass die Chance, ein richtiges Gespräch zu beginnen, gerade in den Minusbereich sank.

„Wie macht Merlin sich? Gibt es irgendwelche Probleme mit ihm?“, fragte er höflich, um ihr die Verlegenheit ein wenig zu nehmen.

„Er ist ein lieber Junge, und er hat eine unglaubliche Fantasie. Aber er ist oft alleine und findet keinen richtigen Anschluss, weil er sich lieber mit seinem eigenen Kopf beschäftigt als mit anderen“, erzählte sie ihm und sah den Jungen durch die Scheibe hindurch leicht bemitleidend an.

„Er ist ein Träumer. Das sind die meisten Kinder in dem Alter.“

„Ich hoffe, dass sich das schnell legen wird“, erklärte Kris und sah betreten den Asphalt unter seinen Füßen an.

„Ich hoffe nicht“, seufzte sie.

„Wieso?“, fragte er ein wenig beleidigt. Er war kein großartiger Fan von Widersprüchen. Seine ganz eigene Arroganz ließ etwas wie Gegenwehr oder andere Meinung nicht gerne zu, weswegen er ziemlich ungern Diskussionen über Themen führte, zu denen es vielfältige Meinungen gab, wovon er den meisten nichts abgewinnen konnte. Zustimmung war für ihn das höchste Gut, das er erhalten, aber nur sehr selten abgeben konnte.

„Unsere Träume und unsere Fantasie sind oft das Einzige, das uns vor den Grausamkeiten des Lebens bewahren. Kinder leben sorglos, weil sie Träumer sind. Erst ab dem Zeitpunkt, in dem wir aufhören zu träumen, verlieren wir uns in Problemen und fangen an, das Leben als Krankheit und nicht als das Wunderland anzusehen, das es eigentlich sein sollte“, erklärte sie ihm.

„Es ist besser, wenn die Kinder früh lernen, dass die Welt alles andere als ein Wunderland ist. Die Welt ist Korruption, Betrug, Arbeit und vor allem Geld. Man kann keine Prinzessin wie im Märchen oder Cowboy wie im Wilden Westen werden. Wir belügen sie, um ihnen nicht unverblümt ins Gesicht sagen zu müssen, dass die Welt kein Spielplatz, sondern ein Gefängnis ist“, erwiderte er verärgert. Bemitleidend sah Charlene ihn an.

„Und genau deswegen mache ich diesen Job und nicht sie“, sagte sie langsam und mit einer Ruhe, die mehr als beneidenswert war.

„Einen schönen Tag noch, Herr Doktor.“

Mit diesen Worten machte sie auf dem Absatz kehrt und ging zurück in das Gebäude der Kita. Kopfschüttelnd, aber trotzdem nachdenklich stieg Kris in das Auto und legte den Rucksack zu seinem Sohn auf den Rücksitz. Nachdem er mit gesenktem Kopf einige Sekunden seinen Sohn im Rückspiegel ansah, startete er den Motor und ließ den Wagen vom Parkplatz rollen.

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