Loe raamatut: «Tugenden für eine bessere Welt», lehekülg 2

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1. Der Blick zurück: das Paradigma des Feindes und der Konfrontation

Um angesichts der neu entstehenden Wirklichkeiten Orientierung zu finden, richtet ein großer Teil der Gesellschaften und Personen den Blick zurück auf die Vergangenheit ihres Volkes. Um ihre Identität neu zu definieren, nehmen sie Zuflucht bei den Traditionen, der Sprache, den Religionen, den Sitten, den Ruhmestaten ihrer Kultur, den Nationalhelden, den typischen Werten und Festen, den literarischen und aus Stein und Metall bestehenden Denkmälern, den die Zeiten überdauernden Institutionen und den Ökosystemen in ihrer Einmaligkeit und Schönheit. Gleichzeitig beziehen sie sich auf ihnen nahestehende Völker und Kulturen, deren Schicksal sie teilen, und andere, denen gegenüber sie ein spannungsreiches, ja sogar feindliches Verhältnis haben.

Wenn man sich der eigenen Identität mit Hilfe der Vergangenheit vergewissert, dann betont man den Unterschied zu anderen Identitäten. Freund und Feind sind hier klar definiert. Einer der modernen politischen Philosophen, Carl Schmitt (1888 – 1985), analysierte diesen Prozess in seiner berühmten Arbeit Der Begriff des Politischen:

„Solange ein Volk in der Sphäre des Politischen existiert, muss es . . . die Unterscheidung von Freund und Feind . . . bestimmen. Darin liegt das Wesen seiner politischen Existenz.“ (Schmitt 1933, 32)

Wer ist ein Feind?

„Der Feind ist in einem besonders intensiven Sinne existentiell ein Anderer und Fremder, mit dem im extremem Fall existentielle Konflikte möglich sind. . . . Den extremen Konfliktsfall können daher nur die Beteiligten selbst unter sich ausmachen; insbesondere kann jeder von ihnen nur selbst entscheiden, ob das Anderssein des Fremden im konkret vorliegenden Konfliktsfall die Negation der eigenen Art Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt oder bekämpft werden muss, um die eigene, seinsmäßige Art von Leben zu retten. In der psychologischen Wirklichkeit wird der Feind leicht als böse und hässlich behandelt . . .“ (Schmitt 1933, 8).

Ein anderer bekannter zeitgenössischer politischer Philosoph, der sich dem Thema der Globalisierung widmet, Samuel P. Huntington, behauptet in seinem Buch Der Kampf der Kulturen Ähnliches: „Für Menschen, die ihre Identität suchen und ihre Ethnizität neu erfinden, sind Feinde unabdingbar . . . Wir wissen, wer wir sind, wenn wir wissen, wer wir nicht sind und gegen wen wir sind.“ (Huntington, 1996, 19 und 21).

Diese Sichtweise ist, wie man unschwer erkennen kann, mit Risiken behaftet. Sie orientiert sich nämlich am Paradigma des Feindes und an der Bereitschaft zum Konflikt bis hin zum Krieg. Die Zeit nach dem Kalten Krieg ist tatsächlich durch viele Kriege in den verschiedenen Teilen der Welt geprägt. Sie gingen von Gruppierungen aus, die ihre jeweilige Identität verteidigen wollten – entweder, weil sie diese von traditionellen Feinden oder vom herrschenden gleichmacherischen Globalisierungsprozess bedroht sahen. Dieser ist durch eine Verwestlichung der Welt, die viele als Vergiftung durch den Westen anprangern, durch Vereinheitlichung der Wirtschaftsräume und durch das Monopol eines einzigen politischen Denkens geprägt, welches die Hegemonie des Westens zum Ausdruck bringt. Zeitgleich zum Prozess der Globalisierung muss man bedauernswerterweise einen Prozess der Balkanisierung und der Fragmentierung des sozialen Zusammenhaltes der Menschheit feststellen.

Wir müssen ernsthaft bedenken: Wie können wir die anderen als Feinde betrachten, gegen die man Krieg führen muss, wenn wir nun gezwungen sind, auf dem kleinen Raum, den unser Planet darstellt, zusammenzuleben? Für wie realistisch dieses Freund-Feind-Schema sich auch immer selbst darstellen mag: Wir müssen uns seiner entledigen, wenn wir den einzigen Lebensraum miteinander teilen wollen, denn wir haben keinen anderen Ort als unser Gemeinsames Haus, die Erde. Das Freund-Feind-Denken ist das Fortbestehen von etwas, das der Vergangenheit angehört und keine Zukunft hat. Die Behauptung der ethnischen Identität in Abgrenzung von anderen, die es unterlässt, gemeinsame Brücken zu suchen, ist eine von vornherein verlorene Schlacht angesichts der einzigen gemeinsamen Identität, die zwangsläufig aus der Globalisierung der Gattung Mensch hervorgeht. Ein Krieg mit den Mitteln der modernen Technik könnte die biologische Zukunft der Gattung Mensch aufs Spiel setzen.

Genau diese reduktionistische Sichtweise ist es, die die Weltpolitik nach dem traurigen Anschlag vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten bestimmt. Man hält mit den Worten nicht hinter den Berg: Es handle sich um einen Krieg zwischen „den Ländern der Ordnung und des Chaos“, um einen Krieg gegen Länder, die als „Schurkenstaaten“ beschimpft werden, um einen Krieg zwischen der „Achse des Bösen“ und der „Achse des Guten“. Präsident George W. Bush wollte in seinem politisch-religiösen Fundamentalismus einen unerbittlichen, einen „Krieg ohne Grenzen“ gegen den Terrorismus und gegen alle, die ihn strategisch unterstützen, führen. Die hegemoniale Supermacht stellt alle Länder vor folgende düstere Alternative: Entweder sie sind für die USA und damit für die Zivilisation, oder sie sind für die Terroristen und damit für die Barbarei. Es gibt keine Ausflucht. Eigenartigerweise folgen die muslimischen Fundamentalisten derselben Logik, sie tauschen nur die Begriffe aus: Man muss das Reich des Bösen, die westliche Überheblichkeit, den Atheismus, den Materialismus der westlichen Kultur bekämpfen, die unter der Vorherrschaft der USA steht, und man muss sich für das Reich des Guten entscheiden, das heißt für die Religion und Kultur des Islam. Diese stellt alles unter die Herrschaft des einzigen und wahren Gottes, Allahs, und deshalb ist die Trennung zwischen Politik und Religion und zwischen Heilig und Profan hinfällig. Er stiftet die Brüderlichkeit zwischen allen Völkern.

Wie man leicht erkennen kann, sind wir hier mit zwei Formen des Fundamentalismus konfrontiert, die beide gleichermaßen auf Krieg bedacht sind und eine menschliche Globalisierung bedrohen.

Aufgrund dieser neuen Konfliktkonstellation vertreten Analytiker des Weltgeschehens wie Thomas L. Friedmann, ein Kolumnist der New York Times, oder Ephraim Halevi, der ehemalige Chef des israelischen Geheimdienstes Mossad und jetzt Präsident des nationalen Sicherheitsrates, die These, dass der 11. September 2001 der Beginn des Dritten Weltkriegs war – eines Krieges, der zwischen der Welt der Ordnung und des Chaos entfesselt wurde. Die Frage lautet: Um welche Art von Krieg handelt es sich? Werden darin alle Zerstörungspotentiale, über die man verfügt, genutzt, oder kommt es auf eine bewusste Selbstbegrenzung an? Denn wenn der Westen tatsächlich eine militärische Offensive mit Massenvernichtungswaffen startet, dann wird das Ergebnis so furchtbar sein, dass die zivilen Opfer, die einem Völkermord gleichkommen, in krassem Widerspruch zu den Werten genau dieser westlichen und demokratischen Zivilisation stehen, deretwegen man Krieg geführt hat. Wie man sieht, besteht das Paradigma des Feindes und der Konfrontation fort.

Wenn wir mit der Menschheitsfamilie weiterhin im Sinne dieses alten Paradigmas umgehen wollen, dann werden wir mit dramatischen Szenarien, wie etwa der ernsthaften Gefahr der Zerstörung des Projektes Mensch auf dem Planeten, konfrontiert werden. Was dieses Paradigma am Leben erhält, ist die zerstörerische Dialektik von Freund und Feind, die die Vergangenheit für die meisten Völker in so dramatischer Weise geprägt hat.

Innerhalb der Koordinaten der neuen planetarischen Phase, in der wir uns befinden, erscheint dieses Paradigma umso mehr simplifizierend, eindimensional und reduktionistisch. Es enthält nichts, was für die Zukunft einen Horizont der Hoffnung erschließen könnte. Deshalb ist die scharfe Ermahnung von Eric Hobsbawm am Platz, der am Ende seiner Bilanz des 20. Jahrhunderts in seinem Buch Das Zeitalter der Extreme sagt: „Unsere Welt riskiert sowohl eine Explosion als auch eine Implosion. Sie muss sich ändern . . . die Alternative zu einer umgewandelten Gesellschaft ist Finsternis.“ (Hobsbawm 1998, 720) Eine ähnliche Auffassung äußerte der große Historiker Arnold Toynbee (gest. 1975) am Ende seines Lebens, nachdem er zwölf Bände über die großen Zivilisationen der Geschichte verfasst hatte. In seinem autobiographischen Buch Erlebnisse und Erfahrungen sagt er in düsterer Weise: „Ich habe zu meinen Lebzeiten mitangesehen, dass die Gewissheit über das Kommen der ,Letzten Dinge‘ in der Welt des Westens verblasste und das Ende der Menschheitsgeschichte in den Bereich der irdischen Möglichkeiten rückte, die nicht von der Hand Gottes, sondern von Menschenhand herbeigeführt werden.“ (Toynbee 1970, 373 – 374)

Das Äußerste, was dieses Modell zustande bringt, ist eine unipolare Welt, entworfen von der Herrschermentalität einer einzigen Hegemonialmacht, die mit allen Mitteln ihre Vorherrschaft sichert. Es ist eine Macht, die nicht zögert, konventionelle Kriege und Präventivkriege zu führen und im Zweifelsfall Massenvernichtungswaffen einzusetzen. Sie unterwirft die Märkte und die Geldwirtschaft ihrer Kontrolle und zwingt die Länder ins Korsett einer einzigen weltweiten Strategie, die unter anderem die Produktion von Information durch einige wenige weltweite Konzerne beinhaltet, die mit der politisch-ökonomisch-militärischen Macht verbunden sind. Diese Macht rechtfertigt die Kultur der materiellen Güter, fördert eine verarmte Sichtweise der Realität, zielt auf die Gleichschaltung der bewusst erzeugten mentalen Vorstellungen und sorgt für die Durchsetzung standardisierter Verhaltensweisen und die künstliche Erzeugung von Geschmäckern.

Dies ist kein gangbarer Weg. Wir müssen dringend neue Durchbrüche finden.

2. Der Blick nach vorn: das Paradigma des Gastes und des Bundes

Eine andere Haltung angesichts der Globalisierung wendet sich der Zukunft und den Chancen zu, die sie in sich birgt. Dabei müssen wir uns dessen bewusst sein, dass wir es mit einzigartigen und neuen Phänomenen zu tun haben. Ein neuer Wein bedarf auch neuer Schläuche, eine andere Musik erfordert auch ein anderes Gehör. Die Protagonisten eines neuen Weltverständnisses wie Albert Einstein, Max Planck, Werner Heisenberg, Mme. Curie, Ilya Prigogine, D. Zohar, Edgar Morin, Sigmund Freud, Carl Gustav Jung, Pierre Teilhard de Chardin, Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela und Dom Hélder Câmara brachten jeweils zu ihrer Zeit klar das Bewusstsein zum Ausdruck, dass die verfügbaren Denkraster die neu auftauchenden Fakten nicht erfassen konnten. Sie brauchten neue wissenschaftliche Theorien oder neue soziale Kategorien, um die der Realität entspringenden neuen Fakten verstehen zu können. Mit imaginärer Kraft und Anstrengung des Denkens schufen sie bessere Instrumente der Erkenntnis und der sozialen Beziehung. Sie bereicherten unser Weltbild mit Theorien, von denen wir heute noch zehren.

Der Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn und der Quantenphysiker Fritjhof Capra reflektierten diesen schöpferischen Prozess und warfen die Frage nach dem Paradigmenwechsel auf. Grundlegende Veränderungen im Bewusstsein und in der Gesellschaft setzen einen Paradigmenwechsel voraus. Damit wollen wir sagen (und auf diese Weise erklären wir bereits den Begriff „Paradigma“), dass eine neue Weise der Wahrnehmung der Wirklichkeit entsteht, die neue Werte, neue Träume, eine neue Weise, das Wissen in ein organisches Gebäude zu integrieren, eine neue Art gesellschaftlicher Verhältnisse, eine neue Form der Beziehung zur Natur, eine neue Weise, die letzte Wirklichkeit schlechthin zu verstehen, ein neues Selbstverständnis und eine neue Verortung innerhalb der Welt des Lebendigen mit sich bringt.

Das neu entstehende Paradigma entfaltet sich in aufeinander folgenden Übergängen: Wir gehen vom Teil zum Ganzen über, vom Einfachen zum Komplexen, vom Lokalen zum Globalen, von Nationalen zum Planetarischen, vom Planetarischen zum Kosmos und vom Kosmos zum Mysterium und schließlich vom Mysterium zu Gott.

Dieses neue Paradigma begreift die Erde nicht mehr als bloß äußerliche Addition der Bereiche des Physischen, des Lebendigen, des Geistigen und des Spirituellen. Es verwirklicht vielmehr zugleich all diese Dimensionen und bildet so eine komplexe Ganzheit und ein System, das offen ist, Neues zu integrieren. Alle Lebewesen sind miteinander in Netzwerken innerhalb dieser komplexen kosmischen, irdischen, biologischen, anthropologischen und spirituellen Ganzheit nach allen Richtungen verbunden. Weder die Erde noch der Mensch sind einfach fertig. Sie entwickeln sich weiter und befinden sich in Prozessen ständiger Ausdehnung und Neuwerdung.

Für die Entstehung und Etablierung dieses neuen Paradigmas ist der auf die Zukunft gerichtete Blick entscheidend. Es kommt darauf an, eine in sich abgeschlossene Metaphysik zu überwinden, die unsere Sicht der Wirklichkeit mit dieser selbst gleichsetzt. Die Wirklichkeit übersteigt unsere Vorstellungen von ihr, denn sie steckt voller Möglichkeiten und Verheißungen, die ans Licht drängen. Deshalb gibt es inmitten dieser Übergangssituation und Krise unendlich viele Chancen. Für uns besteht die Herausforderung darin, ihnen Gestalt zu geben.

Hier treten die Visionäre, die Idealisten, die Propheten und die Theoretiker neuer Utopien auf den Plan. Ihre Vorstellungen sind zwar idealistisch, aber keineswegs in die Irre führend. Sie geben das wieder, was sein soll oder was wir tatsächlich brauchen. Doch es kommt darauf an, das, was sie sagen, angemessen zu verstehen. Es geht um Leitbilder und Landkarten, die uns auf unserer Suche Orientierung anbieten, uns zu klaren Entscheidungen verhelfen und ein neues Bewusstsein entstehen lassen.

Diese notwendigen Visionen vermitteln uns das Bewusstsein von der Besonderheit unserer historischen Situation. Unsere Wahrnehmung hat sich grundlegend verändert. Wir sind alle abhängig voneinander. Wir können nicht allein für uns leben und überleben, nicht ohne die Gemeinschaft des Lebens und die übrigen Kräfte des Universums. Das gemeinsame Geschick wurde globalisiert. Entweder wir gehen fürsorglich mit der Menschheit und dem Planeten Erde um, oder wir haben überhaupt keine Zukunft. Wir sind endgültig aneinander gebunden.

Bis heute konnten wir konsumieren, ohne uns um die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen zu kümmern. Wir konnten Trinkwasser benutzen, ohne uns dessen extreme Knappheit bewusst zu machen. Wir konnten Kinder haben, ohne an die Überbevölkerung zu denken. Wir konnten Kriege führen, ohne Angst vor einer Katastrophe haben zu müssen, die die gesamte Biosphäre und die Zukunft der Gattung Mensch betrifft. Heute können wir uns diese Naivität und Unbekümmertheit nicht mehr leisten. Wir müssen unsere Gewohnheiten ändern, damit wir nicht für schwerwiegende Krisen und beklagenswerte Katastrophen verantwortlich werden. Wir müssen uns ändern, und das ist die Bedingung für unser Überleben und die Erhaltung der Biosphäre.

Andererseits kann eine solche Gefahr sowohl eine totale Katastrophe als auch eine einzigartige Chance für die Menschen bedeuten. Wir sind dringend dazu aufgefordert, als Einzelne und als Gemeinschaft, die Verantwortung für die gemeinsame Zukunft der Menschheit und der Erde zu übernehmen, ein neues Paradigma für die Zivilisation zu erfinden. Wir müssen schöpferisch sein. Die Kreativität ist in unserem genetischen und kulturellen Code verankert, denn wir wurden als Schöpfer und Mitgestalter des Evolutionsprozesses geschaffen. Deshalb entfalten wir unsere Kreativität nur, wenn wir eher nach vorn als nach hinten schauen. Wir lernen aus der Vergangenheit, aber es ist uns nicht gestattet, sie zu wiederholen.

Dem Paradigma des Feindes und der Konfrontation müssen wir das Paradigma des Bündnispartners, des Gastes und des Tischgenossen entgegensetzen. Von der Konfrontation müssen wir zur Versöhnung gelangen, von der Versöhnung müssen wir zum Zusammenleben weiterschreiten, vom Zusammenleben zur Gemeinschaft und von der Gemeinschaft zur Tischgemeinschaft. Die Völker, die aus dem großen Exil zurückkehren, finden sich im selben Gemeinsamen Haus, auf dem Planeten Erde, wieder. Wie miteinander umgehen? Wie eine gemeinsame Zukunft aufbauen? Wie auf poetische und prosaische Weise dieselbe Welt bewohnen? Was ist die gemeinsame Basis, die das gegenseitige Verstehen und die Realisierung gemeinsamer globaler Ziele möglich macht?

Hier erweisen sich die Tugenden der Gastfreundschaft, des Zusammenlebens, der Toleranz und der Tischgemeinschaft, die wir bereits weiter oben ansprachen, als unverzichtbar. Die Praktizierung dieser Tugenden wird uns den Boden für eine hoffnungsvolle Zukunft für alle bereiten.

3. Der leidenschaftliche Ruf der Propheten und Visionäre

Es gab Propheten und Visionäre, die die Vorzeichen dieser Art von Globalisierung erkannt haben. Einer von ihnen ist ohne Zweifel Dom Hélder Câmara, der größte Prophet der Dritten Welt. Voller Mitleid und voller Entrüstung angesichts der arm gemachten Bevölkerungsmassen der Dritten Welt forderte er eine weltweite ethische Mobilisierung auf der Grundlage der Verwirklichung des Minimums an Gerechtigkeit und der natürlichen Großzügigkeit der Menschen, um eine Welt zu schaffen, in der nicht der Reichtum dominiert, der auf Kosten der Armen entstanden ist, sondern in der die Solidarität uneingeschränkt gedeihen kann und in der alle all das aktiv mitbestimmen können, was für alle wichtig ist, wo die gesellschaftliche Gerechtigkeit herrscht und die universale Geschwisterlichkeit gedeiht. Dieser Traum müsste von der Hölle der Armut aus, von den Söhnen und Töchtern des Chaos aus, in Angriff genommen werden, um dann alle am Aufbau des Himmels auf Erden zu beteiligen, der den Menschen möglich ist. Zu diesem Pantheon zählen Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Paulo Freire, Desmond Tutu, Nelson Mandela, Mutter Teresa von Kalkutta und Robert Müller.

Ein anderer Prophet und Visionär war ohne Zweifel Pierre Teilhard de Chardin (gest. 1955). Er beobachtete den Evolutionsprozess und die Tendenzen der gegenseitigen Verständigung zwischen den Völkern und ihres entsprechenden Bewusstseins. Noch in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts entdeckte er die Samenkörner der neuen Epoche, von ihm Noosphäre genannt. Ihm zufolge bewegen wir uns auf eine neue Phase der Geschichte der Erde und der Menschheit zu, in der es Möglichkeiten der Konvergenz von Verstand und Herz (das bedeutet das griechische Wort nous/noos) im Sinne einer größeren Harmonie innerhalb des einen großen Bogens einer einzigen Geschichte der Gattung Mensch unter dem Dach eines einzigen Gemeinsamen Hauses gibt.

In jüngerer Zeit träumte Robert Müller, der älteste Beamte der UNO und Gründer der Universität des Friedens in Costa Rica (deren Rektor er ist) von der „Geburt einer globalen Zivilisation“ (so lautet auch der Titel seines 1993 erschienenen Hauptwerkes) auf der Grundlage einer spirituellen und ökokosmischen Vision, einer Verschwisterung unter allen Völkern, die wie eine einzige Familie das Gemeinsame Haus, die Erde bewohnen. Nach dem Vorbild von Paulo Freire entwickelte er eine Pädagogik und ein Netzwerk von Schulen auf der ganzen Welt. Dieser Pädagogik zufolge beginnen die Erzieher und Schüler von Kindheit an auf das Universum, auf die Erde und den Menschen im Sinne von Globalisierung und Ökologie als Ausdruck eines gewaltigen Prozesses, der bereits 15 Milliarden Jahre in Gang ist, zu schauen.

Und in jüngster Zeit wurde nach Jahren intensiver Arbeit, an der sich eine Vielfalt von Völkern beteiligte, die (von der Unesco angenommene) Erdcharta formuliert, eines der wichtigsten Dokumente innerhalb des neuen Paradigmas der gegenseitigen Integration und Verbindung von allem mit allem. Ihr Ziel ist es, die notwendige Sorgfalt im Umgang mit dem Planeten und eine neue nachhaltige Lebensweise zu fördern.

Vor diesem Hintergrund wollen wir die Frage nach Gastfreundschaft, Zusammenleben, Toleranz und Tischgemeinschaft stellen. Entweder fühlen wir uns, wie es der Psalmist ausdrückt, als Gäste auf dieser Welt, gewähren uns deshalb gegenseitig Gastfreundschaft und lernen, wie Bundesgenossen, die ein gemeinsames Anliegen teilen, zusammenzuleben und am selben Tisch zu essen, oder wir können uns wie Feinde benehmen und verheerende Konflikte miteinander austragen, wie man sie auf Erden noch nicht erlebt hat.

Es wird eine Erde geben, die eine Vielfalt von Zivilisationen vereint, die bunt ist, weil sie alle möglichen kulturellen Werte, verschiedene Produktionsweisen, Gesellschaftsformen, unzählige Musikstile, unterschiedlichste kulinarische Geschmäcker und symbolische Ausdrucksformen, Religionen und spirituelle Wege kennt. Doch sie alle werden als legitime Ausdrucksformen des Menschseins akzeptiert und innerhalb der großen Konföderation von Stämmen und Völkern der Erde ihre Berechtigung haben.

Deshalb müssen wir kreativ sein, nach vorne schauen und aufmerksam auf alle Zeichen achten, die auf einen glücklichen Ausgang unseres gefährlichen Übergangs verweisen, und eine Atmosphäre des Wohlwollens und der geschwisterlichen Verbundenheit schaffen, die uns ein bescheidenes Maß an Lebensglück auf diesem kleinen Planeten ermöglicht, eines Planeten, der in einem abgelegenen Winkel einer mittelgroßen Galaxie innerhalb eines Sonnensystems, das nur einen winzigen Bruchteil ihrer Größe hat, verborgen liegt, der aber unter dem Regenbogen des guten Willens des Menschen und der göttlichen Güte steht.

Unser Traum findet seine Bestätigung in den erleuchteten Worten des Präsidenten der tschechischen Republik, Václav Havel, eines Schriftstellers und Menschenrechtsaktivisten, die er in Philadelphia anlässlich der Verleihung der Freiheitsmedaille gesprochen hat: „Die zentrale politische Aufgabe der nächsten Jahre ist die Schaffung eines neuen Modells des Zusammenlebens der verschiedenen Kulturen, Völker, Ethnien und Religionen, die alle eine einzige Zivilisation in gegenseitiger Verknüpfung bilden.“ Diese Zivilisation wird ohne die Tugenden der Gastfreundschaft, des Zusammenlebens, der Toleranz und der Tischgemeinschaft nicht entstehen.

Diese Tugenden könnten nach und nach eine gemeinsame Basis für eine einige Zivilisation schaffen, die Zivilisation der Gattung Mensch. Es wird weiterhin unzählige Unterschiede in ihrem Inneren geben, doch alle werden sie auf dem von allen geteilten Konsens aufruhen, sich gegenseitig jederzeit als Menschheit zu behandeln, mit den Geschwistern friedlich zusammenzuleben, mit der Erde fürsorglich umzugehen und die Integrität und Schönheit der Natur zu bewahren, das Notwendige für alle zu garantieren und die Bedingungen dafür zu schaffen, dass sich alle menschlich und spirituell immer mehr entwickeln können.

So wird sich die Flamme in lohendes Feuer verwandeln, das sein Licht ausstrahlt und Wärme spendet.